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Frage 1

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Hat Mehrsprachigkeit bei Kindergartenkindern2 möglicherweise einen negativen Einfluss auf deren kognitive, sprachliche und soziale Entwicklung?

Studien zur kognitiven, sprachlichen und sozialen Entwicklung von Kindern zeigen durchaus, dass bilinguale Kinder in jeder ihrer Sprachen einen geringeren Wortschatz erwerben als einsprachige. Bei Bildbenennungstests sind bilinguale Kinder langsamer und ihre Fehlerquote ist höher als bei monolingualen. Wiederholt man allerdings den Test, erreichen die bilingualen beim fünften Durchgang die Ergebnisse von monolingualen Kindern, während letztere ihre Leistung nicht verbessern können.3 „Dies ist, nach Ingrid Gogolin, dem Umstand geschuldet, dass bei der Aneignung von Wortschatz – anders als beim Erwerb von Strukturen – der konkrete Input maßgeblich ist, den ein Kind erfährt“.4

In diesem Punkt sind sich jedoch die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig: Den direkten Vergleich der lexikalischen Leistungen von bilingualen und monolingualen Kindern muss man methodologisch unter Vorbehalt wahrnehmen, wenn die bilingualen als Maßstab genommen werden. Sollen z. B. Eigennamen und cognates (transparente Wörter wie rose/rosa; Maman/Mama) einzeln oder doppelt gezählt werden? An diesem Beispiel sieht man, dass mono- und bilinguale Kinder bezüglich ihrer sprachlich-kognitiven Fähigkeiten nur bedingt vergleichbar sind, denn grundsätzlich sind beim praktischen Sprachhandeln Zwei- oder Mehrsprachiger in der Regel nicht alle Bereiche des Sprachgebrauchs doppelt vorhanden. Die Mehrsprachigkeit funktioniert nach dem Prinzip der Komplementarität, d.h., sie ergänzt sich. In einigen Domänen wird die eine Sprache bevorzugt, in anderen die andere(n) Sprache(n).5 Ein Kind, das mit dem deutschsprachigen Papa in den Zoo geht, kennt mehr Tiernamen auf Deutsch, die Musiknoten dafür nur auf Französisch, weil es diese mit der frankophonen Mutter übt. Hiermit ist eine ungleiche Verteilung von Wortschatz über die Domänen verbunden, je nach Funktionalität der jeweiligen Sprache(n) in einzelnen Lebensbereichen. Fest steht, dass die Menge des Wortschatzes, über die Bilinguale in jeder Einzelsprache verfügen, zwar geringer ist, die Gesamtmenge des verfügbaren Wortschatzes Zwei- oder Mehrsprachiger aber nicht hinter der Einsprachiger zurückbleibt, sondern in zahlreichen Fällen sogar höher ausfällt.6

Bereits seit 50 Jahren bestätigen sowohl Fallstudien als auch Gruppenstudien aus Europa und Nordamerika Zusammenhänge zwischen Mehrsprachigkeit und kognitiven Leistungen. Aus den Neurowissenschaften weiß man, dass neuronale Hirnstrukturen und Kompetenzen nicht stabil sind. Die Neuronen strukturieren sich ständig mit jeder neuen Erfahrung um. Diese Art der Anpassung nennt man Neuroplastizität. Sie ermöglicht es uns, in einer sich ständig verändernden Welt zu überleben.7 Mehrsprachigkeit ist für die Neuroplastizität ein herausragender Faktor, denn in einem Menschenleben gibt es kaum eine intensivere Aktivität als unsere Interaktionen mit Sprache. So kann man zwar mehrere Stunden täglich musizieren oder Sport machen, mit sprachlichen Zeichen beschäftigen wir uns jedoch jede Sekunde auf irgendeine Art und Weise, wenn wir sprechen, hören, denken, träumen, lesen etc. Alle sprachlichen Aktivitäten beanspruchen das gesamte Gehirn, sie sind nicht in einem isolierten Bereich lokalisierbar.8 Ellen Bialystok konnte empirisch nachweisen, dass Mehrsprachigkeit in hohem Maße Prozesse der Selbstregulation und Aufmerksamkeitssteuerung erfordert: „Antworte in der einen Sprache, unterdrücke die andere“9, so lautet die ständige kognitive Konfliktlösungssituation eines mehrsprachigen Kindes. Bei einem bilingualen Kind sind die zwei Sprachen zu einem gewissen Grad ständig aktiviert. Dennoch ist es in der Lage, in der Regel die richtige Sprache im zugehörigen Kontext zu benutzen. Die andere Sprache wird dabei durch einen sog. exekutiven Kontrollprozess unterdrückt. Das Kind entwickelt damit einen Mechanismus der Selbstregulation, der für die kognitive, soziale und motorische Entwicklung zentral ist. Davon ausgehend, dass Mehrsprachige eine besondere Übung in der Kontrolle der Aufmerksamkeit haben, wurden verschiedene kognitive Tests10 zur inhibitorischen Kontrolle durchgeführt.

