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Schulalltag

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Am riesigen Stundenplan ein gelber Chip bedeutete für ihn: Mathematik in seiner Neun B. Er bahnte sich den Weg zum Klassenraum, oben im Westflügel. Das Gewühl der umziehenden Schüler in die Fachkabinette und das Stimmengewirr - das tiefe der Jungen und das kreischende der Mädchen - waren Musik in seinen Ohren. Es störte ihn nie. Heute aber gab es deutliche Anzeichen einer Veränderung. Ihm schien, als schauten die Vorbeiziehenden lauernd zu ihm. Bisweilen glaubte er, Hände vor die Münder huschen zu sehen, wenn man ihn kommen sah.

Er ging in langen Schritten den Flur entlang. Der Geruch von Farbe stand noch in den Gängen und im Treppenhaus. Im letzten Sommer war die Schule renoviert worden. Es war höchste Zeit. Durch die Fenster hatte es gezogen und die Fußböden waren marode, die Wände abgenutzt. Auch brauchte es moderne Schließfächer für die persönlichen Dinge der Schüler, die sich jetzt - ein wenig zu bunt für seinen Geschmack - an den Wänden der Gänge entlang zogen. Schon im ersten Winter war der Sinn der Investition deutlich spürbar geworden.

Er hörte einige Schüler direkt hinter sich. Sie stiegen plaudernd die Stufen hinauf und kamen mit langen, schlurfenden Schritten den blank gewischten Gang entlang. Es war ein schöner Tag. Trotzdem trugen einige Jungen Pullover mit Kapuzen, die sie über die Köpfe gezogen hatten. Bei anderen hing der Hosenboden bis tief unter das Gesäß. Zu tief.

»Guten Morgen«, hob sich eine Stimme deutlich heraus.

»Hallo Pattrick«, erwiderte er. »Wieder gesund? «

»Äh? War icke krank? Das wüsst´ ick aber. «

Er gab sich geschlagen. Immerhin lag eine anderslautende Entschuldigung vor. Aber Volker Brauer wusste von der Sache. Pattrick war sturzbetrunken nachts im Club. Pattricks Freunde hatten den Notdienst holen müssen. Nur wegen der Kälte, wie sie sagten. Pattricks Eltern, die noch niemals die Schule aufgesucht hatten, glaubten offenbar an das Märchen vom Burnout ihres Sohnes. Vielleicht gab es diesen zwingenden Arztbesuch sogar?

Bei den Mädchen passierte so etwas noch höchst selten. Gottlob.

Es störte ihn, von Pattricks Absturz zu wissen und zugleich nicht die Wahrheit zu kennen. Außerdem war es ihm lieber, seine Schüler allein nach der Leistung zu beurteilen. Diesen Pattrick Lörmann kannte er noch nicht sehr gut. Er war erst in diesem Schuljahr an das Heine-Gymnasium gekommen. Er schätzte aber, Pattrick würde nicht über den Durchschnitt kommen. Seine Schüler sollten nicht büffeln, schon gar nicht auswendig lernen. Verstehen, das war es, was blieb. Und den Respekt vor der Leistung durften sie nicht verlieren. Das war gar nicht mehr selbstverständlich.

Bei Klassenarbeiten drückte er sogar ein Auge zu, wenn er spürte, dass sich jemand ehrlich abmühte. Es gab seit den Plagiats-Affären einiger Minister keine vernünftigen Argumente mehr gegen eine kleine Schummelei. Seine Schüler schrieben keine Forschungsarbeiten, und wenn einer einen Spickzettel hat, dann hat er sich mit der Sache beschäftigt. Die Aufgaben konnte keiner kennen. Und das Rechnen nach den gespickten Formeln blieb letztlich auch keinem erspart.

Das Geheimnis der Kreativität ist es, seine Quellen zu verstecken wissen.

So gesehen hatte auch Einstein diverse Quellen nötig?

Vor der Tür des Unterrichtsraumes stand Vera Hensel mit einer fremden Dame.

