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3.2 George Henry Lewes: „Problems of Life and Mind“
ОглавлениеGeorge Henry Lewes plädiert in seinem Werk „Problems of Life and Mind“ für die Metaphysik als Wissenschaft der allgemeinsten Prinzipien bzw. der abstraktesten Gesetze und versucht, sie in die Methoden der Naturwissenschaften zu transformieren. Lewes ist dabei im Wesentlichen als Schüler und Weggefährte Mills zu sehen. So schreibt Alexander Bain recht despektierlich:
„I met Lewes frequently when I was first in London in 1842. He sat at the feet of Mill, read the Logic with avidity, and took up Comte with equal avidity. These two works, I believe, gave him his start in philosophy.“51
Diese Nähe zu Mill zeigt sich auch deutlich in Lewes’ Werk: So übernimmt er von diesem die Unterscheidung zwischen homopathischen und heteropathischen Gesetzen und Wirkungen.52 Doch führt er dabei jenen Begriff der Emergenz ein, der später für eine ganze philosophische Strömung namensgebend sein sollte:
„There are two classes of effects markedly distinguishable as RESULTANTS AND EMERGENTS. […] Thus, although each effect is the resultant of its components, the product of its factors, we cannot always trace the steps of the process, so as to see in the product the mode of operation of each factor. In this latter case, I propose to call the effect an emergent.“53
Lewes stellt in seiner Definition von Resultants und Emergents – dem Millschen Gegensatz homopathischer und heteropathischer Gesetze und Wirkungen ähnlich – die Addition von homogenen Kräften dem heterogenen Zusammenwirken verschiedener Ursachen gegenüber.54 Resultants werden bei Lewes dementsprechend als die Summe homogener Kräfte definiert:
„Every resultant is either a sum or a difference of the co-operant forces: their sum, when their directions are the same; their difference, when their directions are contrary. Further, every resultant is clearly traceable in its components, because these are homogeneous and commensurable.“55
Emergents sind dann gegeben, wenn verschiedene Ursachen in heterogener Weise zusammenwirken:
„It is otherwise with emergents, when, instead of adding measurable motion to measurable motion, […] there is a co-operation of things of unlike kinds. […] [A]dd heat to different substances, and you get various effects, qualitatively unlike: expansion of one, liquefaction of a second, crystallisation of a third, decomposition of a forth […]. Here we have various emergents, simply because in each case there has been a different co-operant; and in most of these cases we are unable to trace the process of coalescence. The emergent is unlike its components in so far as these are incommensurable, and it cannot be reduced either to their sum or their difference.“56
Stephan sieht trotz der großen Nähe zu Mills Theorie eine entscheidende Modifikation in Lewes’ Überlegungen und verweist dabei auf folgendes Zitat:
„Unlike as water is to oxygen or hydrogen separately, or to both when uncombined, nothing can be more like water than their combination, which is water. We may be ignorant of the process which each passes through in quitting the gaseous to assume the watery state, but we know with absolute certainty that the water has emerged from this process. […] Some day perhaps, we shall be able to express the unseen process in a mathematical formula; till then we must regard the water as an emergent.“57
Stephan führt an, dass Lewes an dieser Stelle der Unvermeidlichkeit heteropathischer Gesetze in Chemie, Physiologie und Psychologie bei Mill einen eigenen Ansatz gegenüberstellt, welcher besagt, dass es an sich möglich sein müsse, eines Tages auch die bei einer chemischen Verbindung ablaufenden Prozesse mathematisch zu beschreiben.58 Damit wird der Begriff einer emergenten Wirkung in Fällen chemischer Verbindungen jedoch zu einem relativen Begriff. Denn würde die Erklärung der chemischen Verbindung von Wasser in einer mathematischen Formel gelingen, so wäre eine solche – vormals emergente – Wirkung fortan als resultierende Wirkung zu betrachten. Darüber hinaus fasst Stephan die Ausführungen Lewes’ so auf, dass hier nicht nur chemische Verbindungen gemeint seien. Vielmehr würde Lewes im letzten Satz des obigen Zitats