Читать книгу Der den Teufel weckt - Maxi Hill - Страница 10
Hacke dicht
ОглавлениеWie befohlen saß er in der Aula einer fremden Schule und ließ irrwitzige Tänze eines Kabarettisten über sich ergehen. Aus den Lautsprechern dröhnte James Browns »Sex Machine«. Die Zuhörer um ihn herum waren ähnlich ratlos wie er. Zwei Kerle pöbelten lauthals. Der Mann auf dem Podest schmiss die beiden kurzerhand raus. Hackedicht, so schien der schwankende Kerl. Er lallte, trötete durch seine Koks-Nase und glotzte ziemlich bekifft in die Reihen. Zwei Stunden lang schaffte sich der Kerl mit dem wirren Haar und dem Vogelgesicht, und langsam begriffen alle, lachen war erlaubt, auch wenn es um Ernstes ging: Kiffen, Koksen, Rauchen, Trinken. Das ganze Repertoire hatte der Künstler auf dem Programm.
»Mit Pestiziden verseuchter Dreck …! « brüllte er in die Menge.
»Man versucht, euch systematisch ins Gehirn zu scheißen. Wer? Eine aberwitzig, große skrupellose Industrie! «
Eindrucksvoll. Aber lockt das einen aus seinem Kick?
Zwei Mädchen hinter ihm, die etwas spät erst hereingeschlichen waren, redeten miteinander, während der Künstler ekstatisch über die Bühne tobte: »Zu spät«, raunte die eine. »In meiner Klasse rauchen viele schon seit Jahren. «
Vom Saufen sagte sie nichts.
»Lass΄ ma΄«, meinte die andere. »Ein Sinn steckt trotzdem drinne.«
Wenn ihn etwas stark interessierte, dann war es genau der Sinn, den das Mädchen sah. Aber den erfuhr er nicht.
Es gab auch in seiner Schule viele Schüler, die weder rauchten noch tranken. Mutige bekannten sich dazu. Noch mutigere versuchten, andere positiv zu beeinflussen. Die kleine Nina Joswig war bisher eine von denen – so glaubte er damals noch - und ihre Freundin Marie Just, beide aus der Neun A. Leon Berger aus der Neun B und noch einige andere. Alles phantastische Typen. Die Dauer-Trinker sind nur eine Handvoll. Aber jeder einzelne kann einen anderen mit in den Sumpf ziehen, und jeder einzelne ist einer zu viel.
Noch einen setzte der Künstler auf der provisorischen Bühne drauf: Den entwürdigenden Vorgang des Kotzens. Brüllendes Gelächter. Und dann – eisige Stille, als er von seinem Kumpel erzählte, der seine Sucht nicht überlebte.
Wie plötzlich die Worte seinen eigenen Erfahrungen glichen. Auf ähnliche Weise hatte er seinen Freund Gerd verloren. Was aber, wenn es keinerlei Erfahrungen gibt?
»War das ein Programm, das dich abhalten könnte von dem Zeug? «, fragte er die beiden Mädchen auf dem Weg nach draußen. Eine hob ihre Schultern, grinste und sagte: »Klar, echt witzig. « Die andere meinte trocken: »Ich brauch jetzt erst mal ´ne Fluppe. «
Jeder Versuch, gegen Drogen aller Art aufzutreten, ist achtbar. Aber zumeist sind die Präventionen passive Erlebnisse ohne Selbsterkenntnis. Nur, was man an seinem Körper erfährt, erfährt man intensiv und nachhaltig. Dagegen kann ihn der beste Komiker, die teuerste Campagne, nicht überzeugen.
Das Telefonat mit dem Suchthilfeverein fällt ihm ein. Der lehnt das Trinkexperiment vehement ab: Der Verein sei strikt abstinenzorientiert. Das Projekt sei nicht altersgerecht und man zweifle an der Verantwortbarkeit.
Altersgerecht? Dass er daran nicht eher gedacht hatte? Die Meinung der Mädchen passte ihm ziemlich gut. Zu spät? Die meisten rauchen seit Langem. Wer raucht, der trinkt auch. Also, statt aufzugeben, noch einmal das Testalter reduzieren?
Schon damals bezweifelte er, ob das durchzuboxen war. Achte Klasse. Zweifelhaft. Es sei denn, er kämpft allein gegen den Rest der Welt.
Wenn eine Sache keine Lobby hat …, meinte die Geyer. Eine Lobby muss man er sich schaffen. Mit einer stadtbekannten Person. Ein Elternteil. Einer wie dieser Lörmann? Wenn man so einen gewinnen könnte …
Ein wandelndes Bierfass?