»Irre ich mich? Ich denke, hier ist jetzt meine Unterrichtsstunde. «

»Ganz richtig«, funkelte Vera Hensel ihn an. »Darf ich dir Frau Rohloff vorstellen. Sie ist Schulpsychologin und möchte gerne einmal deinen Unterricht miterleben. «

»Unangemeldet? «

Die Blicke der fremden Frau huschten zu Vera Hensel. »Da bin ich jetzt etwas … wäre eine Anmeldung nötig gewesen? «

»Das kommt auf den Sinn der Sache an«, erwiderte er. Wenn Sie sich ruhig verhalten, dürfen Sie gerne hospitieren. Ich habe eine Klassenarbeit vorschriftsmäßig angemeldet. «

Die Frau zog die Schultern an: »Das war in der Tat nicht meine Absicht. «

Er grinste bei dem Auf und Ab in den Worten, was die Frau zu einer Erklärung animierte.

»Frau Hensel hat mir von … von Ihrer Umgangsform berichtet. Ich denke, gewisse Methoden darf man durchaus hinterfragen. «

Hinterfragen? Klingt wie hinter die Kulissen schauen.

Er vollführte eine knappe Geste mit der Hand in Richtung Tür, lächelte seine aufkeimende Wut hinunter und grinste am verblüfften Gesicht von Vera Hensel vorbei:

»Hinterfragen Sie. Bitte. Ich habe kein Problem mit unverhofftem Damenbesuch. Aber ich ändere meinen Plan nicht. Die Kurzarbeit dauert so an die zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. «

Das war vermutlich ungalant, aber in diesem Moment war ihm klar: Vera versuchte mit allen Mitteln, ihn bloßzustellen. Vielleicht wollte sie beweisen, dass aus ihrem Projekt Jugendsprache nichts werden konnte, wenn es Lehrer wie ihn gab, die nicht konsequent gegen Sprachverfehlungen intervenierten. Warum hätte er mit Vera darüber reden sollen. Niemand interveniert erfolgreich gegen den Jugendjargon. In der ganzen Gesellschaft nicht. Im Gegenteil. Es gibt schon eine Industrie, die davon profitiert. Ganze Lexika der Jugendsprache werden erstellt. Man kann sich seinen Reim darauf machen: Ausdruck des Wandels der Sprache? Oder Beweis der Wendigkeit der Verlagsindustrie?

Hol ΄s der Teufel.

Seine lockere Umgangsform mit den oberen Klassen ist nichts für Veras Verständnis von Respekt vor dem Lehrer, und er ahnt, wie stierernst sie seine Worte genommen hat. Vera Hensel - der nichts über ein ausgefeiltes, gestochenes Hochdeutsch geht - mussten cool Sprüche und heiße Kopfnüsse nach Verfehlung klingen. Er hat aufgehört, sich über die Ausdrucksform der Schüler aufzuregen. Er erwartet auch nicht, dass sie ihm zuliebe gekünstelt sprechen. In seinen Stunden geben sie sich immerhin Mühe. Bis jetzt. Das ist ihre Art von Respekt.

An diesem Tag hatte sich ein falscher Ton bei der Klasse eingeschlichen. Es musste etwas passiert sein, was er nicht durchschaute. Von Mühe keine Spur. Die Schüler wollten gar nicht reden, solange diese prickelnde Spannung im Raum stand. Sie hatten sensible Antenne und spürten, dass zwischen ihm und Vera Hensel etwas nicht stimmte.

Vielleicht lief der Film ganz automatisch ab? Wenn man stereotype Bilder sieht, beginnt stereotypes Verhalten. Waren sie bei Vera Hensel vielleicht bewusst aufsässig? Besonders in sprachlicher Hinsicht?

Er verteilte zwei Arbeitsblätter, auf denen die Aufgaben standen. Zuerst eine einfache mit einer grafischen Abbildung - zum Aufwärmen:

In einem Spalt der Breite d=12 cm sitzt eine Kugel mit dem Radius r = 7 cm fest. Wie tief steckt die Kugel im Spalt?

Mit geneigten Köpfen saßen sie da, lustlos, beinahe feindselig.

Was er an jedem anderen Tag tat, musste er heute lassen. Er warf keine Kreide zwischen zwei über die Bank Lümmelnden. Er verteilte keine Kopfnuss, wenn einer partout nicht nachdenken wollte. Er gab nur vorsichtige Signale und er hoffte, dass sie seine Lage begriffen.

Wie stets hatte er Ersatzaufgaben in der Tasche. Flexibilität war seine Art, das Ruder zu drehen, wenn das Schiff zu schaukeln begann. Aber zwei der Textaufgaben reizten ihn, gerade wegen der hospitierenden Frauen. Er entschied sich für eine davon und damit kam etwas Erheiterung in die Gemüter.

