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Zunächst ist Tübingen seine Wirkungsstätte. Vielleicht hoffte er, an der erst vor kurzem gegründeten Universität eine Professur zu erlangen. »In Tübingen wird zuerst von Hebräischkundigen berichtet«, heißt es in Ludwig Geigers sorgfältiger Monographie ›Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland am Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts‹, die ich von hier ab (nebst den andern auf Reuchlin bezüglichen Werken Geigers) ständig benütze, ohne sie an jeder einzelnen Stelle anzuführen. »Die beiden Theologen Conrad Summenhart und Paul Scriptoris (werden) als solche bezeichnet, beide in ihrer Art treffliche Männer, von großer Gelehrsamkeit, Feinde der Scholastik, die sie mit unermüdlichem Eifer bekämpfen.« Indes ist nicht nachgewiesen, daß Reuchlin schon in Tübingen hebräische Sprachstudien betrieben hat. Wichtig wurde die kurze Station Tübingen für ihn vor allem dadurch, daß Summenhart und der Historiker Nauklerus ihn dem vielgerühmten, die Gelehrsamkeit hochschätzenden Grafen von Württemberg, Eberhard im Bart, als Begleiter und Redner (Dolmetscher) für dessen Romfahrt empfahlen.

Wie für Reuchlins ersten Schritt in die große Welt, für die erste Pariser Reise, sein gutes Singen entscheidend war, so gab diesmal sein gutes Latein, seine Redebegabung wie seine korrekte Aussprache den Ausschlag. Lamey, der 1855, also noch vor Geiger, eine kleine Biographie Reuchlins publizierte, erzählt: Zu Eberhard im Bart waren (knapp vor seiner Romreise) päpstliche Gesandte gekommen. Mit seines Kanzlers Rede, der aus Hechingen stammte, konnten die Italiener nichts anfangen. Sie zeichnete sich durch ihre provinzielle Aussprache aus. So hieß es in ihr: Ceilsissimus et eillustrissimus noster prainceips eintellexit. Statt: »Celsissimus et illustrissimus noster princeps intellexit.« (Unser sehr erhabener und berühmter Herrscher hat eingesehen.) Seitdem sprach man scherzend vom ›Hechinger Latein‹ – und Reuchlin mit seiner jedenfalls tadellosen Sprache wurde als Reisebegleiter berufen.

Ausgangspunkt der Reise war Stuttgart, wo Reuchlin nun als Anwalt wie auch als Berater des Grafen Eberhard zu wirken hatte. Stuttgart wurde, mit einigen Unterbrechungen, sein eigentlicher Wohn- und Wirkungsort. Hier fand er auch eine feste Stellung als Beisitzer am Hofgericht, später als einer der drei obersten Richter des ›Schwäbischen Bundes‹ (Triumvir Sueviae). – Doch seine erste Tätigkeit war die Romfahrt im großen Gefolge des Grafen Eberhard. Mitte Februar 1482 führte die Reise über die Alpen, erst nach Florenz, dann nach Rom.

In Florenz fand er nun freilich einen ganz andern Geist als in Paris und den andern Bildungszentren vor, die er bisher kennengelernt hatte. Die Universitäten des außeritalienischen Europa waren, trotz heftiger Opposition, die sich zeitweise gleichsam in Erdstößen bemerkbar machte, nicht viel anderes als Filialen der Kirche, beherrscht von Theologen und der ihnen immer noch dienenden Scholastik. Italien aber, der Sitz des Papstes, stellte im Widerspruch zu dieser erlauchten Residentschaft das weltlichste und relativ freisinnigste Land des Erdrunds dar, viel weltlicher als die andern Sammelpunkte hoher Intelligenzen in Frankreich, England und anderwärts. Und Florenz war der weltlichste Herrschaftsbereich unter den vielen Kleinstaaten der Halbinsel.