Kontraproduktiv.
Eine Frau. Ja, eine Frau schafft Vertrauen. Nicht Vera Hensel. Auf keinen Fall. Welche Frau stiftete Vertrauen?
Es gab ebenso viele gute Frauen, wie es Wege zum Ziel gab.
Seit drei Wochen war der Himmel strahlend blau, aber die Luft blieb eisig zu Frühlingsbeginn. Seit dem letzten Blitzeis Mitte Februar war kein Tröpfchen mehr vom Himmel gefallen. Nicht als Schnee und nicht als Regen. Er wartete auf die Zeit, wo sie wieder auf dem Freifeld Sport machen konnten. Er hatte nur die Jungen. Die Mädchen turnten bei Frau Nachtigall, einer Ästhetin ersten Ranges. Kein Wunder, dass sie zu Ballett-Eleven wurden, im Weitsprung aber wie nasse Säcke über den Absprungbalken plumpsten.
Seine Jungen scheuchte er nicht aus Lust an der Freude, nicht um seine Macht zu demonstrieren. Er hatte ein Konzept, und davon ließ er sich nicht abbringen. Sport war geeignet, allen Frust herauszulassen, Aggressionen loszuwerden. Warum sollte er diese Chance nicht nutzen, ab und zu jedenfalls. Dem Lehrplan standen Power-Stunden nicht entgegen.
Während des Umziehens und auf dem kurzen Weg zum Hauptgebäude redeten die Jungen über die Mädchen der beiden Klassen, von denen einige als Funkenmariechen im Karnevalsverein tanzten.
»Da läuft ΄ne fette Mucke«, hörte er Pattrick sagen. »Da lassen wir den Larry raus. «
»Für mich ist das Schnullibambulli. « Leon Berger winkte ab. Dieser Junge war kein Draufgänger. Ein Bücherwurm; nicht der Trend. Er stand aber deswegen in der Klasse nicht im Abseits. Diese Erkenntnisse waren für ein Lehrerherz beruhigend. Wenn der Herdentrieb keinen zurücklässt, war noch nicht Hopfen und Malz verloren.
»Nina Joswig hoppelt auch beim großem Umzug rum«, kicherte Pattrick, als belustigte ihn die Sache mehr als er zugeben wollte.
»Sind wir dabei …? « Maik Gerber gab Pattrick einen freundschaftlichen Schubs.
»Klaro. Da geht der Groove ab! «
Im letzten Jahr hatte er einige von den Jungen beim großen Karnevalsumzug am Straßenrand stehen gesehen. Todsicher hatten sie ihre Anheizer in den Taschen. Genau genommen war ihm damals die Idee gekommen, etwas Neues zu probieren, was vor größeren Schäden schützen könnte. Vielleicht war er deshalb sofort zu diesem Experiment bereit gewesen?
»Ihr geht da wirklich hin? « Er gab sich Mühe, seine Frage gleichgültig klingen zu lassen.
»Kommen Sie doch mal mit. Das geht ab wie Zäpfchen. «
»Ich habe kein Kostüm«, grinste er verschlagen. »Als was geht ihr denn so? «
»Als Badewanne«, kicherte Pattrick.
Das Bild vor seinem Auge konnte er mit Anstand nicht weiter ausmalen, nicht mit Worten. Nicht vor den Jungen. Das musste er auch nicht. Pattrick gab bereitwillig den Ton an, im Sport mehr als in Mathematik.
»Wir lassen uns mal richtig volllaufen. «
»Vorsicht! Daraus könnte ein Elternbesuch werden. «
Ganz ernst hatte er es nicht gemeint, aber irgendwie gefiel ihm Pattricks Scherz nicht. Wo beginnt seine Verantwortung und wo sieht man Gespenster, nur weil man sich etwas auf die Fahnen geschrieben hat.
»Lassen Sie mal«, raunte Rille, der bis jetzt stumm nebenher gelaufen war. »Pattricks Vater ist der Boss vom Verein. «
Rille hieß Robert Illing und war Pattricks Anhängsel. Ob sie wirklich die besten Freunde waren, vermochte er nicht zu sagen. Auf jeden Fall sah es Robert so. Als sein Lehrer wusste er, wie oft Pattrick Lörmann Robert Illing ausstach. So wie in dieser Minute.