Eine Firma versendet 90-prozentigen Alkohol. Beim Transport eines 140 Liter-Fasses wurde unterwegs Alkohol entnommen und durch Wasser ersetzt. Bei der Ankunft enthielt das Fass nur noch 75 Prozent Alkohol. Wie viel Alkohol wurde unterwegs abgezapft?

Es gab wie immer ein Drittel, die sofort loslegten, und es gab stets das andere Drittel, dem es wie den beiden Frauen auf der hinteren Bank ging. Der Rest versuchte auf seine Weise, zu einem Aha-Effekt zu kommen. Ihre Methoden gingen ihn nichts an. Allein das Ergebnis zählte.

»Mein Laufwerk spinnt grade, Herr Stein. Ich schnall das nicht«, raunte ein Junge in der letzten Bank. Er saß ganz hinten, weil er ein bulliger Typ war, groß und kräftig zugleich. Kaum zu glauben, dass er zu den Neunern gehörte. Das Mädchen neben ihm stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite und schob das eigene Arbeitsblatt weiter zur Mitte hin.

Wie zufällig lief er um die Bank herum, zog wortlos das Blatt des Mädchens wieder zurück und stellten sich hinter den Jungen:

»Dein Laufwerk spinnt in letzter Zeit oft. Das ist Stoff der letzten Wochen. Was hättest du den lieber? «

Gegen das Raunen und Füßescharren hob der Junge seine Stimme:

» Ich wäre lieber dabei gewesen, als die das Fass …«

»Mir scheint, du warst dabei. Sonst hättest du längst den läppischen Dreisatz aufgestellt. Dreisatz und indirekte Proportionalität haben wir bis zum Erbrechen geübt. Also hoppeldipoppel.«

Ein Grinsen ging durch die Reihen. Es gab diejenigen, die seinen Wink sofort kapierten und endlich loslegten. Und es gab die anderen, die viel lieber sein unkorrektes Wort berichtigten: »Hoppeldihopp«. So sagen sie wohl, wenn sie unter sich sind.

Vera Hensel und diese Erika Rohloff redeten leise miteinander. Anlass für noch einen kleinen Tipp:

»Wer nicht gerne nachdenkt, sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Spickzettel sortieren. Nur Idioten müssen Ordnung halten. Letzteres hat wer gesagt? «

»Einstein«, kam wie aus einem Munde.

»Bingo. «

Keine Frage. Er weiß natürlich, dass Spickzettel längst out sind. Auf und unter den Tischen haben längst Smartphons Einzug in den Schulalltag gehalten.

Ohne zur hinteren Bank zu blicken, roch er förmlich, wie Vera Hensel den letzten Sauerstoff verschluckte, den der Raum noch hergab. Die Psychologin registrierte die nebengelagerte Entrüstung, blieb aber weiterhin teilnahmslos.

»Ohne Gehirnprothese ist Mathe die Folter«, maulte Torben Meyer, den sie wegen seiner Igelstoppeln Kaktus nannten und der das lieber hörte als seinen Vornamen. Verständlich. Torben raufte sich die ganze Zeit die Haare, aus Gewohnheit. Sogar im Sportunterricht kurz vor dem Anlauf zum Pferdsprung hatte er die Geste bei dem Jungen schon bemerkt, der stets eine Klage folgte. Auch in diesem Moment: »Wer soll aus dem Wirrwarr schlau werden? «

»Raff dich! « Rüde checkte ihn der Ellenboden seines Nachbarn, der zweifellos zum ersten Drittel seiner heimlichen Klassifikation gehörte. Und obendrein bekam Kaktus die einzige sanfte Kopfnuss der Stunde, die er mit markigen Worten garnierte. »Weisheit ist nicht das Ergebnis der Schulbildung, sondern des lebenslangen Versuches, sie zu erwerben. Das hat auch Einstein gesagt. «

»Ohne Scheiß? «, murmelte Torben. »Ich meine, das von der Ordnung auch?«

»Express-Checker. Man. Nur das Genie beherrscht das Chaos! Schon vergessen? «

»Schluss jetzt. Rüben anstrengen und los! «

»Einstein. Der war echt beleuchtet«, kicherte Torbens Nachbar, der sich noch nicht mit seiner Lage zufrieden geben wollte.