In Italien trugen selbst einige Tyrannenregierungen (andere allerdings kamen ohne Gewaltsamkeit und äußerste Grausamkeit nicht aus) mit Erfolg und nicht ohne eine gewisse innere Berechtigung die Maske bürgerlicher Freiheit. In Italien waren Priester der Kirche (sei es auch in seltsamen Verkappungen) gleichzeitig Priester der platonischen Philosophie. In Italien vollzog sich allmählich, seit dem Fall Konstantinopels, die Rezeption der griechisch-byzantinischen, mit ihr der echten antiken Kultur, während vorher nur lateinische Literatur, nebst Übersetzungen ins Lateinische, die Größe Homers u. a. hatte ahnen lassen.

Cosimo von Medici, der der reichste Kaufmann der Stadt, Gelehrter und Politiker in einer Person war, herrschte in Florenz als Diktator, doch ließ er nicht nur die freiheitlichen Formen der Republik, die freien Volkswahlen zu allen Ämtern bestehen, sondern griff auch tunlichst wenig in die Privatsphäre der Bürger ein. Nach schweren Anfangskämpfen blieb er 30 Jahre, bis zu seinem Tode die oberste Autorität. Er umgab sich mit Gelehrten, nicht nur als Mäzen, sondern als ihr mitarbeitender ebenbürtiger Freund. Nach seinem Tode wurde ihm der Titel ›Vater des Vaterlandes‹ verliehen. Und Marsilio Ficino schrieb über ihn: »Ein Mann, vor allen anderen verständig, fromm vor Gott, gerecht und hochherzig gegen die Menschen, gemäßigt in allem, was ihn selbst betraf, in seinen Privatangelegenheiten tätig, aber noch sorgfältiger und vorsichtiger in den öffentlichen … Keiner hat ihn übertroffen an Demut wie an Hochsinn. Zwölf Jahre lang habe ich mit ihm philosophische Unterredungen geführt und erkannt, daß er ebenso scharfsinnig im Disputieren war wie weise und kräftig im Handeln. Ich verdanke Plato viel; Cosimo verdanke ich nicht weniger. Er ließ mich die Ausübung jener Tugenden gewahren, deren Idee Plato mir vorführte.« – Hohe Worte, wenn man bedenkt, daß dieser Ficino der Stifter der ›platonischen Akademie‹ war, die sich am angeblichen Geburtstag Platons entweder in einem Palast der Medici oder in ihren Gärten festlich versammelte und öfters auch sonst in freier Form zusammentrat, um über die Themen Platons Gespräche zu führen. Eine Akademie von wenigen, eine Elite, innerlich und äußerlich im Aufbau sehr verschieden von der Organisationsform, den ängstlichen Statuten und Aufsichtsbeamten einer kirchlichen Universität; ganz so wie die Herrschaft Cosimos sich von jedem totalitären System distanzierte.

Dem kränklichen Sohn Piero folgte (1469) der große, dichterisch wie politisch reichbegabte, überaus kunstverständige Enkel Lorenzo il Magnifico. Er war es, der den württembergischen Grafen und seine Begleiter empfing, unter ihnen Reuchlin. Reuchlin selbst stellt in der schon einmal hier zitierten Einleitung und Widmung seiner ›Kabbalistischen Kunst‹ an Papst Leo X. dar, an den entscheidenden Papst seines Lebens, den er als supplex, als Schutzflehender um Hilfe gegen die kölnischen Angreifer bat (und der ihn dann doch verurteilt hat) – stellt dar, wie Lorenzo seinen Gästen die Schätze seines Hauses, die Rüstkammern, die Marställe, die Bibliothek zeigte. Man beglückwünscht den Hausherrn. Plötzlich ändert sich der Ton des Berichts. In weicherer Tonart fährt der Erzähler fort: »Perhumaniter, ut solebat vir suavissimus, respondet majorem thesaurum in liberis esse quam in libris.« (»Äußerst menschlich, wie es die Art dieses süßesten Mannes war, erwiderte er, er habe einen größeren Schatz vorzuweisen: seine Kinder seien ihm wichtiger als seine Bücher.«) Und von diesen Kindern Giuliano, Piero, Giovanni bestieg der dritte 1513 (eben als Leo X.) den päpstlichen Thron. Allerdings machte die Zärtlichkeit, mit der Reuchlin vom Vater des Papstes sprach, auf den Sohn 35 Jahre später wenig Eindruck.