Er beeilte sich, den beiden aus der Neun A zu folgen, die mit nackten Armen und halblangen Sporthosen den Weg von der Turnhalle bis zum Schulgebäude liefen. Diese Art Angeberei sah er nicht gerne. Einen der beiden hatte Volker Brauer im Winter nach Hause geschickt, weil er keine Socken trug. Er habe kein Kälteempfinden, so soll die Mutter ihren Sohn verteidigt haben. Gegen das Elternhaus hat auch der beste Lehrer keine Chance.
Rille blieb artig neben ihm. Es gab solche Schüler, die die Nähe des Lehrers suchten und es gab andere, die lieber flüchteten.
»Was macht der Boss des Karnevalsvereins den Rest des Jahres? «, fragte er Rille in einer Art, als wolle er ihm nur die Chance zum Reden geben.
»Herr Lörmann ist irgend so ΄n Oberster bei den Handwerkern. «
Handwerkskammer? Logisch. Diese Leute waren zu agieren gewöhnt.
Herr Lörmann hatte also nicht übertrieben.
Die Sonne schien. Mallorcahimmel Anfang März. Der Wind frischte aus Nord-Ost, aber das konnte ihn nicht schrecken. Eigentlich wollte er mit seinem Freund Felix Keller eine Radtour machen – immer an der Spree entlang.
Es sehe nicht gut aus am Flusslauf, hatte Felix gesagt. Vom Hochwasser versandete Ufer, Bäume entwurzelt, Auen verwüstet. Sie haben schon mehrmals in den Startlöchern gestanden; immer war etwas dazwischen gekommen. Heute sah es wieder so aus. Die Sache mit dem Karnevalsumzug ließ ihm keine Ruhe. Er war kein Trauerkloß, aber auch nicht der geborene Jeck, hatte eher Unverständnis für das närrische Getümmel. Hat man diesen Spuk heute noch nötig? Alle Welt lebt ihre Freizügigkeit. Also, wozu auf einer mittelalterlichen Freiheit bestehen, die einem am Aschermittwoch wieder genommen wird. Warum Frohsinn nach Kalender?
Schon von weitem hörte er das Dröhnen der Lautsprecher. Zwischen stampfender Musik die überschlagenden Kommandos für das gaffende Volk.
Abseits war die Stadt wie ausgefegt, wenn auch total zugeparkt von Autos aller umliegenden Regionen. An der Strecke staunte er über die vielen kostümierten Zuschauer – doch nicht alles nur Gaffer, wie er einer war. Sie winkten und schunkelten. Väter nahmen ihre Sprösslinge auf die Schulter, Mütter hielten Regenschirme rücklings in die Luft, um so viel Kamelle wie möglich aufzufangen. Es flog viel Süßes durch die Luft. Im Umzug selbst viel Saures: Politikverdrossenheit, die zur Schadenfreude anregte?
Ein eigenwilliges Gefährt rollte vorbei. Eine Galeere, die Rudersklaven suchte, das sinkende Schiff zu retten.
Die bissigsten Losungen wurden vom Fußvolk amüsiert beklatscht. Etwas netter – wenn auch nicht sein Ding - fand er die bunten Kostüme der vielen Mädchen, die pausenlos tanzten und deren Beine beachtlich in die Höhe wirbelten. Die Funkengarden.
Ob Nina unter ihnen war? Logisch wäre, Pattrick und die anderen Jungen am Ende des Zuges zu finden, wo sie auf die Mädchen lauerten. Es war ihm längst aufgefallen, dass Pattrick ein Auge auf Nina Joswig geworfen hatte. Nina war ein nettes Mädchen, geradlinig und offen, ganz passabel intelligent, stets lächelnd aber nie aufdringlich.
Von dröhnender Musik verfolgt, pilgerte er hinter den dicht gedrängten Zuschauern immer weiter in Richtung Westen, wo auf dem Viehmarkt das Festzelt stand. Er kam nicht gut voran, wurde bedrängt und bisweilen sogar abgeküsst von besonders jecken Frauen.
Vor dem Theater die VIP-Tribüne der Prominenz strotzte vor Narrenkappen, Schärpen oder Orden.
Den Oberbürgermeister mit seinen Gefolgsleuten erkannte er. Andere waren ihm unbekannt. Nur eine Gestalt stach ihm ins Auge: Herr Lörmann. Also hatte Robert Illing nicht geflunkert.
Kurzentschlossen huschte er zwischen zwei Vereinswagen auf die andere Straßenseite, dort, wo die Stadtvillen hinter Vorgärten die Straße säumten und wo das Fernsehen die Sendestation hatte. Er stellte sich auf einen Granitblock, der zum Beschweren eines Gerüstteils herangeschleppt worden war, und verfolgte das Treiben eine Weile. Irgendwann sah er alles mit klarem Blick. Was so viele Leute anzog, konnte nicht völlig sinnlos sein. Wann gab es eine bessere Gelegenheit, ungestraft die Politik abzuwatschen, als im Karneval? Wie zum Beweis seiner Gedanken zog gerade ein Verein mit seinem Leitmotiv vorbei: Ob schwarz, grün, rot oder gelb – Narren regieren die Welt.