andeuten, dass er es für nicht ausgeschlossen hält, dass sich mit dem Fortschritt der Wissenschaften vermeintlich emergente Wirkungen als resultierende Wirkungen herausstellen könnten, ohne dass dies auf einen bestimmten Bereich beschränkt bliebe. Nur so lange dies noch nicht möglich ist, hätten nicht-deduzierbare Phänomene als emergent zu gelten.59 Bei konsequenter Verfolgung dieser Betrachtung wäre Lewes somit nicht etwa ein Vordenker des Emergentismus im Sinne eines Nicht-Reduktionisten, sondern, da er emergente Phänomene durch Erkenntnisgewinn in den Wissenschaften letztendlich für reduzierbar hält, ein Reduktionist. Doch hier greift Stephans Betrachtung zu kurz, wie sich im weiteren Verlauf von Lewes’ Werk zeigt:
„Who, before experiment, could discern nitric acid in nitrogen and oxygen? […] Yet it is no extravagant hope that the day will arrive when we shall not only know the separate operations of agents, but their mutual modification in the product which emerges from their union. When an agent A has the value x, and another agent, B, has the value y, the resultant of A+B must be x+y. But this is only true when no other factor interferes. In truth, some other factor almost always does interfere, though it is generally thrown out of the calculation, either because it is arbitrarily set aside, being irrelevant to the purpose in view, or too small in amount to disturb our „approximation“. So that, strictly speaking, the real effect is always an emergent, since we never know with absolute accuracy enough of all the factors to trace their operation. This, which is true of reals, is no longer true of ideal constructions, wherein the factors are accurately defined.“60
Aus dieser Betrachtung Lewes’ folgt vielmehr, dass – entgegen dem Verständnis Stephans – der Begriff einer resultierenden Wirkung in allen anderen Fällen als in denen einer ‚ideal construction‘ als relativ anzusehen ist. Man wird, Lewes zufolge, nämlich in der Realität (in ‚reals‘) niemals alle Faktoren kennen, die außer den bereits bekannten Faktoren noch an einer Reaktion beteiligt sind, so dass die eigentliche Wirkung letztendlich immer eine emergente ist. Somit dürfte der Begriff einer resultierenden Wirkung – dieser Passage zufolge – strenggenommen auf ‚reals‘ gar nicht angewandt werden. Vielmehr muss man nach Lewes davon ausgehen, dass der Begriff einer emergenten Wirkung – gleichsam als epistemisches caveat – in den meisten Situationen des Zusammenwirkens mehrerer Ursachen anzuwenden ist, genauer: in allen Situationen mit Ausnahme all solcher, die ‚ideal constructions‘ zuzurechnen sind. Denn nur in ‚ideal constructions‘ sind alle Faktoren präzise definiert. Zum Beispiel der chemischen Verbindungen, die Lewes für mathematisch darstellbar hält, ist daher folgendes zu sagen: Solange man eine chemische Verbindung als eine ‚ideal construction‘, in der alle Faktoren bis ins letzte bekannt sind, durchdenkt, lässt sie sich als resultierende Wirkung beschreiben, wenn dies auch nicht in mathematischen, sondern eher in chemischen Formeln möglich sein dürfte. Sobald man aber versucht, eine chemische Verbindung aus dem realen Bereich (‚reals‘) in einer Formel darzustellen, wird man scheitern. Denn auch hier gilt, dass man sich bei ‚reals‘ nie sicher sein kann, alle Faktoren zu kennen, daher ist jede Wirkung in diesem Bereich eine emergente Wirkung. Die chemische Praxis bestätigt dies: Es gilt als unmöglich, eine ideale Versuchsanordnung zu konstruieren, die das Einhergehen bzw. die Einflussnahme anderer Faktoren vollständig ausschließt. Eine chemische Versuchsanordnung lässt sich höchstens weitestgehend gegen solche Faktoren abschirmen, die das Ergebnis verfälschen oder beeinflussen könnten. Somit lässt sich, selbst wenn ein Versuch den erwarteten Ausgang nimmt, nicht mit Sicherheit feststellen, ob nicht doch auch andere (unbekannte) Faktoren beteiligt waren, die den Versuchsausgang – wenn auch nicht nachhaltig – beeinflusst haben. Also ist, entgegen dem Verständnis Stephans, zu sagen, dass sich chemische Verbindungen, die – wie in Lewes’ Beispiel des Wassers – dem Bereich der ‚reals‘ zuzurechnen sind, in der Lewes’schen Konzeption auch in Zukunft nicht als genuine resultierende Wirkungen werden herausstellen können.