»Intelligent meinst du?« Sein Grinsen galt der hinteren Bank.

»Klaro. «

»Auch Einstein hatte seine Probleme, wenn er zu seinem Sohn sagte: Mach dir keine Sorgen wegen deiner Probleme in Mathematik. Ich kann dir versichern, dass meine viel größer sind. Und wenn Einstein das sagt, dann waren sie größer …«

»Einstein hatte ΄n Ableger? «

»Relativ zwei. Theoretisch sogar drei. «

Der bullige Maik Gerber in der letzten Bank schob das Kontrollblatt von sich weg und stöhnte:

»Ohne Scheiß, Herr Stein, bei der Abschluss-Prüfung brauche ich ΄ne Hirnprothese, sonst muss ich voll abkacken. «

»Wenn du den Damen auf der hinteren Bank einen Gefallen tun könntest, das Ganze noch einmal in Deutsch bitte. «

Die Hälfte der Schüler kicherte. Einige drehten sich verstohlen um, andere senkten ihre Köpfe tief über die Arbeiten und nutzten die Unruhe, um beim Nachbarn zu spicken.

»Sie sind unser X-Man und nicht die …«, er verdrehte seinen Kopf nach hinten, seine Augen folgten der Richtung nicht, »… aus der Savanne. «

Respektloser ging es kaum. Es ärgerte ihn aber sein Ziel hieß Kurztest und das durfte er nicht gefährden, auch nicht mit dringend nötigen Moralpredigten. Die Schüler kennen ihre Rechte besser als ihre Pflichten.

Sein Ton wurde energisch: »Seit wann gibt es diese Verbalflatulenzen im Unterricht! «

Er sah, wie Vera Hensels Gesicht u einer sonnenumfluteten Savanne glich. Sein innerer Frieden mit Maik war auf kuriose Weise besiegelt, laut sagte er: »Wir reden nachher noch einmal darüber. Jetzt macht hin. Es ist nicht meine Zeit, die ihr vergeudet. «

Im Handumdrehen bekam das Stöhnen in den Bänken wieder die Oberhand. Das kleine Jauchzen in seiner Brust nahm langsam Überhand.

Aus der Savanne also? Er wusste, was bei der Jugend Savanne zu bedeuten hat; Vera Hensel wusste es gewiss nicht.

Der Rest der Zeit lief ungleich schlechter. Kein Stöhnen mehr, auch kein fröhlicher Aha-Effekt. Kaum einer glaubte noch, die richtigen Lösungen gefunden zu haben. Es war seine Schuld. Kein einziges Mal mehr hat er versucht, die Verkrampfung der Geister zu lösen. Manchmal half ein cooler Spruch, mal ein versteckter Hinweis auf eine Formel, einen Lösungsansatz. Wer um die Ecke denken konnte, dankte es ihm mit seiner Achtung. Die Klasse hatte Achtung vor ihm. Ihre Art Achtung.

Warum hatte Maik seinen Tipp auf den Dreisatz nicht richtig gedeutet. Warum erheiterten die Worte so sehr? Sie alle wussten längst, dass Maik Gerber heimlich trank. Und nur das hatten sie herausgehört. Vielleicht aber waren sie ebenso wenig locker wie er an diesem Morgen. Manchmal glaubten die Schüler, da hinten säßen die Hospitierenden allein ihretwegen. Er konnte ihnen schlecht sagen, warum die Damen hospitierten. Er hat es selbst nicht verstanden. ◄

Bis zu dieser tristen Stunde des Wartens auf dem ungastlichen Klinikflur ist ihm Veras Absicht nebulös geblieben.

►Als alle Arbeiten auf dem Lehrertisch lagen, kam ihm die Idee, die Willkür nicht hinzunehmen.

»Frau Hensel und Frau Rohloff sitzen nicht von ungefähr in dieser Klasse. Es gab da eine Beschwerde. Die Neun B sei schwierig …«, seine Geste zielte auf Unverständnis. »Jetzt habt ihr die Chance, Frau Hensel zu erklären, warum ihr …bei ihr … schwierig seid. «

Die Blicke der Mädchen fixierten die Tischplatten. Nur hin und wieder schielte eines auf einen der Jungen, um zu erraten, was sie zu tun gedachten. Die saßen lässig in den Bänken, nur Typen wie Leon Berger kritzelten beflissen auf ihren Blöcken herum oder kramten unruhig in ihren Utensilien. Nach minutenlangem Schweigen, das er genoss, wie sonst nie, holte er aus. Er konnte sehen, wie Vera innerlich überschäumte.