Zur Zeit von Reuchlins Florentiner Tagen bestand die platonische Akademie noch. Marsilio Ficino lehrte. Poliziano, der Freigeist, unterrichtete (nicht immer ohne den Einspruch der frommen Mutter) die Kinder Lorenzos. Marsilios Freund Landino schrieb Liebesgedichte und einen Dante-Kommentar, der große Anerkennung fand. Pulci verfaßte sein vielbewundertes parodistisches Heldengedicht ›Der große Morgante‹. Der gewaltige Bußprediger Savonarola hatte in demselben Jahre wie Reuchlin Florenz betreten, blieb und begann gegen Lorenzo und das Haus Medici, ja gegen all die schöne weltliche Sinnlichkeit zu wirken. Es war ein Leben, das sich zu den äußersten Extremen spannte. (Siehe Thomas Manns Drama.) Von den Anregungen, die Reuchlin hier empfing, ist nichts überliefert. Erst über seine zweite italienische Reise fließen die Quellen reichlicher. Leider ist kein Tagebuch der Italienfahrten erhalten, wie wir es von Dürer, von Goethe, von vielen andern besitzen. Auch Briefe Reuchlins aus dieser Zeit fehlen.

In Rom hatte Graf Eberhard Geschäfte beim Vatikan zu erledigen, Streitigkeiten über Vergebung geistlicher Lehen zu bereinigen, wobei Reuchlin vermutlich als juridischer Berater mitwirkte. Unter den Gelehrten in Rom lernte er den Griechen Johann Argyropulos kennen, mit dem er in einen echt-humanistischen, uns heute etwas kindisch anmutenden Wettstreit eintrat. Er scheint dabei viel Beifall gefunden zu haben. Rom zeigte ihm damals gleichfalls ein freundliches Gesicht. Papst Sixtus IV. hatte kurze Zeit vorher einen schweren Konflikt mit den Medici gehabt (die Verschwörung der Pazzi, Ermordung des Giuliano beim Hochamt in der Kirche, zwei Geistliche als Täter, päpstliche Intrigen als Hintergrund), doch der diplomatischen Kunst Lorenzos war eine Versöhnung mit dem Papst gelungen. Der allgemein erwartete Krieg brach nicht aus. Giraudoux wurde antizipiert. So wurden die aus Florenz anlangenden Gäste in Rom freundlich aufgenommen. – Sixtus IV., der Stifter der sagenhaft bedeutsamen Sixtinischen Kapelle, hat in der Kunstgeschichte eine führende Bedeutung. Er förderte Künstler vom Rang eines Botticelli, Ghirlandaio, Verrocchio, er berief den unsterblichen Komponisten Josquin de Près nach Rom. Aber er legalisierte auch die Einsetzung des entsetzlichen Torquemada und anderer Dominikaner als Inquisitoren in Spanien; anfänglich hatte er die Einführung der Inquisitionstribunale in Spanien abgelehnt, später bewilligt, und diesem ursprünglich weltlichen Instrument des spanischen Königtums die kirchliche Autorisation verliehen, die es dann jahrhundertelang behielt. Es begann ein massenhaftes Quälen und Abschlachten unschuldiger und wehrloser Menschen, wie es erst wieder in unserer Zeit Geschichte geworden ist, die das Blut vor Entsetzen gerinnen macht. Jetzt freilich ins Vieltausendfache vergrößert und völlig unfaßbar. –


Erst 1490 kam Reuchlin wieder nach Italien. Die erste Reise scheint keine geistige Umwälzung in Reuchlin ausgelöst zu haben, obwohl sie vermutlich reich an großen Eindrücken war. Anders die zweite, die das Zusammentreffen mit Pico della Mirandola zeitigte. Hier wurde ein neuer Lebensabschnitt begonnen.

