Читать книгу Der den Teufel weckt - Maxi Hill - Страница 4
Jan Stein
ОглавлениеDie reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich was ändert. (Albert Einstein)
Kaum zu glauben, dass er das Chaos in seinem Kopf noch beherrschen könnte. Er trinkt nur selten. Heute ist ein besonderer Tag. Das Fernsehen hat den Beitrag über sein Trinkexperiment ausgestrahlt und Sellinger vom Ministerium sagte: Das musste gefeiert werden. Das Chaos in seinem Kopf gibt ihm zu denken. Schlimmer ist, seine Schüler haben ihn gesehen, mitten im Spektakel. Einmal im Jahr feiert die Stadt ein Kneipenfest – aufwendig geplant - mit Bus-Shuttles von Kneipe zu Kneipe. Kein Problem – Aber genau dagegen hatte er vor der Klasse gewettert und heute war er dabei … Morgen bekommt er die Quittung. Morgen muss sein Kopf klar sein für das, was er vorhat und was ihm viel wichtiger ist, als alles andere.
Er ist kein Sterngucker, kein Kind von Traurigkeit. Er ist zweiunddreißig, ledig und Lehrer für Sport und Mathematik. Zum Glück an einem Gymnasium, wo die Disziplin noch nicht in den Ausbruchsversuchen Pubertierender versinkt.
Sein Schritt stockt. Eine Gruppe junger Leute zieht mit Gejohle vorbei. Einer läuft zu einem Baum, bückt sich und ruft die anderen heran. Jetzt kann er nicht weitergehen. Es könnten Schüler von ihm dabei sein. Dieses Alter hat ein feines Gespür für die Schwächen der Lehrer. Die Bank bei der großen Platane kommt ihm gelegen.
Er stützt seinen Kopf in beide Hände. Eine kurze Nacht. Zum Glück kann er ausschlafen.
Nach einigem Hin und Her trollt sich die Gruppe lautstark davon.
Er spürt, wie die Welt sich unter seinen Füßen dreht. Hat er tatsächlich ein, zwei Bier zu viel …? Er ist untertrainiert!
Karim sagte, er muss Vorbild sein, wenn er will, dass man ihm vertraut. Und wie er das will. Dafür hat er weiß Gott genug erdulden müssen. Kämpfen. Niederlagen einstecken. Verluste verkraften. Sellinger ist überzeugt: Nach diesem Fernsehbeitrag kommt die Akzeptanz für das Trink-Experiment. Mag sein. Es gibt einen Verlust bei der Sache, und den wird er nicht akzeptieren. Karim. Nur eine Arglist reichte aus. Karim will nichts mehr von ihm wissen; er wird sie nicht bedrängen.
Wankend setzt er seinen Weg fort. Das Hochhaus mit seiner kleinen Wohnung hebt sich ab vom Sternenhimmel. Noch drei Minuten, dann kann er sich ausstrecken. Schlafen. Nur noch schlafen.
Morgen wird er mutig sein und Karim anrufen … Nein, er wird zu ihr gehen … mit Blumen.
Am Baum links vom Weg stoppt sein Schritt. Jemand liegt an den Stamm gelehnt. Sturzbetrunken. Er hadert mit sich. Dann tritt er näher und sieht ein jammervolles Geschöpf, über und über vom eigenen Erbrochenen bedeckt.
Ein ähnlich würdeloses Bild hatte er bei der Vorbereitung zu seinem Experiment seinen Schülern gezeigt. Zur Abschreckung. Ein Foto nur. Nichts Reales. Ein hilfloses Mädchen auf einer Bank. Vollgekotzt. Schamlos entblößt.
Wenn einer so besoffen daliegt ist es eigentlich schon zu spät, hat er damals gedacht. Zu den Schülern hat er gesagt:
»Möchte jemand von euch einmal dieses Bild abgeben? «
»Abgeben nicht. Angucken schon«, erheiterte Pattrick Lörmann die Runde.