Die Inhibition oder inhibitorische Kontrolle ist die Fähigkeit, impulsive (oder automatische) Reaktionen zu kontrollieren oder zu hemmen, um durch logisches Denken und Aufmerksamkeit Antworten zu finden. Diese kognitive Fähigkeit zählt zu den exekutiven Funktionen und ermöglicht Antizipation, Planung und Zielsetzung. Die Inhibition blockiert bestimmte Verhaltensweisen und stoppt unpassende automatische Reaktionen, indem eine Antwort durch eine andere ersetzt wird, die besser ausgeklügelt ist und sich besser an die Situation anpasst. 11

Die Ergebnisse zeigen Leistungsvorteile bei Bilingualen. Die entsprechenden Aufgaben lösen sie schneller und mit einer niedrigeren Fehlerquote als Monolinguale. Die Interferenzanfälligkeit von Bilingualen ist niedriger. In der Sprachwissenschaft spricht man von Interferenz, wenn Satzstruktur (Syntax), Wortwahl (Lexik) oder Wortlaute (Phonologie) der einen Sprache mit der anderen interferieren, z.B.: die schöne Mond (auf französisch la lune). Mehrsprachigkeit hat einen positiven Effekt auf die exekutiven Funktionen. Bei diesen Aufgaben sind bilinguale Kinder weniger anfällig für Ablenkung, können sich stärker auf bestimmte Aspekte fokussieren und diese Fähigkeit auf weitere kognitive Aufgaben übertragen.12

Für die allgemeine sprachliche Entwicklung steht fest, dass sich alle gelernten Sprachen auf die jeweils andere(n) auswirken: die L113 auf die L2 bzw. auf jede weitere Ln und umgekehrt, egal ob sie simultan oder konsekutiv gelernt werden. Hierzu ist es relevant, metasprachliche Kompetenzen zu überprüfen, d.h. die Fähigkeit, über die Sprache als System zu reflektieren. Wenn Kinder diese metasprachliche Bewusstheit aufbauen, können sie diese auf alle ihre Sprachen übertragen. Grammatikalitätstests, bei denen Kinder einen Konflikt zwischen Semantik und Grammatikalität zu lösen haben, zeigen, dass Bilinguale leistungsstärker sind.14 Vor allzu pauschaler Generalisierung dieser Ergebnisse ist jedoch Vorsicht geboten, denn neben kognitiven Faktoren spielen auch soziokulturelle und psychologische eine große Rolle, die die kognitiven wiederum relativieren können.

Diese gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen erworbenen Sprachen führt zu der weiterreichenden Frage, in welcher Beziehung Mehrsprachigkeit und soziale Entwicklung stehen. Auffällig ist, dass bilinguale Kinder gewohnt sind, im Alltag von bestimmten Strategien Gebrauch zu machen, um kommunikative Ziele zu erreichen: Bereits in der Phase der Einwortäußerungen15 (bis ca. drei Jahre) sind Kinder bezüglich der Adressatenorientierung in der Lage, L1 bzw. L2 bewusst getrennt und strategisch einzusetzen. Das bedeutet, sie können die sprachlichen Kompetenzen des Gegenübers einordnen und auf Hilfestellungsstrategien zurückgreifen, wie Paraphrasierung, Umschreibung, Erklärung, ansatzweise auch Übersetzung. Dieser postkonzeptuelle Spracheinsatz ist eine pragmatische Strategie, die eine soziale Kompetenz veranschaulicht.

Zu den sozial-kognitiven Fähigkeiten, die sich im Kita-Alter entwickeln, gehört als wichtiger Teil der Alltags- und Entwicklungspsychologie „das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und deren Wissen und Überzeugungen zu berücksichtigen – auch wenn sie mit den eigenen mentalen Zuständen nicht übereinstimmen“.16 In der Mehrsprachigkeitsforschung hat sich bestätigt, dass „solche sozial-kognitiven Leistungen mit dem sich entwickelnden Sprachvermögen in Verbindung stehen.“17 Gudula List sieht das als einen Hinweis auf eine gegenüber Einsprachigen früher und wirkungsvoller herausgebildete Theory of Mind, denn

bilingual bzw. mehrsprachig aufwachsende Kinder pflegen einen selbstverständlichen Umgang mit der Arbitrarität von Sprachzeichen, sie schärfen […] ihre Kontrollprozesse für selektive Wahrnehmungen und sie stellen sich früh darauf ein, die Sprachgewohnheiten ihrer Interaktionspartner zu berücksichtigen. Sie könnten also eine besondere Disposition entwickeln, zu begreifen, dass in anderen Köpfen anderes vorgehen könnte als im eigenen.18

Diese Erkenntnis ist für die soziale Entwicklung von Kindergartenkindern insofern von Bedeutung, als sie einen Hinweis darauf gibt, dass Empathie, strategisches Sich-Hineinversetzen in den anderen und soziale Kompetenz mit dem sich elaborierenden mehrsprachigen Sprachvermögen in Zusammenhang stehen.

Ein letzter hervorzuhebender Punkt betrifft den Zusammenhang von Kreativität und Fantasie mit der kognitiven Entwicklung. Studienergebnisse, wie die des in Israel durchgeführten Experiments Draw a flower and a house that doesn’t exist19, welches in der europäischen Mehrsprachigkeitsforschung rezipiert wurde, weisen darauf hin, dass bilinguale Kinder häufiger Zeichnungen von Fantasiebildern produzieren, wie z. B. eine „Giraffenblume“ oder ein „Stuhlhaus“. Diese Kinder zeigen, dass sie mit übergreifenden Kategorien kreativer umgehen können als monolinguale.

Frühkindlicher Fremdsprachenerwerb in den

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