Im Intervall zwischen den beiden Italienreisen erlangte Reuchlin das Doktorat der Rechte und heiratete. – ›LL doctor‹ oder auch ›legum doctor‹ oder auch ›doctor juris‹ nennt er sich jetzt. – Was die Heirat anlangt, so sind wir heute ein wenig besser über Reuchlins Familienverhältnisse unterrichtet als zur Zeit, da Geiger seine Reuchlinbiographie schrieb. Obwohl sich Reuchlin mehrmals ausdrücklich als ›digamus‹ (zweimal verheiratet) bezeichnet, findet Geiger für diesen einfachen Ausdruck recht künstliche Deutungen, die irreführend wirken. Die Wirklichkeit ist viel einfacher als die Hypothesen des gelehrten Biographen. Über die Person der Gattin oder der beiden Gattinnen war dem damaligen Stande der Forschung nichts bekannt. Inzwischen sind durch Eugen Schneider u. a., vor allem durch Hansmartin Decker-Hauff (›Bausteine zur Reuchlin-Biographie‹ in F. 2) Dokumente entdeckt und ausgewertet worden, die uns in manchen Punkten Klarheit verschaffen – ohne freilich die Hauptsache, die seelische Beziehung der Eheleute zueinander, zu erhellen. Decker-Hauff macht es wahrscheinlich, daß Reuchlin eine Bürgerstochter aus einer Familie Müller, die der altwürttembergischen Führerschicht, der sogenannten ›Ehrbarkeit‹ angehörte, geheiratet hat. Sie war in der Ortschaft Ditzingen und in Stuttgart reich begütert. Die Braut war mindestens um 5 Jahre älter als Reuchlin. Noch 1529 heißt der große Besitz, den Reuchlin in Ditzingen bei Leonberg hatte, ›der Doktorin Gut‹. Den Beweis hat Victor Ernst erbracht. Von einem Teilstück dieses Besitztums wissen wir, daß es rund 15 Morgen Äcker und Wiesen umfaßte. Es gab aber noch andere Reuchlinsche Parzellen in der Ditzinger Markung. Reuchlin liebte das Landleben und wird nicht müde, in seinen Briefen »von der Bewirtschaftung und dem Ertrag des Gutes, von seinen Annehmlichkeiten und seiner heiteren Schönheit« zu erzählen. –



Ulrich von Hutten: Nach einem Holzschnitt aus der ersten Ausgabe von ›Cum erasmo Roter, Expostulatio‹. Straßburg 1522.


