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Das Rad beginnt sich zu drehen

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Zwei Tage danach kam mit erstaunlicher Konsequenz die offizielle Vorladung ins Direktorinnen-Zimmer.

Waltraud Geyer thronte hinter ihrem Schreibtisch, als stünde am Ende jeder einzelnen Nervenbahn ein Schnellfeuergewehr. Ihre Worte erinnerten an einen bis zum Zerreißen gespannten Bogen. Das gerötete Gesicht zuckte unkontrolliert, als sie sprach. Er traute sich herauszulesen, dass es nicht um Peanuts ging.

»Eine Anzeige? Was für eine Anzeige? «, stellte er sich unwissend.

»Eine Beschwerde«, relativierte sie. »Familie Lörmann war bei Schulrat Jurack. «

»Familie Lörmann. «

Nicht der Name senkte seine Stimme zum Abfälligen hin. Es war sein Gefühl, das ihn auf einen Gedanken brachte: Pattrick schien keinen Schimmer vom Auftritt seiner Eltern zu haben. Dieser bauernschlaue Junge hätte seinen Eltern den Schritt zum Schulrat erfolgreich ausgeredet. Pattrick ist gewieft. Kann sein, die Eltern haben ihm ihr Vorhaben verschwiegen weil sie wissen, dass Pattrick längst trinkt.

Diese Eingebung taugte nicht. Lörmann hätte auf diese Weise seinen Sündenbock gefunden, falls es einmal Probleme mit Pattrick geben sollte – und die waren absehbar?

»Sie können Klartext reden«, sagte er endlich zu Waltraud Geyer, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Nicht auf das Problem, das eigentlich keins war. Auch wenn er die Geyer jetzt nicht ansah, so brannte das Bild ihres ersten Blickes noch in ihm. Seine Nackenhaare sträubten sich und ihm ging durch den Kopf, dass auch die Direktorin des Heine-Gymnasiums nicht überall Freunde hatte.

»Doktor Jurack hat große Bedenken hinsichtlich nötiger Handlungskompetenz. Und er hat mich gefragt, ob wir keine anderen Probleme hätten. «

»Diese und noch viel mehr. Als die Schulungsmaßnahmen liefen, war ich der Einzige, den man melden konnte. Damals sagte Juraks Vize: Für eine Großstadt wie unsere wäre Ignoranz bei einem gesellschaftlich so relevanten Thema mehr als fatal. «

Waltraud Geyer selbst hatte seinerzeit zugestimmt, wenn auch zähneknirschend. Insgeheim sprach sie ihm jegliche soziale Kompetenz ab. Er war wegen seiner Redensarten für sie der respektlose Lümmel aus der hinteren Bank, dem nur aus Versehen geglückt war, an diese Schule zu kommen.

»Wenn Herr Jurack sich dafür interessiert hätte, würde er jetzt anders reden und ich würde mich mit dem Problem nicht so alleingelassen fühlen…« Alleingelassen … Das war kein direkter Angriff, aber es ging auch gegen die Geyer. Er würde einen Teufel tun, seiner Vorgesetzten zu verraten, dass selbst der feine Herr von der Suchtberatung das Experiment ablehnte. Was blieb? Er musste den Kampf nach vorn angehen. »Es geht doch dabei um weit mehr. Wir haben einen Erziehungsauftrag. In punkto Alkohol sind die meisten Lehrer hilflos überfordert. Es gibt keine klaren Regeln. Das Einzige, was uns einfällt, ist striktes Vermeidungsverhalten.“ Er räuspert sich vorsichtshalber. „Und auch jetzt, wo sich eine praktische Möglichkeit bietet, verlangt man von uns, wir sollten den Schwanz einziehen ... «

»Bitte! Mäßigen Sie sich. «

»Sorry, aber es gibt Verweise bei Schneeballwürfen. Es gibt Maßnahmen bei Disziplinverstößen. Wir kennen Hunderte von Regeln. Stufenabstände und Handläufe an Treppen zum Beispiel, um keine Stürze zuzulassen. Aber diese Art Abstürze kümmern keinen. Wir Lehrer erleben doch bei jeder Klassenfahrt, bei jeder Schulparty, den riskanten Umgang unserer Schüler mit Alkohol. Warum sieht man hier keinen Bildungsbedarf? «

