Читать книгу Der den Teufel weckt - Maxi Hill - Страница 11
Gute und schlechte Gedanken
ОглавлениеDer März war grau. Gleichmäßig trübe lag der Himmel über der Stadt. Die nackten Bäume froren erneut nach den ersten warmen Tagen. Sie zogen vorwitzige Knospen zurück in die schützende Hülle. Trostlos und feucht der kleine Park. Empfindsame Menschen trugen schwer an diesem Wetter.
Leichtfüßig lief er über den nassen Mittelweg durch den Park. Sein Anorak glänzte vom Tau des Morgens, den der Tag noch nicht verschluckt hatte. Doch das Jahr ging unaufhaltsam der Wärme zu.
Als Naturwissenschaftler glaubte er nicht an Wunder, gleichwohl ertappte er sich jährlich beim Warten auf den endlichen Sommer oder einen verlässlichen Frühling, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte.
Nah am Weg die beiden Sprechschalen, mit denen man sich über eine beachtliche Distanz etwas zuflüstern kann. Diese Schalen standen hier, seit er in der Stadt wohnte. Damals erzählten seine Eltern, welchen Sinn diese Trichter haben. Das Kind hatte diesen Sinn nicht verstanden. Da machte sein Vater die Probe aufs Exempel. Er ließ ihn vorausgehen und sagte etwas. Er hat kein Wort gehört. In großer Entfernung hob Mama klein Jan vor einen zweiten, geschlossenen Trichter.
»Froschschenkel schmecken gut«, flüsterte Vater in den Trichter mit dem Sprechloch. Auf einmal hat er alles genau verstanden, nur glauben konnte er nicht, was sein Papa da sagte.
»Gute Erfindung«, hatte Vater gemeint. »Für Experimente braucht es mutige Köpfe.«
Davon wollte er lange Zeit nichts wissen. Gegen sein Trinkexperiment war auch er anfangs skeptisch. Dabei war das Trink-Experiments nicht seine Erfindung. Es haben promovierte Leute erdacht. Es praktisch zum Ziel zu führen, das wird sein Verdienst werden. Aber was hat er angesichts dauernder Niederlagen davon? Wie schön war es da, ein Kind zu sein.
Wenn er die Augen schloss, war da ein schöner Park mit sattem Grün.
Vor dem Wohnblock an einer Freifläche standen Gänse aus Granit. Ein kleiner Kerl mit roter Mütze und roten Halbschuhen ritt darauf. Dahinter auf dem Spielplatz lärmten Kinder. Viele Kinder. Später sollte der Kleine mit der roten Mütze die Rutsche erobern, das Klettergerüst erstürmen und über die Hängebrücke sausen, dass die Latten nur so ratterten.
Mit offenen Augen wusste er, diese Zeit war unwiederbringlich vorbei. Nicht nur für ihn. Sie war vorbei.
Kaum einmal wenn er den Park durchmaß, hörte er die Klänge seiner Kindheit. Dieser Umstand gilt als Vorteil der Zeit. Kein wahrhaftiger. Aber immerhin ein Vorteil für jene, die spielende Kinder als Ruhestörung verstehen. Es fehlt nicht nur an ausgelassenen Kindern im Park. Es fehlt an Wärme und Verständnis für die Jugend, für einander.
Eine Zeit lang hat er die Sache mit Vera Hensel halbherzig bedauert. Inzwischen ist seine Spannung gewichen und die merkwürdigste aller Merkwürdigkeiten hat sich eingestellt. Sie haben es beide nicht für nötig befunden, noch Worte darüber zu verlieren. Beachtenswert für eine wie Vera. Bedenklich für ihn. Überhaupt scheint es ihm, als bröckelt etwas von seinem Ich, was er nicht aufhalten kann.
Wenn Liebe keine Liebe ist, ist der Verzicht darauf auch kein Verzicht sondern Logik.
Wie er so durch den Park schritt, konnte er sich nicht entscheiden, ob ihn der Gedanke an Vera ärgerte, oder ob ihn die Entwicklung letztlich freute.
Man sah ihn jetzt stiller, bedachter, als je zuvor. Bei der Beurteilung seiner Lage, ohne einen geliebten Menschen an seiner Seite zu leben, lag die Betonung auf geliebt. Vera hätte er nie lieben können.
Seit einer Stunde rückten Vera Hensel und all die lamentierenden Kollegen ins Abseits. Dieser Mensch von der Suchtberatung machte ihn wütend. Nicht, weil er als Vertrauensperson nicht zur Verfügung stand. Er hatte kein logisches Argument. »Mit Kindern Alkohol trinken? Nicht mit uns. Wir sind abstinenzorientiert und wir werden geeignete Maßnahmen ergreifen, falls Sie doch ... «
Er stieß mit heftiger Drehung einen Kiesel vom Plattenweg hinüber auf den Rasen. Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen wird. Mein lieber Einstein, du warst ein sehr cleverer Mann.