Decker-Hauff stellt fest: »Der Reichtum der Frau ist das einzige, was wir sicher von ihr wissen. Die übrigen Zeugnisse widersprechen einander: Schneider wies auf den hübschen Zug hin, daß Reuchlin ihr mitten aus den Geschäften einer Gesandtschaftsreise heraus ›von Liebe‹ schrieb – demgegenüber steht das Zeugnis, daß sich Reuchlin – mindestens zeitweilig – mit Scheidungsgedanken getragen haben soll.« Eine Stelle aus einem Brief des Kardinals Raimund von Gurk an Reuchlin, die ausdrücklich von Scheidung spricht, wird von Geiger als (möglicherweise) scherzhaft gemeint interpretiert. Ich kann in ihr keinen Hinweis auf einen Scherz finden. Auch scheint die Tatsache, daß die Frau ihm nicht in sein drei Jahre dauerndes Heidelberger Exil gefolgt ist (von diesem Exil später!) nicht gerade für ein verliebtes Einverständnis der beiden zu sprechen. Decker-Hauff kommt zu der auch anderweitig gestützten Schlußfolgerung: »Man geht wohl nicht fehl, wenn man, wie es auch die Zeitgenossen taten, in der Wahl vor allem den Versuch zu materieller Sicherstellung sieht.« Die reiche Stuttgarter Bürgerstochter mochte dem jungen und am Hofe wohlgelittenen, aber nicht sehr reichen Mann wohl nach altwürttembergischem Brauch »angemutet und wohlbezeichnet« worden sein. – Doch Decker-Hauff hält an der Hypothese einer Konvenienzehe selber nicht fest. Er paralysiert sie durch eine andere Hypothese, die eine Jugendbekanntschaft im Kreise zweier seit eh und je befreundeten Familien annimmt und urkundlich zu belegen sucht. Wie dem auch sei: im allgemeinen galt in Humanistenkreisen das Motiv einer Geldheirat durchaus nicht als den guten Sitten widersprechend. Ich übersetze aus einem Brief, den der gelehrte Augsburger Ratsherr und Historiker Conrad Peutinger, einer der Gesandten und zeitweilig einflußreichsten Ratgeber des Kaisers Maximilian, 1499 an Reuchlin gerichtet hat. Da heißt es, nicht ohne daß ein leiser Ton des Sich-Berühmens durchklingt: »Und um mich von der Freiheit eines lasziven Lebens zu erleichtern, sowie um der göttlichen Einrichtung zu gehorchen, habe ich eine Frau genommen, eine Jungfrau, nur um weniges kleiner als ich, noch nicht 18 Jahre alt, züchtig, maßvoll, schön, ehrsam und ein wenig mit lateinischer Literatur durchtränkt, die auch in den Augen ihrer Hausgenossen nie als streitsüchtig oder schimpfworteliebend erfunden worden ist. Von guten Eltern unserer Stadt stammend, erhält sie eine Mitgift von zweitausend Gulden, überdies ist sie, falls sie überlebt, die einzige Erbin. Ich danke daher Gott und werde ihm immer danken, daß er meinen Studien eine Gefährtin und mir auf eine so vertraute Art eine Parteigängerin zugesellt hat.« In diesem Brief sind viele löbliche Gaben der Braut hochgepriesen, doch als letzte Sprosse der Klimax findet die zahlenmäßig genau angegebene Mitgift ihren besonders wichtigen Platz. In vielen schlechten Romanen wird heute eine solche Wertung gern mit den Klischeeausdrücken »echt amerikanisch« oder »echt jüdisch« gekennzeichnet, was natürlich Unsinn ist. – Dem Mystiker Reuchlin möchte man allerdings eine bessere Wertskala zutrauen als die hier vermutete. Sie ist ja aber durchaus nicht etwa erwiesen, sondern als bloße Hypothese anzusehen.

Reuchlins zweite Frau: ein ganz anderes Bild. Und ein etwas deutlicheres, wenn auch nicht ganz klares. Sie war, wie Decker-Hauff auf Grund eines Briefes des Humanisten Beatus Rhenanus berichtet, »jung und hübsch«. Auch sie galt als sehr reich. Es geht indirekt aus einer alten Stammtafel hervor, daß diese zweite Frau Anna geheißen hat. Der Vorname der ersten Frau ist bisher unbekannt geblieben. Mit der zweiten Frau hat Reuchlin ein Kind gehabt, das in frühester Jugend starb. Auch dies: Vermutungen. Sicher ist, daß Reuchlin neben der zweiten Frau in der Stuttgarter St. Leonhards-Kirche begraben ist. Wenngleich nicht an dem Ort, den der heute in der Leonhardskirche befindliche Grabstein anzeigt, der sich übrigens ursprünglich in der Hospitalkirche (Dominikanerkloster) befunden hat. Es ist seltsam, wie alles Intime und ganz Persönliche Reuchlins in Dunkel gehüllt bleibt. So besitzen wir ja auch kein einziges echtes Porträt Reuchlins, nur eine winzige Zufallsdarstellung auf einem figurenreichen Flugblatt – und eine Reihe abenteuerlicher Bildnis-Fälschungen; während sich die größten Meister der Zeit (Dürer, Holbein, Quinten Matsys u. a.) darum bemüht haben, die Gesichtszüge des Erasmus deutlich und feierlich für die Nachwelt festzuhalten. (Vgl. Schlußkapitel.)


