Читать книгу Der den Teufel weckt - Maxi Hill - Страница 7

Die Sache mit Vera Hensel

Оглавление

Die Krankenschwester sagt, pro Jahr werden fünfzehn bis zwanzig Jugendliche in diesem Zustand in der Notaufnahme eingeliefert. Am schlimmsten ist die Zeit um Himmelfahrt und zu den Osterfeuern. Auffällig ist, dass in letzter Zeit zunehmend Mädchen behandelt werden müssen.

»Das liegt daran, dass die Jungen robuster sind«, erwidert Jan Stein.

Bei sich denkt er: Nina ist alles andere als robust. Kein Kollege hätte Nina so etwas zugetraut.

Er lehrt gern am Heine-Gymnasium. Zwar sind die Kollegen dickfelliger als in seiner Kleinstadt-Schule und bisweilen hört er merkwürdige Grundsätze: Ein Gymnasium setzt die Prioritäten nicht auf Erziehung. Wer sein Kind hierher gibt, hofft auf hohe Bildung?

Geschwafel. Junge Erfolge wachsen auf dem Dung alter Denkfehler!

Er geht seinen Weg unbeirrt – trotz Rückschlag.

Was haben all die Erlasse gebracht, mit denen die große Politik ihr Gewissen reinwäscht? Besteuerung von Alkopops. Ausschankverbote. Preisschrauben. Die leichten Drinks waren es, die junge Zungen an hartes Zeug gewöhnten. Was nutzen öffentliche Verbote, wenn in den Wohnzimmern vorgeglüht wird. Er wirft seinen Kopf zurück.

Meine Methode ist besser geeignet als tausend Verbote und hundert Gesetze, auch wenn viele sie verteufeln. Erfahrung ist der beste Lehrmeister. Kontrollierte Erfahrung. Gerade für Heranwachsende.

Sellinger sieht klar: Flatrate-Saufen, 50-Cent-Partys und all diese Erfindungen! Je mehr die Jugend davon hört, desto spannender wird es. Allein das Wort Komasaufen erzeugt den Reiz, einmal auszuprobieren wie es ist, total besoffen zu sein ...

Jan Stein fühlt sich angekommen in seinem Beruf. Nicht lange zuvor war noch ein Zweifel in ihm. Die Anforderungen an einem Gymnasium sind hoch. Inzwischen weiß er es besser. An dieser Schule kocht man auch nur mit Wasser. Jeder lehrt nach seinem Gutdünken. Es gibt keine offenen Scharmützel. Nein. Aber es gibt diese gewisse Hackordnung, die jeden an seinen Platz befiehlt, der die Rangfolge missachtet. Nicht selten erwischt einen der Stoß des Nebenmannes, weil man ihm zu nahe kommt.

Zugegeben. Irgendwie war er Vera Hensel zu nahe gekommen? Aber womit genau, bleibt diffus.

Schon in der Nacht des endlosen Wartens in diesem Gang der Nothilfestation war Jan Stein zu keinem Ergebnis gekommen. Keinem, das mit Nina Joswig zusammen geht – aber sehr viel, was mit ihm selbst zu tun hat.

►Als er damals an diese Schule kam, fiel sie ihm sofort auf. Vera Hensel. Jeder im Kollegium wusste, was unter ihrem Examen stand: Mit Auszeichnung.

Nicht nur der Abstand zwischen ihrem und seinem Examen flößte ihm Respekt ein. Vera war für ihn ein Sinnbild des Schönen. Er brauchte sie nur zu sehen, schon war er gefangen von ihrer Helligkeit. Nicht das Haar allein, auch ihr Kopf war helle und die Stimme, die das innere Strahlen nach außen trug. Scheinbar. Damals glaubte er, es sei eine Freude ihr zuzuhören. Manchmal wollte er meinen, sie zitierte Goethe wenn sie sprach. Ihre Worte stets in knappe Sätze gefasst trafen schnell und präzise den Kern einer Sache.

Wann fing es an, dass sein Interesse an Vera Tropfen für Tropfen versickerte?

Mit Karim? Eigentlich lange zuvor?

Karim sagt: Was nicht gut ist, kann auch nicht schön sein - auch wenn der Fliegenpilz uns narrt.

