Читать книгу Schneerose - Maya Shepherd - Страница 10
Mary Cromwell
ОглавлениеGierig saugt Mary die kühle Nachtluft durch die Nase ein. Mittlerweile ist es schon wieder über einen Monat her, dass sie zuletzt außerhalb von Moundrell Manor war. Die anderen halten sie wie ein wildes Tier und behaupten sie hätte sich nicht unter Kontrolle. Doch Mary sieht das anders. Wenn man sie immer nur hinter verschlossenen Türen hält, wird sie nie lernen sich zu beherrschen. Ihr Blutdurst ist groß, das stimmt. Vielleicht sogar größer, wie der der meisten, aber sie ist ja auch viel jünger wie die Meisten. Vielleicht braucht ihr Körper deshalb einfach mehr Blut. Außerdem weiß wirklich jeder Vampir, dass Blut frisch aus einem noch heißen Körper gesogen nicht mit dem Blut kalter, gestohlener Konserven aus Krankenhäusern zu vergleichen ist. Es ist leblos und alt.
In der Ferne hört Mary das Rauschen einer Autobahn, es erinnert sie daran wie das Leben durch den Körper der Menschen fließt, wie ein beständiger Strom. Oft kann sie an nichts anderes als Blut denken. Manchmal wacht sie mitten am Tag auf und ihr Verlangen ist so groß, dass sie am liebsten hinaus in die Sonne rennen würde, um zu sterben, einfach nur um diese unerträgliche Sehnsucht und damit verbundene Qual nicht länger spüren zu müssen. Sie ist nun mal was sie ist.
Verträumt blickt sie hinauf in den Sternenhimmel, der immer gleich aussieht, egal wie viele Jahre auch ins Land ziehen. Während die Erde sich fast täglich verändert, ist der Himmel eine unveränderliche Konstante. Genau wie Mary. Sie hat sich nicht freiwillig für ihr Leben als ewige Vierzehnjährige entschieden, doch zu viele Jahrhunderte sind bereits vergangen, um Orlando deshalb noch böse sein zu können. Ganz im Gegenteil, er ist mehr als sie je in ihrem menschlichen Leben besessen hat. Er ist der große Bruder, den sie als Mensch so dringend gebraucht hätte. Vielleicht wäre dann vieles anders gelaufen und Orlando hätte sie nie mit offenen Pulsadern in der dreckigsten Ecke eines elenden, verloderten Dorfes finden müssen. Vielleicht hätte sie ein netter Junge zum Tanzen ausgeführt, sie hätte sich in ihn verliebt und ihm schließlich nach einem herzzerreißenden Antrag das Ja-Wort gegeben. Sie hätten in einem kleinen Haus mit Schafen und Ziegen gelebt und drei Kinder bekommen. Erst einen Jungen und dann zwei kleine Mädchen. Irgendwann wäre sie alt gewesen und hätte sich gemeinsam mit ihrem geliebten Mann einen Sonnenuntergang auf der kleinen Bank vor ihrem Haus angesehen. Stolz und froh darüber, was sie in ihrem bescheidenen Leben erreicht hätten. Doch dazu sollte es nie kommen. Stattdessen fand sie sich in einem Leben voll Saus und Braus wieder, was sie anfangs genoss, doch es wird einem schnell langweilig, wenn man erkennt, was man dafür alles aufgeben muss. Der einzige Trost, der einem bleibt, ist das Blut, wenn es einem heiß und frisch die Kehle hinab läuft.
Ganz in ihren Gedanken versunken, bemerkt Mary den jungen Wachmann vom Nachbarsgrundstück erst, als er bereits angelockt von ihrem hellrosa Renaissance Kleid, auf sie zugesteuert kommt. Sie strahlt darin wie ein Diamant auf einem dunkelblauen Samtkissen. Es ist unmöglich sie nicht zu bemerken. Vergessen sind Orlando und die anderen mit ihren unsinnigen Regeln, jetzt gilt es nur noch das eigene Verlangen zu befriedigen. Neugier liegt in dem Blick des jungen Mannes.
„Guten Abend junges Fräulein, gehst du zu einem Maskenball?“, ruft er Mary freundlich zu als er seine Füße weiter in ihre Richtung steuert. Mary versteht seine Worte nicht, sondern hört nur das beständige Pochen seines Pulses und sieht bereits aus meterweiter Entfernung, wie sein Körper sich hebt und senkt von dem fleißigen Herz, welches stetig Blut durch seinen jungen Körper pumpt. Ihre Schritte eilen ihm entgegen, wie eine Verdurstende einer Fata Morgana in der Wüste.
Als der Mann ihre rotleuchtenden Augen entdeckt, spürt er ein leichtes Misstrauen in sich aufsteigen. Aber er versucht sich zu beruhigen, indem er sich sagt, dass sie nur ein kleines Mädchen ist, welches viel zu spät alleine unterwegs ist. Bestimmt eines der verzogenen und verwöhnten Kinder aus der Nachbarschaft. Trotzdem beschleunigt sich sein Herzschlag.