»Ach. Feige seid ihr auch. Auf spickmich ist es leichter, euren Flatus an Lehrerschelte abzulassen. «

Noch immer Schweigen, wenn auch kein starres mehr. Die Unruhe saß in den Leibern, offenbar noch nicht in den Köpfen.

»Wie soll ein Lehrer – oder eine Lehrerin – wissen, was euch nicht gefällt, wenn ihr schweigt. Wir sind alle keine Hellseher. Und glaubt nicht, dass uns die Interessen unserer Schüler kalt lassen. «

»Einigen schon«, maulte Tim Hobeck, der rasch noch seine vordere Haarsträhne einseitig vor das linke Auge zog. Er hasste diese Frisuren, die so gar nichts Männliches hatten. Bei den Mädchen waren sie schlimm genug. Irgendwann würde diese Generation dem schielenden Opossum Heidi Konkurrenz machen.

»Na ja, Herr Stein«, bequemte sich Torben Meyer, der viel zu naiv ist, um der Wahrheit einen rosigen Anstrich zu geben. »Es ist zum Beispiel bei Frau Hensel nicht so interessant wie bei Ihnen. «

»Und warum. Was sollte anders sein? «

»Schon dieses Pokerface. « Kaktus drehte sich rasch nach hinten um, zog die Schultern an und redete gegen Pattrick Lörmann gerichtet weiter: »He - das sagt ihr doch auch immer: Versteinert wie die Sphinx. Kein Lachen. Kein einziger Witz …Und diese grelle Stimme …«

Ab und zu hatte Vera eine ihrer Augenbrauen gehoben. Die meiste Zeit aber schien sie ungerührt. Sein Gespür sagte ihm, dass ab jetzt ein eiskalter Wind gegen ihn weht. Er hatte recht. Er hatte nur nicht bedacht: Rache steht im Lexikon vor Vergeltung.

Tage später war seine Laune wieder gut. Im Sekretariat, wo er bei der stets freundlichen Frau Bläsing war, kam ein Ehepaar zur Tür herein und stellte eine ungenaue Frage:

»Haben Sie hier einen Schulpsychologen? «

Er wusste es inzwischen, aber er musste nicht antworten. »Eigentlich … nicht direkt«, antwortete Frau Bläsing lächelnd.

»Was heißt: nicht direkt? «

»Die zuständige Schulpsychologin arbeitet für mehrere Schulen. «

»Gibt es Sprechzeiten für die Dame? «, fragte der Mann brummig.

»Sicher. «

Solange Frau Bläsing die Unterlagen suchte, war er damit beschäftigt, erste Infoblätter für das Experiment nach Themen zu sortieren. Eines davon schwebte zu Boden. Erstaunlich, dass der Mann, dessen Statur eher behäbig war, sich danach bückte. Der Mann ließ den Zettel nicht los, starrte verwundert darauf.

»Sie sind das? Und Sie haben das in der Tat vor? «, platzten die Worte des Mannes gegen seine Stirn. Anstatt es zurückzureichen, hielt der Mann das Blatt triumphierend auf seine Frau gerichtet. Irgendeine Eingebung hatte ihm die Bosheit ins Gesicht geschrieben:

»Wir schicken unsere Kinder nicht von ungefähr auf ein Gymnasium. Wir haben geglaubt, hier könnten wir sie guten Gewissens lassen. Und jetzt das! « Die Zornesröte sprang vom Gesicht des Vaters auf die Mutter über. Ihr fehlte offenbar der nötige Sauerstoff, um in das Gezeter ihres Mannes einzufallen.