23 Vgl. Stephan (1999b). S. 78. Stephan betont außerdem, dass Mill nur den Begriff ‚heteropathisch‘ verwendet. Der Begriff ‚homopathisch‘ hingegen stamme aus der Sekundärliteratur [Vgl. Stephan (1999b). S. 78. Fußnote 6.].
24 Vgl. Mill (1843). S. 370-371 und Stephan (1999b). S. 78.
25 Vgl. Mill (1843). S. 370 und Stephan (1999b). S. 78.
26 Mill (1843). S. 371. Hervorhebung durch den Verfasser.
27 Mill (1843). S. 373.
28 Mill (1843). S. 373.
29 Vgl. Mill (1843). S. 374 und Stephan (1999b). S. 83.
30 Mill (1843). S. 371.
31 Vgl. Mill (1843). S. 373-376 und Stephan (1999b). S. 80-81.
32 Vgl. Mill (1843). S. 373-376 und Stephan (1999b). S. 82.
33 Mill (1843). S. 376. Hervorhebung durch den Verfasser.
34 Vgl. Stephan (1999b). S. 82-83 und Mill (1843). S. 373.
35 Mill (1843). S. 484. Hervorhebungen durch den Verfasser.
36 Vgl. Stephan (1999b). S. 87-88.
37 Vgl. Stephan (1999b). S. 87-88 und Mill (1843). S. 464-469.
38 Vgl. Mill (1843). S. 471 und Stephan (1999b). S. 88.
39 Vgl. Mill (1843). S. 466-467.
40 Vgl. Mill (1843). S. 466-467.
41 Mill (1843). S. 471.
42 Mill (1843). S. 472.
43 Vgl. Mill (1843). S. 484 und Stephan (1999b). S. 89.
44 Vgl. Mill (1843). S. 484-485 und Stephan (1999b). S. 89-91.
45 Mill (1843). S. 485. Hervorhebungen durch den Verfasser.
46 Vgl. Stephan (1999b). S. 90.
47 Vgl. Stephan (1999b). S. 91.
48 Stephan (1999b). S. 91.
49 Vgl. Stephan (1999b). S. 91.
50 Vgl. Broad (1925). S. 65, S. 68 und S. 77-81, Stephan (1999b). S. 97-98 sowie Abschnitt 4.3.
51 Bain, Alexander (1882). John Stuart Mill. A Criticism with Personal Recollections. Reprint. Key Texts – Classic Studies in the History of Ideas. Bristol: Thoemmes Press 1993. S. 76. Fußnote. Vgl. auch Stephan (1999b). S. 86. Fußnote 19.
52 Vgl. Stephan (1999b). S. 85-86.
53 Lewes (1875). S. 368. Hervorhebung (kursiv) durch den Verfasser.
54 Vgl. Stephan (1999b). S. 86.
55 Lewes (1875). S. 369.
56 Lewes (1875). S. 369.
57 Lewes (1875). S. 369-370.
58 Vgl. Stephan (1999b). S. 87 und Stephan, Achim (1992). „Emergence – A Systematic View on its Historical Facets“ in: Ansgar Beckermann/Hans Flohr/Jaegwon Kim. Emergence or Reduction? – Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 28-29.
59 Vgl. Stephan (1999b). S. 87 und Stephan (1992). S. 28-29.
60 Lewes (1875). S. 370-371.