Karim hat recht. Schönheit ohne Seele ist wie Sonne ohne Wärme. Karim. Warum hatte er bei Karim keine ähnliche Absicht wie bei Vera? Weil Karim Referendarin war und bald wieder gehen, Vera aber in seiner Nähe bleiben würde? Weil Karim zu jung, zu unverbraucht, zu schade für eine Affäre war? Und mehr wollte er nicht. Meistens. Schließlich hatte er einen Grundsatz: Lebensgefährte, da steckt schon zwangsläufig das Wort Gefahr drin.

Vera Hensel unterrichtet Deutsch und Geschichte und sie wohnt in einem kleinen Dorf unweit der Stadt. Wenn sie morgens mit ihrem Cabrio auf den Schulhof gefahren kam und ihre hellen Haare im Wind flatterten, stand er schon im oberen Stock an einem der Flurfenster und wartete auf diese Szenerie, die einem Film entnommen schien.

Zur Weihnachtsfeier der Schule kam er ihr näher. An diesem Abend sah Vera nicht aus wie sonst. Sie trug ein blaues Kostüm. Royalblau. Ihre Frisur war ziemlich mondän und sie wirkte älter als an jedem normalen Tag. Er wusste, wie lange er es aushielt, nichts zu sagen, nichts zu tun und nichts zu bemerken. Vera saß neben ihm und redete leise über die missratene Neun B. Sie saß so nah bei ihm, dass er ihre Wärme spürte. Trotzdem war da ein Gefühl, das er nicht wollte und das ihn doch überkam: Warum redet die jetzt über seine Arbeit?

Freilich hat er so seine Methodik bei seiner Klasse. Manch einer im Lehrkörper nennt die Neun B schwierig. Er selbst kann nicht schlecht reden. Die Elfer sind eher schwierig. Aber seine Neuner machen keine Probleme. Nicht bei ihm. Er geht stets locker mit ihnen um, und sie nennen ihn ihren X-Man Einstein. Er findet nichts dabei, auch wenn sich manch Kollege darüber echauffiert.

»Bleib einfach cool und lass dich ein bisschen auf deren Niveau herab«, hatte er Vera geraten. Diese Erfahrungen war pädagogisch nicht zu erklären. Soweit gab er ihr recht. »Dann bring` sie dazu, über sich selbst nachzudenken. «

»Deine Neun … über sich selbst?« In das Wort deine hatte Vera eine eigentümliche Betonung gelegt.

»Zuerst schuf der liebe Gott die Idioten«, zitierte er einen seiner Sprüche, »und als er seinen Fehler bemerkte, erfand er die Schule. «

Vera wurde rot bis in die Haarwurzeln. Seine Flapsigkeit tat ihm leid.

Er, den das Leben gelehrt hat, immer auf plötzliche Veränderungen gefasst zu sein, schob seine Hand unterm Tisch zu Veras Hand. Ein Ruck ging durch ihren Körper, das war nicht zu leugnen.

»Sorry«, lächelte er. »Ich kläre gern beim ersten Mal die Fronten. «

Er sagte es so, dass man alles heraushören konnte. Alles. Aber Vera hörte nur, was sie wollte.

»Mathematisch oder sportlich? « Auf ihrem Gesicht lag ein seltsam dünnes Lächeln.

»Genau in dieser Reihenfolge«, grinste er und fügte wie beiläufig einen seiner Sprüche nach: »Der Wert einer Leistung liegt im Geleisteten. «

»Einstein«, spuckte sie aus, und das war deutlich abwertend, sofern nicht neidisch.

»Richtig, Einstein. Aber es gibt auch ganz passable für den Deutschunterricht. « Er musste nicht lange überlegen: »Geil ist kein ganzer Satz, geil ist ein halber Zustand. «

»Aus deinem Mund klingt alles wie Nachhilfe in Sexualkunde. «

»Bingo! «

Diese Art Gespräch gefiel ihm nicht. Was kümmerte es ihn, ob die Schüler auch mal geil sagten. Das war nicht sein Thema. Die jugendliche Trägheit zu überwinden, das war sein Thema: Bewegung bremst Aggression. Geistige Bewegung eingeschlossen. Das kleine Einmaleins ohne einen Taschenrechner. Und der Sport. Er meint Beweglichkeit, nicht Aktionismus und keine der Übertreibungen dieser Zeit, die mit Sport nichts gemein haben.

Er kann sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben große Pläne gemacht zu haben. Alles ist einfach so gekommen, wie es ist.