Graf Eberhard entsandte Reuchlin in einigen Fällen als seinen Repräsentanten (mit anderen vornehmen Herren) zu bedeutenden Staatsakten, so 1486 zum Reichstag nach Frankfurt, wo Maximilian von den Kurfürsten zum ›römischen König‹ gewählt wurde. Noch zu Lebzeiten seines Vaters, des Kaisers Friedrich III. Im Anschluß an dieses Ereignis war Reuchlin unter denen, die den neugewählten König und präsumptiven Thronfolger zur Krönung nach Aachen begleiteten. – 1490 folgte Reuchlins zweite Italienreise, die ihn (wahrscheinlich in Begleitung eines natürlichen Sohnes Eberhards, eines begabten jungen Mannes, der in Italien studierte) fast ein volles Jahr in Florenz und Rom festhielt. Hier erneuerte er die in Frankfurt geschlossene Freundschaft mit Hermolaus Barbarus, dem Gelehrten und venezianischen Gesandten, der Maximilian im Namen seiner Vaterstadt festlich begrüßt hatte, ohne zu ahnen, daß später eine der hartnäckigsten, allerdings auch erfolglosesten kriegerischen Unternehmungen des jungen Kaisers gegen eben dieses Venedig gerichtet sein würde. – In Rom traf er den fleißigen Herausgeber von Handschriften antiker Werke, eben jenen Hermolaus, als Gesandten beim Papst. Reuchlin bildete sich bei Hermolaus zum vollkommenen Lateiner – und Hermolaus erteilte ihm gewissermaßen den höchsten Humanistenorden, er gab ihm den neuen, griechisch tönenden Namen. »Da der fremdartige Klang seines Namens die Ohren der Gebildeten (eruditorum aures) verletzte, hieß ihn Hermolaus den Namen Capnio tragen. Willig folgte Capnio der Autorität eines so großen Mannes« – heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. »Tanti viri auctoritatem libenter est secutus Capnio.«

So hoch stand damals in den Augen der Welt der berühmte venezianische Gesandte über dem bescheidenen deutschen Hofbeamten und Humanistenjünger, der seinen eigentlichen Weg noch nicht gefunden hatte. Die beiden waren etwa gleichaltrig.

Doch gerade während der zweiten italienischen Reise sollte der Schwerpunkt sich verrücken. Zwei große Erlebnisse änderten die Blickrichtung Reuchlins. Er traf mit dem gedanklich revolutionären jungen Grafen Pico von Mirandola zusammen, der sich, sei es auch in unvollkommener, recht phantasiereicher Art, einen gewissen Schatz von Kenntnissen in der hebräischen Sprache und der Kabbala angeeignet hatte (1490). Und zwei Jahre später begann Reuchlin, anläßlich einer Gesandtschaft in Linz, wo damals vorübergehend Kaiser Friedrich III. residierte, sein gründliches Studium des Hebräischen. Bei Friedrichs Leibarzt Jakob ben Jechiel Loans. – Es war eines der tragischesten Jahre der jüdischen Leidensgeschichte oder Diaspora, das Jahr, in dem die Juden Spaniens vertrieben, aus einer hochentwickelten, jahrhundertealten Symbiose massenhaft in Tod und Elend gestoßen wurden. Seltsames Zusammentreffen: In dem gleichen Jahr fuhr Christoph Kolumbus (laut Madariaga vermutlich jüdischer Abstammung) aus, um den spanischen Majestäten den Weg nach Zipangu (Japan) und Indien zu finden; in Wirklichkeit entdeckte er einen neuen Kontinent, der dann in viel späteren Zeiten einer jüdischen Masseneinwanderung eine neue Zufluchtsstätte und verhältnismäßig ruhige Heimat darbieten sollte. Und in dem gleichen Jahr lernte zum erstenmal ein deutscher Gelehrter systematisch und gründlich das Hebräische, – auch er ein Entdecker eines ungeahnten Kontinents, eines geistigen Erbbesitzes von unübersehbaren Ausmaßen.

Johannes Reuchlin und sein Kampf

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