»Na, na. Übertreiben Sie mal nicht. «

»Die Schule wäre der ideale Ort für dieses Thema. Was machen wir? Wir verlagern es nach Nirwana. «

»Kollege Stein …«

»Aus meiner Sicht ist in Punkto Alkohol nicht einmal die Einflussnahme auf die Eltern, ja die ganze Batterie an gesetzlich geregelten Verboten tauglich, solange die Jugendlichen im Erlernen ihrer Verantwortung keine gangbaren Wege sehen. Es gibt nicht wenige, die ihren positiven Effekt des Rausches längst ausmachen. Soll man da wegschauen? Erst wenn die Schüler die Wirkungsweise ihres Trinkverhaltens selbst erkennen, werden sie auch verstehen. «

»Kollege Stein. Jetzt ist weder die Zeit noch der Ort, um Grundsatzfragen zu erörtern. Und ich will ehrlich sein. Hätte ich gewusst, wie stark die gesellschaftliche Ablehnung ist – die kollegiale sogar - ich hätte Sie das niemals machen lassen. Kommen wir noch raus aus der Sache? «

»Ich arbeite daran, dass wir alles auf noch viel breitere Basis bekommen. «

Er dachte gar nicht daran zu verraten, was er wusste. Die Koordinatorin des Projektes selbst beklagte, wie schleppend sich die Sache gestaltete.

Die Kontroversen entmutigen.

»Mit kollegialer Ablehnung meinen Sie Frau Hensel? «, kam zugegeben ein bisschen abfällig heraus. »Ich kann Sie beruhigen. Frau Hensel hat andere Gründe. « Wut und Zweifel kämpften einen Augenaufschlag lang in ihm, dann war der Sieg entschieden. »Wenn zwei ungewöhnliche Experimente an einer Schule laufen, eins nicht beachtet wird, das andere in medialem Interesse steht, dann ist das bedauerlich. Aber es darf nicht dazu führen, dass aus ganz persönlichen Gründen eines in Misskredit gezogen wird. «

Die Augenlider von Waltraud Geyer zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Es dauerte eine Weile, ehe sie erwiderte:

»Niemand zieht irgendetwas in Misskredit. Und was Sie persönlich mit Frau Hensel haben, das machen Sie bitte auch persönlich mit Frau Hensel aus. In einem stimme ich ihr zu. Eine anerkannte Prävention wäre der Schule besser bekommen. « Die Geyer quälte sich beim Reden. »Ich denke, jeder hat in unserer demokratischen Grundordnung ein Recht, seine Meinung zu äußern. Frau Hensel macht lediglich sich Sorgen. Und wenn ich ehrlich bin, sorge ich mich auch. «

Obwohl er sich fragte, was gegen die Anerkennung eines Landes-Projektes sprach, legte er großen Wert darauf, die Sache nicht unnötig aufzubauschen. Also schwieg er, und er ignorierte Vera Hensels »Sorge«. Da brodelte seit Langem etwas in löchrigen Töpfen, was einen guten Zweck vereiteln könnte. Ob Vera den Ruf der Schule retten, oder seinen Ruf beschädigen wollte, beantwortete er sich nicht. Und eigentlich will er überhaupt nicht mehr über Vera Hensel nachdenken.

»Falls es die Kritiker beruhigt, wir geben keinen Cent für Alkohol aus …«

Die Geyer, die noch eben nervös auf der Schreibunterlage herumgekritzelt hat, zog ihren Blick von unten herauf, als hole sie tief Luft. Er kam ihr zuvor. »Entweder ich finde noch einen Förderer, oder die Eltern zahlen. Mehr als zwei Euro macht das nicht aus. «

»Da bin ich in der Tat beruhigt. «

Ihrer Miene nach zu urteilen glaubte die Direktorin nicht daran, dass Eltern auch nur einen Cent für Alkohol rausrückten. Und langsam glaubte er selbst nicht mehr daran.

