Читать книгу Johannes Reuchlin und sein Kampf - Max Brod - Страница 8
2
ОглавлениеWas uns hier als Karikatur erscheint, ist nicht bloße Formvollendung, Anpassung an die ›Kunst des Tullius‹ (so nannte man die bewunderte glatte rhetorische ciceronianische Latinität), später an die blutvolleren griechischen Originale – es ist mehr: es ist Verweltlichung im Zeichen der römisch-griechischen Kultur. Warum wurde diese gerade damals erneuert, in einem Schwung sondergleichen, in einer Entdeckerfreude, die ganzen Generationen zuerst in Italien, später in Frankreich, Deutschland, England den Lebensnerv gab? Die einfachste, allerdings nicht die exakteste Antwort auf diese Frage liegt wohl darin: daß man die strenge Zucht einfach nicht länger ertrug, daß das Maß voll, die Uhr abgelaufen war. Die Zucht, in der während des ganzen Mittelalters die Kirche und die christliche Gemeinschaft, auf der Disziplin des altrömischen Imperiums aufgebaut, – eine spirituelle Variante des antiken Kolonialismus –, den Erdkreis der westlichen Welt unterworfen und in vielleicht heilsamer, wenn auch allzu luftloser Ordnung gehalten hatte: diese Zucht war einfach nicht mehr auszuhalten. Man lehnte sich auf.
Man wollte frei sein. Freiheit der körperlichen Triebe, zuerst idyllisch oder ästhetisch oder vornehm-stoisch, dann immer ungehemmter bis zu rasender Wildheit, unbeherrscht bis zu dem, was man mit dem scheußlichen Etikett des ›Renaissancemenschen‹ versieht und was zu so schreckenerregenden Monstren wie Cesare Borgia und seinem Vater-Papst geführt hat. Einem Geschichtsforscher (Willy Andreas), dem ich sonst für viel Belehrung, lichte Darstellung, reiches Datenmaterial u. ä. verbunden bin, entfährt (offenbar unwillkürlich) die Bemerkung: »An die italienischen Tyrannenfiguren des Quattrocento und Cinquecento erinnert keiner dieser deutschen Fürsten. Nirgends die unheimliche Mischung von Verbrechen und Raffinement, die jene so anziehend macht.« – Es steht wirklich »anziehend« da! Verbrechen – und gleich darauf: anziehend. Von einer derartigen Geschichtsbetrachtung mich völlig geschieden zu halten, sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben an. Auf mich wirkt ein Verbrechen nie anziehend, immer abstoßend. Ich bekenne mich zu den ›Zehn Geboten‹.
Frei wollte man damals, im Renaissance-Zeitalter, allerdings auch im geistigen Sinn sein – bis zum Machiavellismus oder bis zur Autonomie der forschenden Vernunft, in der Folge bis zur Atombombe und der Sackgasse des heutigen technologischen und politischen Zustandes, in dem, sagen wir es offen, ein ausreichender Ersatz für die Herrschaft der genauen mittelalterlichen Ordnung noch nicht oder nur in schwachen Ansätzen gefunden worden ist. – Ansätze, die allerdings die heilige, ja die einzige Hoffnung der Menschheit bilden. Mögen sie gedeihen und Macht gewinnen, diese heiligen Ansätze, eine Macht, die entgegen dem bekannten Wort nicht mehr böse wäre!
