Читать книгу Naturphilosophische Emergenz - Maximilian Boost - Страница 8
1 Einleitung
ОглавлениеWährend Naturwissenschaft (bzw. ihre Vorformen) und Religion seit jeher eng miteinander verflochten, ja, teils sogar identisch miteinander waren, trennt sie spätestens seit der Kopernikanischen Wende ein weltanschauliches Schisma, dessen Abgrund immer tiefer klafft. Die Unversöhnlichkeit der Positionen beschränkt sich dabei nicht nur auf den Streitpunkt, wem denn nun das Primat in der Welterklärung und -erschließung zukommt, sondern reicht – vor allem in Bezug auf die Religion – sogar bis zur Frage nach der Existenzberechtigung des jeweils anderen Bereichs. Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass die Gemengelage der verschiedenen Umgangsweisen mit dieser Problematik kaum überschaubar ist: Während manche den einen Bereich zugunsten des anderen aufgeben – sei es im szientistischen Reduktionismus oder im religiösen Fundamentalismus – scheinen andere diese Spannung auszuhalten oder aber zu ignorieren. Dabei lässt sich feststellen, dass die Problematik gerade aus religiöser Perspektive besonders zum Tragen kommt, während im naturwissenschaftlichen Alltag die religiösen Implikate der eigenen Thesen kaum bzw. nur äußerst selten eine Rolle spielen.
Der Konflikt zwischen den beiden Bereichen gipfelt gerade in Bezug auf christliche Positionen in jüngster Zeit in aufsehenerregenden politischen und wissenschaftlichen Bewegungen und Programmen. Auf der einen Seite liest und hört man immer wieder von der Rückkehr der Religion – verstanden als globale Revitalisierung von Religion und Gegenpol zur Säkularisierung –, die in allen Bereichen an Einfluss gewinnt:1 Diese scheint auch gegeben, betrachtet man zum Beispiel den massiven politischen Einfluss der religiösen Rechten in den USA, der in der religiösen Legitimation wichtiger politischer Entscheidungen, wie sie durch George W. Bush stattgefunden haben soll2, seinen wirkmächtigsten Ausdruck gefunden hat. Auch auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene findet der Versuch einer religiösen Einflussnahme durch die Bewegungen des Intelligent Design und des Kreationismus statt: Während dies hierzulande eher auf Skepsis stößt, wird vielerorts in den USA die Schöpfungsgeschichte im schulischen Unterricht als gleichberechtigte Alternative zur Evolutionstheorie gelehrt.3 Bezieht man jedoch differenziert das gesellschaftliche Gesamtbild mit ein, ist zu fragen, ob die Rückkehr der Religion wirklich auf breiter Front gegeben ist oder sich bisher nur in den genannten Bewegungen zeigt. Auf naturwissenschaftlicher Seite wiederum haben sich prominente und lautstarke Positionen ‚wider die Religion‘ formiert: Sieht man einmal davon ab, dass allein schon die gesellschaftlich weithin geteilte Auffassung einer scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Erklärung der Welt durch die Naturwissenschaft dazu führt, dass bei ihrem vollständigen Gelingen auch die Religion – zumindest in Form religiöser Erfahrungen – ‚wegreduziert‘ sein dürfte, gibt es auch dezidiert polemische Positionen reduktionistischer Natur: Hierbei sind die Brights sowie der Neue Atheismus zu nennen, die besonders auf die populärkulturelle Diskussion zielen. Letzterer hat vor allem durch die Schriften von Richard Dawkins und Christopher Hitchens in jüngster Zeit große Aufmerksamkeit erlangt.4 Auch wenn sich die Darstellung des Konflikts an dieser Stelle vornehmlich im Kontext (westlicher) christlicher Religion und ihrer szientistischen Gegenpositionen bewegt, muss betont werden, dass er nicht nur hier besteht. Wenn sich dort auch nicht solch plakative und medienwirksame Positionen ausmachen lassen, stehen grundsätzlich auch die anderen Weltreligionen, ja, überhaupt jede Strömung, die an etwas Über-Natürliches ‚glaubt‘, gleichermaßen in einem entsprechenden Spannungsverhältnis zur modernen Naturwissenschaft.