Veras Wendung inbegriffen. Sie war zu dieser Verabredung gekommen. Er gab sich locker. Seine Blicke wanderten ungeniert über ihren Körper, wie die Scheinwerfer der Disco über den Himmel strichen und an den Wolken verzagten. Seine Wolken waren Textilien, die ihren Körper bis zum Hals verhüllten.

Sie saßen in einer Bar, hoben die Gläser und tranken einander zu. Er spürte genau, dass auch sie unruhig war, dass auch sie etwas zu sagen beabsichtigte. Fürs Erste musste er seine Antennen ausrichten. Vera war schwer zu durchschauen. Irgendwie brachte sie die Kälte aus der Schule mit in diese Kneipe, mit in seine Pläne. Zuerst begriff er gar nicht, was ihr spitzer Mund so eisig zu ihm herüber wehte:

»Du fischst in fremden Gewässern.«

War das eine Frage? Eine Warnung? Ist sie nicht mehr frei? Verdammt.

Ihre doppelt geschwungenen Brauen rutschten zur Nasenwurzel hin. Das sah nicht liebenswert aus, eher diabolisch. Ihr Brustkorb senkte sich, als falle eine ganz bestimmte Last heraus.

»Warum hast du dieses Trink-Projekt ausgesucht?« Das Wort Projekt hat sie herausgespuckt wie Sauermilch, ehe ihre Augen lauerten. »Komasaufen hat weder mit Sport noch mit Mathematik zu tun? « Vera lehnte sich zurück. Befreit. Gelangweilt? Sie schnippte mit den rotlackierten Fingernägeln irgendetwas von ihrem Kragen. Angewidert?

Abgesehen davon, dass auf ihrem Kragen nichts war, verschlug ihm eine Erkenntnis die Sprache: Wenn Vera sein Experiment verreißt, hatte er ein Problem. Er wusste schon damals von den verknöcherten Ansichten im Kollegium. Er weiß nur bis heute nicht, von wem sie am Leben gehalten werden.

»Wer sich auf Teufel komm raus betrinken will, der wird es nun erst recht tun. Man sollte vielmehr rigide gegen jede Art Kontakt der Jugend mit Alkohol vorgehen. «

»Das ist kleinkarierte Gewissensbefriedigung«, winkte er ab. »Das ändert nichts an der Tatsache. « Warum fiel ihm erst jetzt auf, wie teuflisch Vera aussehen konnte. Er redete schnell weiter, um sich von diesem Gefühl zu befreien. »Alkohol gehört zur Kultur des Abendlandes. Und in dieser Gesellschaft ist er ein gewinnträchtiges Verbrauchsgut. Hier liegen die Ursachen, die keiner beheben wird. Keiner. «

Klar, dass man bisweilen mit dem Finger auf die jungen Familien zeigt. Ganz unrecht hat niemand. Solange es normal ist, dass Eltern zum Abendessen täglich Bier oder Wein trinken, solange sie den Kindern das Gefühl geben, bei Frust muss man sich einen einschenken, solange ein volles Glas als Belohnung gilt, solange erkennt das Kind den Alkohol als Problemlöser an. Es gibt kaum eine Geselligkeit ohne Alkohol.

Trotzdem sind viele elterliche Sorgen auch seine. Das Komasaufen nimmt überhand. Es gibt keine Strategien. Nirgendwo. Es gibt kaum Wege der Kontrolle. Bingedrinking, Flatrate in der Disco, Tequila bis zum Exzess, und das beileibe nicht nur von Kindern aus sozial schwachem Umfeld.

Sein Experiment ist besser geeignet als tausend Verbote und hundert Gesetze. Warum also sollte er vor Vera klein beigeben.

»Falls dir da etwas entgangen ist«, versuchte er es noch einmal, wenn auch lakonisch. »Dieses Projekt ist eine anerkannte Prävention, entwickelt im Auftrag der Landesregierung. «

»Was hast du mit dem Ministerium zu schaffen?« Veras Frage blies eine Menge heiße Luft mit sich fort.

Noch heute gesteht er sich ein, selbst nicht genau zu wissen, warum er einen Stein im Brett bei Sellinger hat. Sellinger hatte zwei kluge Menschen beauftragt, das Projekt praxistauglich zu entwickeln. Ist Sellinger in der Klemme, weil die Umsetzung stagniert?