Denn böse war ja auch das Mittelalter, in seiner Art sogar menschenfresserisch böse, ein gleichsam geordnetes Grauen, im Gegensatz zu dem ungeordnet labilen Grauen, das heute unser Schicksal ist. Böse war das Mittelalter, mit seinen Kreuzzügen, seinen Albigenserkriegen, seinem (noch nicht voll entwickelten) Hexenglauben, seinen Scheiterhaufen, seinen Geißelbrüdern, seinem von Aberglauben umgebenen ›schwarzen Tod‹ und ungezählten andern, durch Menschenunsinn gesetzten Ängsten und Toden, die es plagten und mehr als einmal weite Provinzen ausmordend bis in ihre Wurzeln zur Wüste machten. Böse war es, auch wenn wir die Einteilung übernehmen, die Friedrich Heer in seinem wissenden Buch ›Mittelalter‹ in Vorschlag bringt: die Einteilung in eine vergleichsweise heitere ›offene‹ Periode der ersten Jahrhunderte des Mittelalters (›offenes Europa‹ mit seinen beinahe toleranten, bunten, noch nicht durchdogmatisierten Erscheinungsformen) und eine dem Unheil zugänglichere, unfreiere, gleichsam zornigere Zeit, die um 1200 begonnen habe. Damals erlitt das Papsttum (nach Heer) seinen schweren Schock, indem es die Erfahrung machte: »Ganz Südwesteuropa, aber auch West- und Süddeutschland sind von ›Ketzern‹, von religiösen Nonkonformisten, unterwandert, die in einigen Fällen zur Gründung einer Gegenkirche schreiten.«
Die Thesen Heers sind so markant, daß ich sie im Wortlaut hierhersetze, ohne den Versuch, sie umschreiben zu wollen:
»Geschlossenes Europa: Wer die im 13. Jahrhundert mächtig voranschreitenden Prozesse innerer Abschließung und der Gleichschaltung, von gewaltigen und gewalttätigen Unifizierungen, die ja bis heute nicht zu Ende gekommen sind, verstehen will, muß diesen ersten Schock kennenlernen: In der Erfahrung, daß diese eine Christenheit plötzlich von Elementen unterwandert und durchsetzt ist, die religiös, weltanschaulich und bisweilen auch politisch sehr anders denken als die Kirche und ihr Kirchenvolk, setzt jene Kettenreaktion an, die durch innere Kreuzzüge (gegen die ›Ketzer‹), durch die Inquisition, die staatliche und kirchliche Überwachung des Denkens und Glaubens, die Fixierung des kirchlichen Glaubens und des weltlichen Wissens immer weiter getrieben wird.
Der Unbefangenheit, mit der im offenen Europa der andere, der Mensch eines anderen Volkes, Glaubens, Geistes, nicht selten aufgenommen wurde, entspricht die Befangenheit, die große Angst vor dem anderen, die nunmehr in Europa gesteigert und immer wieder neu belebt wird durch neue Schocks, die aber alle mit den Schockerlebnissen des hohen und späten Mittelalters zusammenhängen. Auf den Ketzer-Schock folgt der Türken-Schock. Neben diesen tritt der Schock vor den Hussiten, deren Heere ganz Mitteleuropa durchziehen. Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, wollte gegen die Hussiten ziehen; ihre Feinde in Frankreich und England aber sehen sie selbst als eine Verwandte dieser ›Ketzer‹.«
Es scheint mir allerdings, daß man die Grenzscheide zwischen dem »offenen« und »geschlossenen« Mittelalter besser um etwa 100 Jahre weiter zurück ansetzen sollte: Nicht erst die frevlerische Ausrottung der Albigenser, der provençalischen Hochblüte, einer farbigen Vor-Renaissance unter der kultivierenden Herrschaft der ›Dame‹ und mit dem Stempel des ritterlichen Frauendienstes, der an Platon anknüpfte, wiewohl nur halb-bewußt, gleichsam träumend, – sondern schon vorher bringt der Beginn der Kreuzzüge die schlimme Verwandlung. Die imposant unnachgiebigen, despotischen Figuren der Päpste Gregor VII. und Innocenz III. sind die Merksteine. Unter Gregors VII. Widersacher, dem fränkischen Kaiser Heinrich IV., hatten die Juden in Deutschland noch unangefochten leben, alle Gewerbe ausüben, Grundbesitz erwerben können. Mit den Kreuzzügen begannen die Judenverfolgungen am Rhein, in denen zum erstenmal die große Verdunkelung der Epoche ihren symbolischen (und freilich auch fürchterlich realen) Ausdruck fand. Die Inquisition mit ihrem entsetzlichen Geheimverfahren und ihren entsetzlichen Strafen, Nicht-Christen wie »häretischen« Christen gleichermaßen gefährlich, wurde allerdings erst 1215 durch das Laterankonzil zur bleibenden Institution verfestigt und erwürgte mit zunehmender Intensität alles freie Leben, drückte dem von der Kirche regierten Abendland den Stempel eines grausam totalitären Systems auf.