Während die Geyer die aufstrebenden Ecken des Papiers ihrer Schreibunterlage nach unten bog, wurde ihr Ton schärfer: »Wenn eine Sache keine Lobby hat, muss man freiwillig einen Schritt zurück.« Die Geyer hatte ein eigenartiges Lauern im Blick. »Und noch etwas: Familie Lörmann bleibt unerwähnt. Dass wir uns da verstehen. «

»Verstehe. «

Er wollte einen Teufel tun, seine Vorgesetzte noch einmal zu piesacken. Er wollte stillhalten, bis die Sache in trockenen Tüchern ist. Offenbar hatte die Geyer in ihrer Rage die Sache mit der Fernseh-Reportage überhört.

Und dann kam ihm eine Idee. Genau die Sache mit dem Fernsehen könnte an Veras Neidmäntelchen zerren. Und noch etwas könnte Vera gewaltig an die Nieren gegangen sein: Die Niederlage vor der Rohloff. Daran zumindest war er nicht schuldlos. Dieser Gedanke straffte seine Lippen: Wie man in den Wald hineinruft …!

»Es ist übrigens nicht nur Frau Hensel. Auch andere Kollegen lehnen Ihr Ansinnen strikt ab. Kurt Bergholz meint: Wer sich auf Teufel komm raus betrinken will, der wird es nun erst recht tun. Und, man sollte rigide gegen jede Art Kontakt der Jugend mit Alkohol vorgehen. « Sie zog die Schultern an und wandte sich einer Mappe zu, die vor ihr lag. »Wir Alten haben so unsere Erfahrungen. «

Vera Hensel hatte dieselben Worte gebraucht! Hatte sie nötig, Kurt Bergholz zu imitieren? Bergholz hat keinen Arsch in der Hose. Der wartet nur noch auf seine Pensionierung und scheißt jeden Schüler an, der auf dem Schulhof eine Hand voll Schnee ergreift.

»Erdreistet sich Kollege Bergholz auch zu sagen, in der Landesregierung sitzen nur unerfahrene Leute? Zwei Sucht-Experten haben das Projekt entwickelt. Auch nur unerfahrene Greenhorne? Wenn mir jetzt jemand dazwischen funkt, ich weiß nicht, was ich anstelle. « Er blieb bei einem sturen Unterton, das konnte der Geyer nicht entgangen sein.

»Das Beste wird sein, wir halten den Schaden erst einmal flach«, entschied die Geyer, als er schon aufgestanden war, um zu gehen.

»Schaden? Es ist niemand zu Schaden gekommen und es wird auch nie jemand zu Schaden gekommen. Die Sache ist sehr gut geplant. Aber ich sage gleich, es nutzt gar nichts, wenn wir das Experiment auf eine Klassenstufe beschränken. Wenn es funktionieren soll, müssen wir in die Breite. Wir können gar nicht mehr schadlos aus der Sache heraus. Ich bin mit viel Geld trainiert worden und ich arbeite bereits an der Durchführung. Die Eltern werden detailliert über ihre freie Entscheidung informiert; sie können das Experiment notfalls ablehnen. Was mir viel größeren Kummer macht, ist der Tropfen auf den heißen Stein. Es braucht Vertrauen und Akzeptanz. Leider geht das mit der Akzeptanz nicht so schnell. Frühestens nach mehr als einem halben Jahr haben wir erste Gewissheit, was es genau bewirkt hat. Erst dann können wir andere Schulen überzeugen, es uns gleichzutun. «

»Halten Sie sich um Gottes Willen zurück. Von wegen Ausdehnung auf andere Klassen! Die Wellen schlagen schon hoch genug. Aber falls Ihnen tatsächlich das Wohl der Schüler so sehr am Herzen liegt, da läuft gerade eine Initiative, gefördert von Bahn-See. Irgendwas mit Hacke voll. Dort gehen Sie hin. «

»Was soll das bringen? «, fragte er.

»Das wird Sie vielleicht heilen von Ihrer Schnaps-Idee. Es gibt viele Wege, ein Ziel zu erreichen. «

»Selbst wenn alle denselben Weg wählen, kann er in die Irre führen. Nur der Mutige tritt eigene Spuren in den unberührten Sand. «

Wütend verließ er das Zimmer. Jedes noch so logische Argument war zwecklos.

Draußen wollte er mit dem Fuß die Wand malträtieren. Er zügelte sein Temperament. Schlaf eine Nacht darüber, Jan Stein. Jeden Tag gibt es einen neuen Himmel. Morgens ist er besonders klar.

Der den Teufel weckt

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