Immerhin war es Sellinger höchstpersönlich, der die Medien informiert hat. Das Fernsehen.

»Mein Projekt ist nicht schlechter als deines«, keifte Vera. »Ich bekomme diese Aufmerksamkeit nicht, weil keiner den Wert erkennt …«

Vera erging sich in der Schilderung diverser Vorteile ihres Sprachprojekts für Schule und Beruf, für Staat und Wirtschaft. Wenn er ehrlich ist, liegt Veras Projekt in der Tat auf ähnlicher Ebene. Die Jugendsprache - eine andere Art von Entgleisung.

Er grinste sie an und sagte beiläufig: »Shakespeare – voll geil. Die Klasse hat mir davon erzählt. «

Vera trank hastig einen Schluck. So musste sie zunächst keine Meinung haben. Doch ihr Wesen kam gar nicht umhin:

»Shakespeare! Als ob es nur um Shakespeare geht. «

Die Jugendsprache im Deutschunterricht zu analysieren war eine prima Sache. Es konnte nicht schaden, wenn die Schüler eine Reflexion davon bekamen, was ihre Sprache vom Hochdeutsch entfernte, auch wenn es an ihrer Schule nicht gar so drastisch war mit dem Jargon. Bisweilen, wenn man die Ohren spitzte, regierte auf der Straße sehr wohl das Abgleiten bis zur Fäkalsprache. Bisweilen vergriff auch er sich an den lässigen Worten der Jugend. Oder nachlässigen? Bislang erklärt kein Experte der Welt, ob die Jugend einen fälligen Sprachwandel anschiebt, oder den fatalen Untergang der zivilen Sprachkultur einläutet.

Inzwischen verstand er Veras Aufstand als Versuch, die ihr zustehende Beachtung einzufordern.

»Du willst dich profilieren«, zischte sie plötzlich, und aus ihren Augen funkelte etwas, was nicht zu seinen Plänen für diesen Abend passte.

»Bei deinem Ruf verständlich. « Sie zog die Mundwinkel nach unten und schob etwas über ihre Lippen, was nach schlechter Laune roch: »Aber wenn es zulasten der Schüler geht, werde ich einzuschreiten wissen. «

Er trank einen Schluck, setzte das Glas zurück auf den Tisch und versuchte, seine Lage nicht peinlich werden zu lassen.

»Zugegeben. Die Sache mit dem Alkohol und dem Jugendjargon liegt auf ähnlichem Level. Alkohol kann in seiner Wirkung für den Einzelnen bitterer werden. «

Er prostete ihr zu - ein verteufeltes Ritual, sein Gegenüber aufzufordern, es ihm gleich zu tun. Dabei fiel ihm ein, dass alles, was er über Vera wusste, auf einem Bierdeckel Platz finden würde, wenn er es aufschreiben müsste.

Dann beugte er sich eine Winzigkeit näher zu ihr.

»Wenn ich bedenke, wie wichtig es ist, richtig auszudrücken, was man meint …«

»Und? Was meinen der Herr Pädagoge? «

Vera blieb trotz seiner Zote kalt und unnahbar und ihm schwante, dass er sich in etwas verrannt hatte. Also blieb er sachlich.

»Die Verführung schlecht hin. Wie kann man Schüler dazu bringen, den Straßen-Trends zu widerstehen? Man muss sich ernsthaft Gedanken machen. Etwa fünfzehn Prozent kommen mit den Anforderungen nicht zurecht. Kein Wunder also, dass sie …«

»Wir haben Wahlfreiheit«, unterbrach sie ihn forsch. »Es gibt Schulen mit weniger Anforderungsprofil.« Vera spitzte ihren Mund und fixierte ihn, feindselig, immer hellwach, immer auf dem Sprung, ihm erneut ins Wort zu fallen.

Er lehnte sich weit zurück: »Die Erwartungen der Gesellschaft sind hoch. Die der Eltern inbegriffen. Ich denke sogar, unter Gleichaltrigen haben sie noch schlechtere Argumente gegen ihr Versagen. Sie finden keinen Schuldigen außer sich selbst, wenn sie nicht mithalten können. Der Druck nimmt zu. « Er hob sein Glas und grinste ganz unpassend. »Um mal wieder runter zu kommen, ist Alkohol eine wunderbare Sache. Warum sollte die Jugend anders denken als wir? Prost! «

Gute Freunde hätten seine Art Selbstironie erkannt. Vera nicht. Ihre Lippen schoben sich vor, als schmollte sie. Für dieses kindliche Bild klangen ihre Worte ungewohnt barsch.