Dieser Suchtberater meinte, die Jugend habe genug Möglichkeiten, Alkohol zu probieren. Und er war perplex über seine Frage, ob er einen Führerschein besitze.
»Selbstverständlich«, hatte sich der entrüstet. Auch posierte er wie ein unreifer Emporkömmling vor ihm, was ihn veranlasste, nach einem passendem Attribut zu suchen: Schnösel traf weniger. Pinkel! Ein feiner Pinkel.
Das Feine bestand ausschließlich darin, dass er sich bei jedem Wort beinahe die Zunge brach und dass er ihn, einen gleichaltrigen Mann, siezte. Sein Kontern half bei diesem Pinkel wenig: »Die Jugendlichen hätten auch genug Möglichkeiten, sich die Fahrpraxis selbst anzueignen. Warum lässt niemand einen Siebzehnjährigen ohne Training auf die Gefahren der Straße los? Um nichts anderes geht es bei diesem Experiment. Die Schüler probieren unter fachlicher Kontrolle, welche Gefahr Alkohol mit sich bringt. «
Logik stand dem Pinkel nicht. Er hatte seinen Text gelernt und lehnte jegliche Rollenkorrektur ab.
Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Die fliehende Stirn mit der aufstrebenden Tolle, das spitze Kinn …? Das Bild eines Spitzmaul-Nashorns kam und wollte nicht mehr verblassen.
Warum kann einer von der Suchtberatung nur in seinen Maßstäben denken? Warum konnte der geistige Vater – der eine Suchtklinik leitet – Ursache von Wirkung unterscheiden?
Als er weiterlief, fiel es ihm ein: Es war im Steintal beim Bowling. Zwei Bahnen weiter kämpfte eine Gruppe verbissen um Punkte und Sieg. Der Spitzmaulnashörnige war unter ihnen. Und Vera Hensel, die sich sehr graziös gab und wohl deshalb nicht punkten konnte.
Die hübsche Germanistik-Dozentin von der Hochschule fiel ihm ein. Der freie Journalist, dessen Namen ihm entfallen war und den sie an diesem Abend Jerry nannten, wie die flinke Maus, die den Kater Tom foppte. Und die Rohloff war auch dabei. Deren Hospitation war also kein Zufall.
Es konnte sein, der Verein zur Rettung der deutschen Sprache hat sich einen netten Abend gemacht. Wie hätte Vera da abseits stehen können? Aber was kann einer von der Suchtberatung in einem solchen Verein wollen? Zu Vera passte der Kerl gut, keine Frage. An den Nährboden für eine kleine Intrige zu denken, gestattete er sich nicht.
Ob es verfrüht war, das Trinkexperiment durchzuziehen, darüber ließ
sich trefflich spekulieren. Ob es der richtige Weg war, ebenso. Trampelpfade gab es genug.
Wen hatte er also, auf den er noch zählen konnte? Jemand aus dem Kollegium wäre schließlich auch möglich. Seine kleine Vorahnung schob er beiseite. Er hätte Waltraud Geyer strikt sagen sollen: Vera Hensel fällt wegen Befangenheit aus.
Logisch wäre Kurt Bergholz. In Chemie kam irgendwann der Alkohol im Lehrplan vor. Aber gerade Bergholz wetterte aufgebracht frömmelnd gegen das Projekt. Die neue Bio-Chemie-Referendarin kam ihm in den Sinn: Zu unerfahren. Wie stand es im Programm: Die durchführenden Lehrkräfte müssen sicher im Umgang mit Jugendlichen und Gruppendynamik sein. Kompetent in Sachen Alkohol und verhaltenstherapeutischer Gesprächsführung.
Warum eigentlich nicht? Nicht weil sie jung war. Nicht weil sie schön war. Er hatte die Jungen noch nie über Karim Üljaz lästern gehört. Kein schlechtes Zeichen. Solange die Jungen nicht lästern, bleiben die Mädchen auch fair.
Seit er sich systematisch an der Motivationslage der Schüler orientierte, kam die Üljaz durchaus infrage. Für den Moment war sie die interessanteste Erscheinung in der Schule, und dieser kleine Hieb gegen Vera kam gerade recht. Aber konnte die Üljaz das?
Er wusste nicht, wie alt sie war, zum Glück konnte er rechnen. Jünger als Vera und ein ganz anderer Typ … Rassig, im wahrsten Sinne des Wortes. Sonniger Teint. Große schwarze Augen unter langem, dichtem Strähnchenhaar. Volle Lippen und schmale Hände. Alles gleichsam anmutig wie fremd.
Er grinste in sich hinein. In diesen Belangen zählte kein Alter. Ein wenig freien Mutes und sehr viel Engagement – sonst nichts. Wie sagte Einstein? Die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich was ändert.