Читать книгу Frühkindlicher Fremdsprachenerwerb in den " Elysée-Kitas " - Matthias Springer - Страница 11
1 In Vielfalt geeint
ОглавлениеIn Vielfalt geeint. Dieser Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks bringt zum Ausdruck,
dass sich die Europäer in der EU zusammengeschlossen haben, um sich gemeinsam für Frieden und Wohlstand einzusetzen, und dass gleichzeitig die vielen verschiedenen europäischen Kulturen, Traditionen und Sprachen den gesamten Kontinent bereichern.1
In Mehrsprachigkeit kann jede Europäerin und jeder Europäer die Vielfalt Europas in sich vereinen. Damit ist Mehrsprachigkeit die Trumpfkarte, aber auch eine gemeinsame Verpflichtung Europas. Zu den Zielen der EU-Sprachenpolitik gehört, dass alle europäischen Bürgerinnen und Bürger über die Fähigkeit verfügen, neben der Familiensprache in zwei weiteren Sprachen zu kommunizieren. Dies soll ermöglichen, sich auf dem europäischen Binnenmarkt frei und souverän zu bewegen und sich in der Gesellschaft mit der europäischen Idee zu identifizieren. Knüpft man an den Identitätsbegriff des französischen Philosophen François Jullien2 an, spricht man nicht mehr von kultureller Identität, sondern von kulturellen Ressourcen, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen. Zwischen den kulturellen Ressourcen bestehen Abstände, keine kategorischen Unterschiede. Diese kulturellen Ressourcen umfassen sowohl Sprachen als auch Alltagsbräuche, religiöse und philosophische Traditionen, Kunst und Literatur, die in diesen Sprachen gelebt und überliefert werden. Die Fixierung auf eine Mehrsprachigkeit, die letztlich nur die Verkehrssprache Englisch als eine Lingua franca der Globalisierung fördert3, erweist sich als ebenso dysfunktional für die europäische Integration wie das monolinguale Selbstverständnis unserer nationalstaatlich verfassten Bildungssysteme. Es stellt sich die Frage, ob es in Europa einen „prestigevollen“ und einen „minderwertigen“ Bilingualismus gäbe. Vor diesem Hintergrund ist zu klären, was die Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit der Europäischen Kommission zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt leisten kann.
In diesem Zusammenhang ist auch das Hauptanliegen des Projekts Schnupperstunde4 Französisch im Netzwerk der Elysée-Kitas und der vorliegenden Untersuchung zu sehen. Es geht darum, Kindern Bildungschancen zu vermitteln, die zur politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe innerhalb der europäischen Gesellschaft befähigen. Ein wichtiger Baustein dafür ist die Kompetenz zu echter Mehrsprachigkeit, wie sie in der europäischen Charta für Mehrsprachigkeit oder von Sprachwissenschaftlern wie Jürgen Trabant5 gefordert wird.
Die Münchner Schnupperstunde Französisch im Netzwerk der Elysée-Kitas sieht sich diesem Ziel für alle Kinder verpflichtet, egal welcher sprachlichen, kulturellen oder staatsbürgerlichen Herkunft: Die Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildungschancengleichheit, sondern der Städtische Träger sieht sich auch in der Pflicht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Daher lautet die Zielsetzung der Schnupperstunde nicht ausschließlich, Kindern einen möglichst frühen Kontakt mit der Fremdsprache Französisch anzubieten oder, wenn sie aus dem frankophonen Raum stammen, ihre Muttersprache zu fördern, sondern auch, ihnen neben Deutsch mit Französisch noch wenigstens eine weitere Sprache zugänglich zu machen, um damit eine Grundlage für die weitere Entfaltung ihrer Mehrsprachigkeit zu legen. Europa beginnt im Kleinen.
An dieser Zielsetzung ist auch die vorliegende Studie orientiert, was sich in drei Fragestellungen niederschlägt. Es geht vordergründig nicht ausschließlich darum, den sprachlichen Fortschritt und Erfolg zu messen, die Qualität der Organisation und der Durchführung der Schnupperstunde in den Einrichtungen zu beurteilen oder die Kompetenzen der Fachlehrkräfte sowie des pädagogischen Personals zu evaluieren. Untersucht wurde der grundsätzliche bildungs- und gesellschaftspolitische Mehrwert von Mehrsprachigkeit und zwar in einer sehr frühen Phase kindlicher Entwicklung und Sozialisation. Das Ziel politischer, gesellschaftlicher wie auch kultureller Teilhabe durch Mehrsprachigkeit kann nur gelingen, wenn diese kompetent auf den Ebenen der Organisation und der didaktisch-pädagogischen Umsetzung sichergestellt wird. Die der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Deskriptoren, die diese beiden Ebenen beschreiben, sind allenfalls als Indikatoren für die Beantwortung der drei Fragestellungen, jedoch nicht als absolute Kategorien zu verstehen.