Читать книгу Frühkindlicher Fremdsprachenerwerb in den " Elysée-Kitas " - Matthias Springer - Страница 14
Frage 2
ОглавлениеSind Vorschulkinder beim Erwerb einer dritten oder vierten Sprache überfordert?
Der Bayerische Erziehungs- und Bildungsplan sieht die ersten sechs Lebensjahre als
die lernintensivsten und entwicklungsreichsten Jahre [an]. In diesen Jahren sind die Lernprozesse des Kindes unlösbar verbunden mit der Plastizität des Gehirns, seiner Veränderbarkeit und Formbarkeit; es wird der Grundstein für lebenslanges Lernen gelegt. Je solider und breiter die Basis an Wissen und Können aus jener Zeit ist, desto leichter und erfolgreicher lernt das Kind danach.20
Was hier allgemein artikuliert wird, gilt insbesondere für das Erlernen von Sprachen. In diesem Sinne richten renommierte französische und deutsche Neurowissenschaftler wie Stanislas Dehaene am Collège de France, Boris Cyrulnik von der Université de Toulon-Sud, oder der Neurobiologe und Plastizitätsforscher Tobias Bonhoeffer vom Münchner Max-Planck-Institut für Neurobiologie eine dringende Empfehlung an die Bildungspolitik. Man nimmt an, dass beim Kleinkind pro Sekunde mehrere Millionen synaptische Verbindungen entstehen und auch wieder verschwinden. Die neuronale Plastizität, die zwar ein Leben lang besteht, aber in diesem Zeitfenster optimal erscheint, müsse unbedingt genutzt werden. Den Kindern müsse man in diesem Lebensabschnitt systematisch in den Kindergärten und in der école maternelle den Erwerb von mehreren Sprachen ermöglichen.21 Bereits seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass das Gehirn keine sog. ‚Sprachensperre‘ kennt; Kinder können beliebig viele Sprachen lernen.22
Goethes Plädoyer für Mehrsprachigkeit „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen”23 greift die neuere Forschung mit dem Begriff ‚Quersprachigkeit‘ auf. Viel zitiert ist auch der Satz „Eine Sprache ist viele Sprachen“24 des österreichischen Linguisten Mario Wandruszka. Damit meint er, dass jede Sprecherin und jeder Sprecher, auch innerhalb einer Sprache, mehrere Sprachen spreche beziehungsweise auf mehreren Ebenen sprachkompetent sei, was auch als „innere Mehrsprachigkeit“25 bezeichnet wird. Hier muss man verstehen, dass eine Sprache nie als perfektes homogenes Monosystem26 betrachtet werden kann. Sprachgebrauch ist vielfältig, schichten- und gruppenspezifisch, alters- und geschlechtsspezifisch. Jedes Kind, ob mono- oder bilingual, tritt in Kontakt mit Soziolekten und Ethnolekten und schärft seine soziolinguistische Analyse, indem es lernt, diese Varianten einzuordnen. Daher setzt sich die Bilingualismus-Forschung auch mit der Frage auseinander, „ob es sich nicht auch da um Mehrsprachigkeit handelt, wo nicht eigentliche Sprachen, sondern Varietäten ein und derselben Dachsprache involviert sind.“27 Diese innere Mehrsprachigkeit ist ein weiteres Indiz dafür, dass eine äußere Mehrsprachigkeit lediglich von den kommunikativen Kontexten bestimmt wird und Quersprachigkeit fördert. Darunter versteht Gudula List, dass in mehrsprachigen Umgebungen Kinder
eine metasprachliche Reflexion entwickeln, die Aufmerksamkeit auf sprachliche Differenzen richtet. Daraus ergib sich eine quersprachige Kompetenz: Ein fruchtbares Potential, die symbolischen Dienste unterschiedlicher sprachlicher Medien und Register zu erkennen, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie womöglich selbst zu mischen oder wechselnd zu benutzen und quer durch sie hindurch zu handeln.28
Gudula List veranschaulicht die Erziehung zu Quersprachigkeit mit dem französischen Didenheim-Projekt.29 Im Feld der Sensibilisierung für Plurilingualität gibt es im Französischen für den Vor- und Grundschulbereich einen methodischen Ansatz, der sich éveil aux langues nennt.30 Dieser wurde von einem europäischen Forscherteam für den Europarat entwickelt. Francis Goulier, dem vorliegendes Buch postum gewidmet ist, hat daran mitgewirkt.31
Wenn innere Mehrsprachigkeit derart selbstverständlich ist, sollte es für Vorschulkinder ein Leichtes sein, diese kognitiven Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände auf äußere Mehrsprachigkeit zu übertragen.32 Vor diesem Hintergrund ist „Mehrsprachigkeit […] kein kognitiver Ausnahmezustand.“33 In Frankreich ist von „capacités transversales“ 34 die Rede.