Er musste sich wehren: »Bisher war nichts, was ich kenne, auf Dauer erfolgversprechend. Es zeigt sich doch ganz offensichtlich, dass Verbote im Umgang mit Alkohol bei Jugendlichen keine Wirkung haben. Wenn überhaupt, dann verlagern sie das Problem eher, als dass sie es lösen. «

Er spürte die Euphorie aufkeimen und rief sich zur Ruhe. »Kinder sammeln ihre Erfahrungen im ganz normalen Leben. Von meinen Schülern sagen siebzig Prozent, sie hätten bei ihrer Jugendweihe das erste Mal richtig einen sitzen gehabt ... «

»Jugendweihe«, brodelte es aus dem Mann. »Bei uns gibt es diese heidnische Verirrung nicht. Unser Pattrick hatte Konfirmation. «

Pattrick also. Pattrick Lörmann. Es wurde Zeit, dass die Eltern einmal kamen. Vorgestellt hatten sie sich nicht. Noch ehe er selbst seinen Namen nennen konnte, ging sein Temperament leider mit ihm durch:

»Auch bei einer Konfirmation fließt Alkohol.«

Ein bisschen spät vielleicht mischte die Frau sich ein: »Unser Pattrick trinkt nicht. Er raucht. Ja. Aber wenn alles um ihn herum raucht, wie soll er da …«

Der Fingerzeig auf ihren Mann war klar, aber der ließ nichts auf sich sitzen: »Quatsch nicht, Heike!«

Frau Lörmann hielt sich an das Verbot.

Später wusste er nicht mehr, warum er seine guten Manieren vergessen hatte. Anstatt sich jetzt den Eltern vorzustellen, musste er sich noch etwas von der Seele reden, ohne die Familie anzugreifen:

»Einer Studie zufolge konsumieren Jugendliche, die frühzeitig rauchen, auch frühzeitig Alkohol - und umgekehrt. Zumindest die über fünfzehnjährigen. Viele Eltern wollen die Probleme ihrer Kinder nicht sehen, scheuen die Auseinandersetzung. Sie glauben, dafür keine Zeit zu haben. Was aber noch schlimmer ist, die Kinder wissen gar nicht, was Alkohol anrichten kann. Nicht einmal die sofortigen Folgen sind ihnen klar. Deshalb will ich …wollen wir andere Wege gehen …«

»Sie mögen ja ein kluges Kerlchen sein, Herr ... «

»Stein. Jan Stein. Ich bin Pattricks Klassenlehrer. «

Herr Lörmann vollzog einen Schwung seiner Hand, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. Aber es gab in diesem Winter keine Fliegen. In keinem Winter …

»Herr Stein also. Dann ahnt man ja, was Ihre Beliebtheit ausmacht. Statt Vorbild zu sein, wecken Sie den Teufel in unseren Kindern. «

Er kam sich vor, als redete er gerade mit einem Schüler, der partout nichts lernen wollte. Den Sohn dieser Leute hatte er bereits als einen von der Sorte kennen gelernt, der Alkohol als größten Spaß des Lebens pries. Es drängte ihn, sich umzudrehen und einfach zu gehen. Aber das verbot er sich. Er hätte den Leuten zu gerne sagen wollen, dass Pattrick längst den Teufel im Leib hat. Er glaubte sogar, Pattrick habe so manch einen mit seiner Erfahrung beeinflusst, er kann der Wirkung von Alkohol trotzen, wenn er will. Er sagte es diesen Leuten nicht. Wer wütend ist, sollte gar nicht reden. Was aber taugen guten Vorsätze gegen schlechte Absichten?

»Wenn Sie glauben, Ihr Sohn ist ausreichend auf die Gefahr eingestellt, wo liegt dann Ihr Problem? Wir zwingen keinen Schüler an diesem Experiment teilzunehmen. Wir erwarten sogar die Einwilligung der Eltern. «

»Sie erwarten also? Wissen Sie, was wir erwarten …? « Der Mann schnappte nach Luft und schob seine gut gefüllte Körperwölbung um einiges nach vorn.

»Wir erwarten, dass Sie diesen Blödsinn sofort lassen. « Dann schickte er sich an zu gehen, als ihm noch etwas Gewichtiges einfiel: »Und wenn niemand der Eltern reagiert, wir sind agieren gewöhnt. «

Was diesen Vater betraf, mochte das stimmen. Das wir indes war überflüssig. Seine Frau hatte kein Wort mehr dazu gesagt. Offenbar war sie nur Staffage für den Herrn, dessen Position er damals nicht kannte.

Klar war ihm nur, diese Leute waren nicht zufällig hier. Sie hatten genaue Informationen …◄

Der den Teufel weckt

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