Angesichts der harten Frontlinien dieses Konflikts soll nach einer Möglichkeit gesucht werden, im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion zu vermitteln. Dabei ist zu fragen, ob die Naturwissenschaften und ihr bevorzugtes Forschungsprogramm – die Reduktion der zu erklärenden Phänomene auf einfachere Strukturen und Prozesse – in allen Fällen gelingen kann oder ob es Bereiche gibt, die sich einem solchen szientistischen Reduktionismus zumindest in Teilen grundsätzlich verschließen. Die Grundthese der nachfolgenden Betrachtungen ist, dass solche Bereiche existieren und dass es für einige von ihnen eine geeignetere Erklärung gibt, den Begriff der Emergenz. Außerdem wird die These vertreten, dass der Emergenzbegriff auch in Bezug auf die Religion Erhellendes zu sagen hat. Die Zielsetzung ist, dass der Begriff der Emergenz im Konflikt zwischen szientistischen und religiösen Positionen neue Impulse geben, und so die Grundlage für eine wechselseitige Öffnung legen kann. Die Betrachtungen sind wie folgt aufgebaut:
TEIL I Begriffsgeschichtlich gesehen ist der Emergenzbegriff für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion allein schon deshalb von größtem Interesse, weil ihn bereits seine Erfinder, die Britischen Emergentisten, Anfang des 20. Jahrhunderts in dem Bestreben entwickelten, zwischen einem naturwissenschaftlichen Verständnis der Welt auf der einen, und dem Vorhandensein vitaler und mentaler Eigenschaften von Organismen auf der anderen Seite, zu vermitteln. Eine Untersuchung ihrer Schriften kulminiert in der Beschreibung der Hauptmerkmale des Britischen Emergentismus. Damit ist die notwendige Basis für ein tieferes Verständnis und für die Bewertung sowohl der klassischen als auch der modernen Emergenzkonzeptionen gelegt. Zudem wird begründet, warum der Emergentismus schon Ende der 1920er Jahre wieder aus dem Fokus der Philosophie verschwand. Ein kurzer Blick auf die Wiederkehr emergentistischer Ansätze Ende der 1970er Jahre in den Schriften von Karl Popper und Mario Bunge schließt die begriffsgeschichtliche Untersuchung des Emergenzbegriffs ab.
TEIL II Die moderne Debatte um den Emergenzbegriff findet vor allem in der Philosophie des Geistes statt, wo er derzeit am Profiliertesten diskutiert wird. Da Phänomene in der Regel vor allem deshalb als emergent bezeichnet werden, weil sie irreduzibel sind, ist in einem Exkurs zunächst ein adäquater Reduktionsbegriff zu formulieren. Einer anschließenden Betrachtung der physikalistischen geistesphilosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts folgt die Erörterung der Frage, in welcher Weise der Emergenzbegriff in der modernen Philosophie des Geistes verortet werden kann. Dabei zeigt sich, dass, insofern zeitgenössische Autoren für die Existenz von Qualia plädieren, dies in der Regel einen Qualia-Emergentismus impliziert. Mit diesem verbindet sich in der Geistesphilosophie die Hoffnung, das Leib-Seele-Problem in einer nicht-reduktiv-physikalistischen Weise lösen zu können, die sowohl unserem naturwissenschaftlichen Grundverständnis der Welt Rechnung tragen kann, als auch der Erfahrung, dass menschliche Gedanken und Emotionen einen eigenständigen Bereich umfassen, der nicht einfach auf die Naturwissenschaften reduzierbar ist. Doch ist der Qualia-Emergentismus den Problemen der abwärts gerichteten Verursachung sowie der mentalen Verursachung ausgesetzt, wobei zu klären ist, ob diese sich unter Bedingungen eines physikalistischen Verständnisses von Emergenz lösen lassen oder nicht.
TEIL III Doch bedarf es wirklich einer reduktionistischen Weltsicht im Allgemeinen bzw. einer physikalistischen Weltsicht im Besonderen, um als philosophische Theorie Anspruch auf angemessene Einbindung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erheben zu können? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nicht nur, dass der szientistische Reduktionismus immer an bestimmten Phänomenen der natürlichen Welt scheitern muss, die sich grundsätzlich nicht reduzieren lassen, sondern auch, dass dessen Spielart, der Physikalismus, selbst in der Physik zahlreichen Einschränkungen ausgesetzt ist, und somit nicht als wissenschaftlich fundierte Strömung angesehen werden kann.