Über den ersten Kreuzzug, der die Wendung zum Schlimmen brachte, lese man den nachfolgenden Bericht eines jüdischen Zeitgenossen, wie ihn Josef Kastein in seinem Buch ›Süßkind von Trimberg‹ übersetzt hat: »Er erspart uns jeden Kommentar«, wie Kastein richtig hinzusetzt. Die alte Quelle sagt:
»Und nun werde ich erzählen von dem Hinrollen des Verhängnisses auch in den anderen Gemeinden, die erschlagen wurden für Seinen Namen, den Einzigen, und wie sehr sie Gott, dem Gott ihrer Väter, anhafteten, und wie sie Seine Einzigkeit bewährten bis zum Auspressen ihrer Seele. – Es war im Jahre 4856 (1096), damals, als wir auf Befreiung und Trost hofften … da erhoben sich zuerst freche Gesichter, ein Volk fremder Sprache, ein bitteres, ungestümes Volk der Franzosen und Deutschen; sie richteten ihr Herz darauf, nach der heiligen Stadt zu gehen, welche verbrecherisches Volk entweiht hatte, um das Grab des Nazareners dort aufzusuchen, die Ismaeliter, die Bewohner des Landes von dort zu vertreiben und das Land in ihre Hand zu zwingen. Sie machten ein Zeichen, ein Mal, das nicht gilt, an ihre Kleider, ein Kreuz, jeder Mann und jede Frau, die ihr Herz trieb, den Irrweg zum Grab ihres Gesalbten zu gehen, bis daß sie zahlreicher waren als der Heuschreck auf dem Erdboden. Als sie durch die Städte zogen, wo Juden waren, sprachen sie einer zum anderen: Seht, wir gehen einen fernen Weg, um das Grab zu suchen, unsere Rache zu nehmen an den Ismaeliten, und seht, unter uns sitzen die Juden, deren Väter ihn grundlos erschlagen und gekreuzigt haben; rächen wir uns doch zuerst an ihnen, tilgen wir sie weg aus den Völkern, oder sie mögen werden wie wir und sich zum Nazarener bekennen. … Als die Gemeinden ihre Reden hörten, ergriffen sie das Handwerk unserer Väter: Umkehr, Gebet und Wohltun. Damals aber erschlafften die Hände des heiligen Volkes, ihr Herz schmolz, ihre Kraft ward schwach, sie verbargen sich in innersten Gemächern vor dem kreisenden Schwerte und quälten ihre Seele im Fasten. Sie ließen einen großen und bitteren Aufschrei hören. Doch ihr Vater antwortete ihnen nicht. Er hüllte sich in ein Gewölk, daß ihr Gebet nicht hindurchdrang. … Als die Söhne des heiligen Bundes sahen, daß das Verhängnis sich erfüllen würde, die Feinde sie besiegen und in den Hof eintreten würden, da weinten sie alle, Greise und Jünglinge, Jungfrauen und Kinder, Knechte und Mägde, zu ihrem Vater im Himmel weinten sie über sich und ihr Leben. Das Urteil des Himmels nahmen sie als gerecht auf sich und sprachen zueinander: Wir wollen stark sein. Für eine Stunde werden die Feinde uns töten, aber unsere Seelen werden leben und bestehen im Garten Eden. Und sie sprachen aus ganzem Herzen und williger Seele: Dies ist der letzte Sinn: nicht nachgrübeln über die Weise des Heiligen. Er hat uns seine Lehre gegeben und das Gebot, uns töten zu lassen für die Einzigkeit seines heiligen Namens. Wohl uns, wenn wir seinen Willen tun. Wohl dem, der umgebracht, der geschlachtet wird. Für die kommende Welt ist er bestimmt. Ihm wird getauscht eine Welt der Finsternis um eine Welt des Lichts, eine Welt der Not um eine Welt der Freude. … Da schrien sie alle mit lauter Stimme und sprachen wie ein Mann: Nun haben wir nicht mehr zu zögern, denn die