Eine Tanzformation aus Schönheiten - wie geklont - posierten vor der Kamera. Wagenräder von Hüten und Kopfschmuck aus exotischem Obst gaben ein Bild in lila, rot, blau grün und pink.
Wer all die vielen Kostüme näht, muss mindestens so ein Phantast sein wie ich, hatte er gedacht.
Auf der Nordseite gleich hinter der Tribüne sah er sie. Seine Jungen. Ohne Kostüme, nur mit etwas Buntem über die Schultern gekräuselt. Zwei Fremde und drei aus seiner Neun B. Pattrick war dabei. Freilich hatten sie etwas in der Hand, was sie zum Munde führten. Offenbar kleine Taschenflaschen. Hoffentlich nicht von Papa Lörmann spendiert.
Er musste noch ein Stück in Richtung Festplatz laufen, um besser hinter die VIP-Tribüne einsehen zu können. Eine Sicherheit, die Jungen im Augen zu behalten, gab es trotzdem nicht. Eine solche Erhöhung gab es nicht alle drei Meter und wenn, dann war sie besetzt. Außerdem konnten die Jungs - wie er ja selbst - den Standort wechseln. Nur eines war ihm sofort klar. Wenn Pattrick heimlich trank, wovon seine Eltern nichts wissen durften, dann würde er mit seinen Freunden niemals ausgerechnet hinter der Tribüne trinken, auf der sein Vater repräsentierte.
Wann hatte er in diesem Alter mit Freunden die Nähe zu seinen Eltern gesucht? Wenn es etwas abzustauben gab.
Eine halbe Stunde später war es noch keine zweihundert Meter weiter vorangekommen. Zwei halbwegs maskierte Männer kämpften sich wie er hinter der Mauer aus Zuschauern in Richtung West.
»Das gibt verdammt Ärger«, sagte der eine. »Das war es dann wohl mit dem Karneval Ost«, der andere.
»Ich hab die Sirenen gehört, aber wer denkt denn an so etwas? «
Die Männer blieben stehen und umarmten eine Gruppe Leute, die ihm nun vollends den Weg versperrte. Im Durcheinander der Stimmen hörte er die Nachricht heraus. Es habe einen Unfall gegeben. Ein Gerüst sei eingestürzt und habe die Menschen unter sich begraben. Es seien ein paar junge Leute dabei gewesen. Kinder sogar.
»Wo war das?« mischte er sich rüde in das Gespräch.
Ein Mann schien einigermaßen empört, zeigte aber zurück: »Zweihundert Meter. Nähe Theater. «
Pattrick. Robert. Maik. Er hatte keine Zeit zu verlieren und wurde beinahe von einem der Festwagen erfasst. Es war die Zeit, wo viele der Schaulustigen bereits zum Festplatz wanderten. Er kam nur mit Mühe durch, musste gegen den Strom ankämpfen, aber kaum einer der Menschen machte ein besorgtes Gesicht. Stimmte die Nachricht gar nicht?
Die Haupttribüne stand noch. Er stieg auf den verdickten Schaft einer gusseisernen Laterne vor dem Theaterportal und spähte über die Köpfe der tobenden Masse hinweg. In seinem Brustkorb lockerte sich etwas. Er konnte sie ausmachen. Die Jungen standen mit dem Rücken zu ihm und schauten in die Richtung, wo keine Schaulustigen mehr auszumachen waren. Dafür Rettungswagen und Sanitäter in orangeroten Westen. Heißer Atem strömte aus seiner Brust, die sich langsam entspannte.
Wieso, verdammt, hätte er sich Vorwürfe gemacht? ◄
Jetzt und hier auf dem öden Gang der Klinik weiß er es. Er hat sich Vorwürfe gemacht, weil er wusste, wohin sie gehen wollten? Weil er gesehen hatte, dass sie etwas getrunken haben?
Und warum ist er hier? Will er Nina daran erinnern, was sie beim Experiment gelernt hatte?
Warum will er seine eigenen Weisheiten verwässern: Verantwortung heißt nicht, den fuchtelnden Finger zu strapazieren. Verantwortung und Verbot sind zweierlei. Erziehung ist nicht purer Moralismus? Erziehung ist immer auch Beziehung.