Pattrick! Diesem Jungen hätte es gut getan, sich am Experiment zu beteiligen. Sein Absturz zur Klassenfahrt in Peenemünde war beinahe folgerichtig; diese Erfahrung hat sich in seinen Lehrerstolz geritzt. Leider hatten Pattricks Eltern keine Chance, ihren Fehler zu erkennen.
In ziemlicher Dunkelheit beugt sich Jan zu dem leblosen Etwas. Die Kotze stinkt nach süßem Fusel. Im Halbdunkel das entstellte Gesicht von Nina Joswig.
Lange kann er keinen vernünftigen Gedanken fassen. Nur eines geht ihm durch den Kopf. Wie konnte er sich in Nina so irren?
Was da vor ihm liegt ist der vollgekotzte Beweis: Nina Joswig hat ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht. Was jetzt vor ihm liegt, ist Teufelswerk. Hatte es nicht viele deiner Kollegen genauso prophezeit?
Wer sich auf Teufel komm raus betrinken will, der wird es nach diesem Experiment erst recht tun ...
Trotz Nebel im Kopf wird ihm klar, was Sellinger meinte. Der Weg des Mutes kennt zwei Ziele: Thron oder Schafott.
Was blieb ihm übrig, als den steinigen Weg zu gehen, der die Schüler selbst erfahren lässt was passiert, wenn man Alkohol trinkt. Die wenigsten hatten eine Ahnung, welch Teufelszeug in ihren Drinks steckt.
Die kühle Nachtluft streicht um seine Stirn, macht ihn munterer. Mit einem Male ist er stocknüchtern: Wenn Ninas Absturz bekannt wird, kommt genau der Ärger auf ihn zu, auf den Vera Hensel spekuliert; Vera mit ihrem Unfehlbarkeitssyndrom.
Wenn es zwei Frauen gibt, die den größtmöglichen Abstand halten sollten, dann Karim und Vera. Zu spät. Karim ist für ihn wieder unerreichbar. Sie gibt ihm dieses Gefühl. Und er hat entschieden, ihren Willen vorerst zu respektieren.
Er muss jetzt alles klug arrangieren: Hilfe für Nina anzufordern bedeutet, die Soko Suff auf den Plan zu rufen. Das ruiniert sein Ansehen endgültig. Lässt er Nina einfach ihren Rausch ausschlafen, bleibt immer noch Zeit für Erziehung … Ab Montag. Aber die Nächte sind empfindlich kalt, und Nina könnte noch einmal erbrechen und an ihrem Erbrochenen ersticken …
Der Park ist dunkel und ruhig. Kein Kneipenlärm. Kein Disco-Licht. Kein übermütiges Lachen. Nichts. Ist dieses Stück Welt nicht friedlich und still?
Vielleicht hätte er auch heute so gedacht, wäre nicht Karim eines Tages so aufgebracht gewesen. Ein Vorfall wurde im Kollegium kaum zur Kenntnis genommen. Man hatte in diesem Park zwei junge Asiaten übel zusammengeschlagen.
Jan drückt mit der Rückhand an die Halsader des Mädchens. Irgendwie aus Gewohnheit. Vielleicht aus Selbstbetrug. Freilich lebt sie, aber ansprechbar ist sie nicht. Er weiß nicht, wo Nina wohnt. Sie geht in die Neun A.
Ein Lufthauch lässt die Blätter über den Köpfen zittern. Sonst bleibt alles still, eine Stille, die mutlos macht.
Soviel Jan auch nachdenkt, er kann das Bild nicht ausstehen, auch wenn die Dunkelheit es verklärt. Aus dieser Dunkelheit löst sich seine Stimme, die Ninas Vater zu überzeugen versucht hat, seinem Trinkexperiment zuzustimmen:
Nun Herr Joswig, ich kann nur hoffen, dass man Sie niemals in die Rettungsstelle bittet, wo Ihre Tochter liegt. Vielleicht mit bleibenden Schäden. Vielleicht erfroren oder unterkühlt. Vielleicht in ihrem hilflosen Zustand von gewissenlosen Männern missbraucht …