Feinde kommen schon über uns her. Gehen wir rasch, tun wir’s, opfern wir uns vor dem Angesicht Gottes. Jeder, der ein Messer hat, prüfe es, daß es nicht schartig sei, und komme und schlachte uns für die Heiligung des Einzigen; und dann schlachte er sich selbst an seinem Halse oder steche sich das Messer in den Leib. … Als die Feinde vors Dorf gekommen waren, da stiegen einige von den Frommen auf den Turm und warfen sich in den Rhein, der am Dorfe vorbeifließt, und ertränkten sich im Strom und starben allesamt. … Als Sarit, die bräutliche Jungfrau, sah, daß sie sich mit den Schwertern umbrachten, daß sie geschlachtet wurden, einer vom anderen, da wollte sie vor dem Schrecken, den sie sah, durchs Fenster auf die Gasse entweichen. Aber als ihr Schwiegervater, Herr Jehuda, Sohn des Rabbi Abraham des Frommen, das sah, rief er ihr zu und sprach: ›Meine Tochter, weil ich nun nicht gewürdigt ward, dich meinem Sohne Abraham zur Frau zu geben, so sollst du doch nicht einem anderen, einem Fremden zur Frau werden.‹ Er führte sie vom Fenster weg, küßte ihren Mund, erhob mit dem Mädchen zugleich seine Stimme im Weinen und sprach zu allen, die umherstanden: Seht ihr alle, dies ist das Trauzelt meiner Tochter. Und sie weinten alle, ein großes Weinen. Sprach zu ihr Herr Jehuda: Komm, meine Tochter, lege dich hin in den Schoß Abrahams unseres Vaters, denn mit einer Stunde erwirbst du seine Welt. – Er nahm sie, legte sie in den Schoß seines Sohnes Abraham, zerhieb sie mit einem scharfen Schwert mittendurch in zwei Stücke; dann schlachtete er auch seinen Sohn. Darüber weine ich, und mein Herz jammert. Und nachher, als die Söhne des heiligen Bundes getötet dalagen, kamen die Unbeschnittenen über sie her, um sie auszuziehen und aus den Gemächern zu räumen. Sie warfen sie nackt durch die Fenster zu Boden, Berge über Berge, Haufen über Haufen. Und viele unter ihnen lebten noch, als man sie hinuntergestürzt hatte; ein wenig Leben war noch in ihnen, und sie winkten mit ihren Fingern: Gebt uns ein wenig Wasser zu trinken. Als die Verblendeten das sahen, daß in ihnen noch eine Spur Leben war, fragten sie: ›Wollt ihr euch taufen lassen? So werden wir euch Wasser zu trinken geben, und noch könnt ihr gerettet werden.‹ Sie aber schüttelten mit dem Kopfe, blickten hin zu ihrem Vater im Himmel, als sprächen sie: ›Nein!‹, und wiesen mit dem Finger nach oben. Doch kein Wort konnten sie aus ihrem Munde hervorbringen vor der Menge der Wunden, die ihnen zugefügt worden waren. Und jene fuhren fort, sie zu schlagen, über das Maß, bis sie sie zum zweiten Male umgebracht hatten.«
Kastein fügt hinzu: »Was hier mitgeteilt worden ist, illustriert die Vorgänge, die sich im Beginn des ersten Kreuzzuges (1096) in Speyer, Worms, Mainz, Köln und Trier abspielten. Es ist zu ergänzen, daß vielfach Juden bei diesen Angriffen zwangsgetauft wurden.«