»Die Jugend muss lernen, sich an die Normen der Gesellschaft zu halten. «

Welche gesellschaftliche Norm der Alkohol einnahm, wollte er nicht erörtern, aber im Provozieren stand er ihr nicht nach: »„Hat die Schule dafür keinen Lehrauftrag? «

»Zum Alkoholtrinken ganz bestimmt nicht, für gute Sprache aber schon.«

Wer kannte diese Sätze nicht. Er winkte ab, eine Geste, die Vera durchaus missdeuten konnte.

»Dafür gibt es Gesetze …«, wehrte sie sich, weil er noch damit beschäftigt war, ein bisschen Genugtuung aus ihrer Empörung zu lecken.

»Verbote waren nie eine Lösung, sie verlagern das Problem nur«, sagte er, obwohl er wusste, dass kein einziges Wort noch dem Sinn des Abends genügte. »Wer aus eigener Unwissenheit sein Schlupfloch finden will, der findet es. Die Gesellschaft hat versagt. Und man weiß es, ist aber nicht willens, nach neuen Wegen zu suchen. «

»Aber du?«, herrschte Vera ihn an.

»Der Wille allein versetzt keine Berge. « So ruhig er sich gab, so unruhig scharrten seine Füße auf dem Boden unterm Tisch.

»Du willst mir doch nicht weismachen, selbst von der Sache überzeugt zu sein? « Jeder kannte Veras fragende Behauptungen und auch Sätze, wie der folgende, waren legendär: »Die meisten Menschen behaupten sich nicht, weil sie von etwas überzeugt sind, sondern weil sie behauptet haben, von etwas überzeugt zu sein. «

Er blieb ruhig. Das gab ihr wohl das Gefühl, er habe kein halbwegs vernünftiges Argument mehr. Ihre Stimme wurde umso beherrschender.

»Willst du noch mehr Porzellan zerschlagen? Merkst du eigentlich, wo du inzwischen stehst? Beim Kollegium wie bei den Eltern. «

Freilich wusste er längst, wie man gegen ihn schoss. In diesem Moment aber schien Vera zu spüren, wie untauglich ihre Angriffe waren.

»Wer gute Argumente hat …«, seine Stimme klang, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen. »Der kann auch mal gegen den Strom schwimmen. Ich komme damit klar. «

Jeder im Kollegium wusste es, keiner sprach es aus. Vera Hensel war die Konsequenz in Person, selbstsicher und unantastbar. Nur bei der Obrigkeit schleimte sie ständig. Offenbar hatte sie ihn sofort verstanden.

»Kannst du eigentlich auch ein netter Mensch sein?«, fauchte sie mit selbstgerechter Stimme. Ihre Hand, die das Glas anhob, gab dem geschminkten, aber bebenden Mund Deckung.

In diesem Moment wurde sein Blick glasklar, dafür überwog der Selbstzweifel. Er hasste so dick geschminkte Lippen. Und er hätte sich schwer getan, sie auch nur flüchtig zu küssen. Mit einem Ruck überwand er das letzte bisschen Taktgefühl, das ihm anerzogen war. Vielleicht ein halbes Dezibel lauter als gewollt, vielleicht mit unkontrolliertem Zorn quoll es aus ihm heraus:

»Wer oft mal in den Fettnapf tritt, leckt meistens keinen Speichel. «

Die Röte in Veras Gesicht nahm zu. Schlagartig. Gegen ihr Bestreben.

»Du bist ein solcher Mistkerl, Jan Stein. Glaubst du wirklich, diesem Schwachsinn von Experiment wird auch nur ein einziger Mensch zustimmen. Auch wenn du jeden Einzelnen in diese Kneipe schleppst und freihältst …«

Die Stuhlbeine kratzten über das Parkett, ein Zehn-Euro-Schein flog auf den Tisch. Hastige Schritte durchquerten die Bar, die Tür schlug hart zurück und er saß da wie der letzte Idiot im Blitzgewitter hämischer Blicke ringsum.