TEIL IV Auch wenn der Physikalismus zu verwerfen ist, muss damit nicht auch gleichzeitig der Begriff der Emergenz aufgegeben werden. Denn es ist durch nichts evident, dass sich Emergenz nur im Rahmen des Physikalismus formulieren lässt. Entsprechend könnte der Emergenzbegriff sehr wohl in der Lage sein, irreduzible Phänomene wie Qualia adäquat zu interpretieren. Daher gilt es, eine Neubestimmung des Emergenzbegriffs vorzunehmen. Hierzu bedarf es zunächst der Explikation der epistemologischen Grundlagen, d.h. der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, denen diese Neubestimmung unterliegen soll. Sie müssen aus zwei Gründen offengelegt werden: Zum einen, um den Nachvollzug der Argumentation zu erleichtern, und zum anderen, um den Rahmen für die nachfolgenden Überlegungen in erforderlicher und geeigneter Weise zu verengen. Anschließend wird geprüft, ob neben Qualia auch andere emergente Phänomene in der natürlichen Welt auftreten. Außerdem wird dafür plädiert, dass der Emergenzbegriff – entgegen dem üblichen Verständnis – als erklärungsmächtiger Begriff angesehen werden muss. Die Neubestimmung des Emergenzbegriffs als naturphilosophischer Ansatz von Emergenz trägt nicht nur den verschiedenen Problemen und Schwächen des Emergenzbegriffs aus der historisch-systematischen Analyse Rechnung, sondern auch den Erkenntnissen aus den geistesphilosophischen sowie den anti-physikalistischen und -reduktionistischen Betrachtungen. Auch wird der konzeptionelle Status des naturphilosophischen Emergenzbegriffs sowie sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften geklärt.
TEIL V Zur Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Religion wird einleitend Andrew Newbergs neurotheologischer Ansatz einer Biologie des Glaubens vorgestellt. Dieser lässt sich in zwei Lesarten fruchtbar machen: In der stärkeren Lesart ist er konkretes Beispiel für einen szientistisch-reduktionistischen Standpunkt in Bezug auf die Religion und macht damit deutlich, inwiefern der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion als herausgehobenes Problemfeld zu betrachten ist. In der schwächeren Lesart erweist er sich als möglicher Vorschlag für eine naturwissenschaftliche Rückbindung religiöser Erfahrungen. Ein Religionsbegriff, der so voraussetzungsarm wie möglich, und damit sogar für Religionsgegner – also auch für szientistische Reduktionisten – nachvollziehbar sein soll, klärt, was genau mit ‚Religion‘ gemeint ist. Im Anschluss wird der Emergenzbegriff auf diesen minimalen Religionsbegriff angewandt, wobei sich erweist, dass Religion nicht nur in einzelnen Bestandteilen, sondern als strukturelles Gesamtphänomen unter den Emergenzbegriff fällt. Abschließend wird gezeigt, welche Konsequenzen sämtliche Betrachtungen für den Dialog zwischen Naturwissenschaft (als szientistischem Reduktionismus) und Religion mit sich bringen.
Vornehmlich einem philosophischen Rahmen verpflichtet, bewegen sich die vorliegenden Betrachtungen durchgängig in interdisziplinären Zusammenhängen. Dabei werden neben philosophiegeschichtlichen, geistesphilosophischen, religionsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten nicht nur erweiterte Kontexte aus dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich in Form psychologischer und sozialphilosophischer Überlegungen mit einbezogen, sondern auch in beträchtlichem Maße naturwissenschaftliche Aspekte dargestellt und diskutiert, so aus der klassischen Physik, der Quantenphysik und der Evolutionsbiologie. Neben historischen Nachvollzügen und Systematisierungen orientieren sich die Darstellungen vor allem an der philosophischen Analyse von Begriffen.
1 Vgl. Riesebrodt, Martin (2000). Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München: C.H. Beck 2001. S. 9.
2 Vgl. Kamen, Al (2005). „George W. Bush and the G-Word“. The Washington Post. Amerikanische Druckausgabe vom 14. Oktober 2005.
3 Die damalige hessische Kultusministerin Karin Wolff stieß 2006 mit dem Vorschlag, kreationistische Lehren im hessischen Schulunterricht zu dulden, auf deutliche Ablehnung. Vgl. Welt.de/dpa (2006). „Kreationisten im hessischen Biologie-Unterricht“. Welt-Online vom 01.11.2006. URL: http://www.welt.de/wissenschaft/article91539/Kreationisten_im_hessischen _Biologie_Unterricht.html (Stand: 14.11.2010).
4 Vgl. Dawkins, Richard (2006). The God Delusion. Boston: Houghton Mifflin und Hitchens, Christopher (2007). God Is Not Great: How Religion Poisons Everything. London: Atlantic Books.