Wie schwer das kirchlich Systematische auf dem gesamten Geistesleben des späteren Mittelalters lastete, beschreibt J. Huizinga in einer schier unerschöpflichen Beispielfolge in seinem ›Herbst des Mittelalters‹, nachdem er zuvor die Modemanieren des Ritterdienstes und sein »schönes, lügnerisches Spiel« eben als Spiel entlarvt hat, dessen hohe ethische Grundsätze selten ernstgenommen wurden – außer von seinem seltsamen Relikt, dem Ritter Don Quixote, dessen rührendes Befolgen der hohen Moral des Rittertums in seiner Tragikomik und wahnhaften Naivität doppelt ergreifend wirkt. – Auch im Frauendienst des Mittelalters spricht modische Sitte das erste Wort, wenngleich (meiner Ansicht nach) hier wohl viel mehr Erfahrung und echtes Gefühl mitbeteiligt war, als Huizinga annimmt. Daß aber auch die Frömmigkeit des angeblich so frommen Mittelalters nicht vor ›Gschnas‹ und Routine geschützt ist, das ist das Erstaunlichste, was man aus dem zitierten wichtigen Buch herausliest. Da heißt es etwa: »Das Leben der mittelalterlichen Christenheit ist in all seinen Beziehungen durchdrungen und völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen. Es gibt kein Ding und keine Handlung, die nicht fortwährend in Beziehung zu Christus und dem Glauben gebracht werden. Alles ist auf eine religiöse Auffassung aller Dinge eingestellt. Wir sehen eine ungeheuerliche Entfaltung innigen Glaubens, aber in der übersättigten Atmosphäre kann die religiöse Spannung, die wirkliche Transzendenz, das Heraustreten aus dem Diesseits nicht stets gegenwärtig sein. Bleibt jene Spannung aus, dann erstarrt alles, was doch bestimmt war, das Gottbewußtsein zu wecken, zu einer erschreckenden Alltäglichkeit (von mir kursiv gesetzt), zu einer erstaunlichen Diesseitigkeit in jenseitigen Formen.« Es folgen Beispiele aus dem Leben eines so hochstehenden Frommen, wie Heinrich Seuse. Sie wirken bei aller Echtheit recht verspielt, manieriert. – Kein Wunder, daß solch eine Tyrannis des christlichen Lehrgebäudes auf viele (und darunter auf sehr ehrliche und hohe Geister) als unerträglicher Druck wirkte. »Es ist ein Prozeß fortwährender Herabsetzung des Unendlichen zu Endlichkeiten, ein Auseinanderfallen des Wunders in Atome. An jedes heiligste Mysterium heftet sich, wie eine Muschelkruste am Schiff, ein Gewächs äußerlicher Glaubenselemente an, die es entweihen.« – Man könnte von einer Verpöbelung der hochgespannten Stimmungen des Christentums sprechen. Zu solch abergläubischen Entartungen gehört vor allem der Reliquienkult, gegen den Reuchlin eine seiner beiden lateinischen Komödien (›Sergius vel Capitis caput‹) schreibt. – Man möchte es nicht für möglich halten, aber in einem durchaus nicht kirchenfeindlichen, objektiven, in keiner Weise überschwenglichen, eher trockenen Buch der Wissenschaft, in Willy Andreas’ hier schon angeführtem ›Deutschland vor der Reformation‹ liest man über Reliquienverehrung: »Das Wittenberger Heiligtum enthielt Ruß aus dem Feuerofen der drei Jünglinge. Im Schleswigschen Augustinerkloster Bordesholm zeigte man von der heiligen Jungfrau die gesamte Nähausrüstung einer Dame von Rang, auch etwas von ihrem Haargeflecht und sogar ein wenig Ohrenschmalz.«