Sein Leben war nicht von Frauen und Sexaffären bestimmt. Aber er hatte auch mal Affären mit Frauen. Es gab in seinem Leben durchaus Zeiten, wo er verliebt war. Doch das waren jene, wo er reihenweise in Minenfelder trat. Wohl deshalb blieben zwei Dinge für sein Leben entscheidend. Ungelobt zu arbeiten. Und ungeliebt zu leben. Beides war niederschmetternd.

Die Blamage, Vera zu folgen, wollte er sich nicht geben, obwohl ihm das Sitzen am Tisch so ganz allein gar nicht behagte. Er schaute sich um. Kein annähernd bekanntes Gesicht in diesem Laden. An der Wand saßen zwei Frauen, die seit Veras Abgang verführerische Blicke herüber blitzen ließen. Nichts für ihn. Zu eingefärbt.

Sein Tag war lang gewesen, und er hatte keine Lust, länger über Frauen nachzudenken.

Im Dunst des Abends lümmelten ein paar junge Leute am Tresen. Kids aus der Stadt. Sie tranken im Stehen aus halb hohen Gläsern. Nur einer – der jüngste - trank Bier.

»Wie geht’s so? «, fragte er einen rothaarigen Jungen.

»Es geht nicht, Alder. Es haut rein wie du siehst. «

»Läuft aldi«, sagte sein Nebenmann, als müsste er eine Bresche für den anderen schlagen.

»Und du? Läufst du auch noch aldi. « Er glaubte das Wort zu kennen, das auch seine Schüler für bestens benutzten, aber sicher war er sich nicht.

»Bluff nicht so΄n Affenschrott …«

Man rempelte ihn, aber die Augen der Jungen sprachen alles auf einmal aus, was ihm seit Langem auf der Seele brannte.

Er legte einen Schein auf den Tresen und zeigte mit knapper Geste auf den Tisch, wo bereits wieder jemand Platz genommen hatte.

»Siebzehn fuffzig«, zischte der Mann durch die Zähne.

»Stimmt so«, sagte Jan. Mit schrägem Nicken auf die Kerle, von denen zwei noch minderjährig schienen, fragte er den Barkeeper:

»Muss das sein? Die sind noch nicht sechzehn. «

Der Mann zog den Kopf seitlich zu dem Jungen mit dem Bierglas in der Hand.

»Der da war auch noch nicht dabei, als bestellt wurde. Ich bin kein Helleseher und die Polizei bin ich auch nicht. «

»Aber Sie kennen die Gesetze? «

Der Mann schwieg und zapfte drei Biere.

»Haben Sie Kinder? «

Der Mann schwieg weiter, dafür redeten die Jungen alle durcheinander. Sie hatten längst mitbekommen, worum es ging.

»He, nudel hier nicht rum, geh abschimmeln. «

Wie zufällig rempelte ihn ein Hüne, der grundlos an den Tresen drängte. Alle lachten laut. Ein anderer hinter seinem Rücken redete im selben Jargon:

»Man ey, hast ΄n Clown gefrühstückt? Drück deine Peanuts ab und schwirr los. Bergdrossel! «

Der älteste der Gruppe maulte, dass diese Advokatenzöglinge schuld seien, wenn der Jugend der Spaß abgehe. Der Jackenkragen dieses Kerls kam ihm gerade recht, um zuzufassen - zugegeben, für einen Lehrer ziemlich gefährlich.

»Niemand hat etwas gegen Spaß, klar? Ihr sollt ihn haben. Aber so mancher Spaß hat etwas gegen euer Leben …«

Durch seinen Kopf raste blitzschnell der Sinn seines Projektes: Es ging vorerst nicht darum, die Jungen vor der Abhängigkeit zu bewahren. Es ging darum, sie vor körperlichen Schäden durch Unfälle, Schlägereien sexuelle Übergriffe zu bewahren, und vor dem Tod …

Die Tür ging auf und es strömten Leute herein, drängten sich um den Tresen und redeten lauthals durcheinander. Beim Gehen hörte er den Jüngsten aus der Gruppe sagen: »Den ham ´wa ausgetaktet.«

Auf seinem Weg durch die nächtliche Stadt musste er lange nachdenken, ehe ihm ein Abend mit Freunden einfiel, an dem kein Alkohol geflossen war. Er fragt sich nicht mehr, wie man der deutschen Kultur Herr werden kann. Wäre er nicht hinter Vera her gewesen, hätten diese Jungen vor ihm und vermutlich jedermann ihre Ruhe gehabt.

Der den Teufel weckt

Подняться наверх