In einem System von so viel Verstiegenheit war begreiflicherweise der philosophierenden Vernunft, dem lumen naturale, nichts als die Rolle einer Gefangenen, einer Dienstmagd der Theologie (ancilla theologiae) zugewiesen. Sie besaß keine autonomen Rechte. Ihre Aufgabe war nur, mit kunstvoller schulmäßiger (scholastischer) Akribie weitläufig das zu untermauern, was als Gebäude der Glaubenssätze von vornherein unbezweifelbar feststand. Zu einem anderen Ergebnis durfte, ja konnte sie nicht kommen. Nur zu diesem bedingungslosen ›Ja‹. – Des Abälard ›Ja und Nein‹ (Sic et non) wurde verworfen, sein Leben grausam zerstört; wiewohl auch er die kirchlichen Autoritäten nicht zu erschüttern, sondern im Gegenteil »die Widersprüche in den Schriften der Kirchenväter zu harmonisieren« (solvere controversias in scriptis sanctorum) bestrebt war. – An der bona fides der großen Kirchenlehrer des Mittelalters, z. B. eines Giganten wie Thomas von Aquino ist selbstverständlich nicht zu zweifeln. Sie waren aufs tiefste überzeugt, daß die Vernunft zu keinem andern Ergebnis kommen könnte als zu einer möglichst engen Annäherung an die Glaubenssätze. Zu diesem Ziel nahmen sie den (allerdings scholastisch interpretierten) Aristoteles als Führer. »Philosophus ille omnium perspicacissimus Aristoteles« (den scharfsinnigsten aller Philosophen) nennt ihn Abälard. Und Dante sagt von ihm:
»Il maestro di color che sanno
(Der Meister derer, die da wissen)
Tutti lo miran, tutti onor gli fanno«
(Alle bewundern ihn, alle geben ihm Ehre.)
Er ist bei Dante auch gleich von seinem großen Erklärer begleitet, – denn infolge der Kriegserschütterungen und anderer verhängnisvollen Umstände kannte das Mittelalter nicht den originalen Aristoteles, sondern hauptsächlich den von arabischen und jüdischen Exegeten vermittelten. So findet ihn denn auch Dante in Gesellschaft des
»Averrois, che il gran commento feo«
(des Arabers Ibn Roschd, »der den großen Kommentar geschrieben hat« – ein Kommentar, der später in der Scholastik lebhaft angefochten wurde).
Es ist nicht überflüssig, eine Zeile über die Lokalität hierherzusetzen, in der Dante den von ihm hochverehrten Klassikern (neben Aristoteles und Averroës auch dem Homer u. a.) begegnet. Dieses erschütternde Treffen spielt sich nämlich – in der Hölle ab. Denn die genannten Helden der Wahrheit und Schönheit waren ja ungetauft (»perchè non ebbe battesmo«, Hölle 4. Gesang). Wohl sind sie in diesem obersten Höllenkreise durch ein »nobile castello« mit siebenfacher Mauer und mit einem schönen Flüßchen nebst grünem Wiesenhang von dem eklen Höllengraus der Tiefe getrennt, auch sonst durch mannigfache Privilegien ausgezeichnet, durch »Schmerz ohne Qualen« geadelt, – aber die Pforte, die zum »Volk der Verlorenen« führt, hat sich eben doch schon längst – und zwar für ewig – hinter ihnen zugetan. Es gibt kein ergreifenderes und ernsteres Sinnbild für das »geschlossene Europa« als diese schwermütige Begegnung seines größten Dichters mit den heidnischen Vorbildern, die er liebt, – eine Begegnung, aus der Dante unter Leitung des gleichfalls eigentlich ›verdammten‹ Vergil, völlig überzeugt und doch mit ganz leisem, kaum ausgesprochenem Protest aufbricht, unsagbar zart in diesem Protest, der harte Mann, dem schon zuvor, ehe er den Höllengang antritt, jedes nichtige Mitgefühl (ogni viltà) untersagt worden ist. – Indessen hatte lange vorher der von diesem fanatisierten Europa mit Vernichtung bedrohte Talmud, um dessen Rettung sich Reuchlin sein unsterbliches Verdienst erstritten hat, das erlösende Wort gefunden: Tosefta Sanhedrin 13, 2: »Die Gerechten aller Völker haben Anteil an der kommenden Welt, d. h. an der ewigen Seligkeit.«