Mary kann nun sein Blut riechen. Es verströmt einen Duft, der sie an Regen, der auf eine heiße Straße fällt, erinnert. Sie will leben und das ist ihre einzige Möglichkeit sich für wenige Minuten lebendig zu fühlen.
Der Wachmann erkennt erst, dass es das Beste für ihn gewesen wäre, soweit und so schnell wie möglich davon zu laufen, als Mary ihm mit rasender Geschwindigkeit wortwörtlich in die Arme fliegt. Die Wucht ihres Aufpralls schmeißt ihn auf den harten Asphalt. In Panik greift er nach seiner Waffe und hält sie drohend vor sich auf Mary gerichtet. Diese zuckt jedoch nur unbeeindruckt mit den Schultern und ehe er überhaupt begreift, was ihm geschieht, spürt er wie sich ihre spitzen Zähne in die dünne Haut seines Halses bohren. Der erste Schuss halt laut durch die Nacht und Mary lässt ihn los. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt und der rosa Stoff ihres edlen Kleides verfärbt sich am Bauch dunkelrot.
„Was ist denn nur los mit dir? Das wollte ich nicht. Lass mich einen Krankenwagen rufen!“, wendet der Mann schwer atmend ein, während er ungläubig das Blut anstarrt. Er ist noch nicht lange Wachmann in dieser Gegend und es ist das erste Mal, dass er sich gezwungen sah, seine Waffe zu benutzen, sie aber auch noch gegen ein Kind erheben zu müssen, trifft ihn umso mehr. Doch plötzlich weicht der Schmerz aus Marys Augen und sie verzieht ihr Gesicht zu einem schaurigen Grinsen, das dem Mann das Blut in den Adern gefrieren lässt. Scheppernd und klirrend fällt die Munitionskugel aus Marys Bauch auf den vereisten Asphalt. Sie ist aus Aluminium, kein Silber. Wertlos.
So klein und zierlich das Mädchen auch erscheinen mag, besitzt sie die Kräfte eines Bären. Es gibt kein Entkommen für ihn und sein letzter Gedanke, bevor er die Augen schließt, gilt seiner hübschen Freundin, die in einem anderen Stadtteil mit ihrem Baby unter dem Herzen im Bett liegt und von einer glücklichen Zukunft mit ihm träumt.
Für Mary gibt es in diesem Moment weder Zukunft, noch Vergangenheit, sondern nur Verlangen. Sie kann nicht aufhören zu trinken, ihr Durst ist unstillbar und jeder Tropfen ist wie Wasser, welches auf glühendheißem Stein verdampft. Ihre Gier ist so groß, dass das Blut sich in wilden Strömen auf sie und die Straße ergießt. Es spritzt einem Springbrunnen gleich aus dem noch warmen, aber toten Körper. Mary bekommt nichts davon mit, dass sie mitten auf der Straße im Kegel einer Straßenlaterne ihr Mahl einnimmt, daran verschwendet sie nicht mal einen Gedanken. Sie ist nicht mehr in der
Lage zu denken, sondern kann nur noch, gesteuert von ihrem Selbsterhaltungstrieb und ihrer Sucht, trinken, trinken und noch mal trinken.
Wenn es nach ihr ginge, würde sie erst aufhören, bis der Körper des Wachmannes komplett leer gesaugt wäre, nicht mal der Sonnenaufgang könnte sie ablenken. Doch soweit kommt es erst gar nicht, denn plötzlich legt sich eine eiskalte Hand grob an Marys Schulter und reißt sie mit einem Ruck von ihrem Opfer. Marys Augen glühen rot wie Feuer als sie sich wild strampelnd zu
befreien versucht, doch es ist desolat. Zu der einen kalten Hand, gesellt sich eine zweite und eine dritte, bis sie nur so von Armen und Händen gefangen ist. Spitze Nägel graben sich in ihr puppengleiches zartes Kinn und drehen ihren Kopf zur Seite, den Blick geradewegs in Augen, die einem die Seele zu Eis gefrieren lassen könnten. Claudia. Pure Verachtung und Hass schlagen Mary entgegen und lassen sie in ihren Fluchtversuchen inne halten.
„Du nichtsnutziges, dummes Ding, was glaubst du eigentlich, was du hier tust?“, zischt sie ihr einer Schlange gleich entgegen. Vor Angst gelähmt, kann Mary sich weder rühren, noch sprechen.
„Dieses Mal bist du zu weit gegangen. Dieses Mal hast du dein eigenes Todesurteil unterschrieben!“, spricht die Schlange mit den gelben Augen, wobei sich ein eisiges Lächeln auf ihre dunkelroten Lippen legt. Ein Schnippen mit dem Finger genügt und zwei der fünf männlichen Wachen, führen Mary davon, während die anderen drei sich darum kümmern werden, den armen, hilflosen Wachmann zu entsorgen, der Mary zum Opfer gefallen ist.
Auch wenn sie schon lange keinen Herzschlag mehr besitzt, bildet sie sich ein, diesen nun bis zum Hals schlagen zu hören. Zitternd wie Espenlaub hat sie sich in eine Ecke des großen Thronsaals verzogen und beobachtet von dort aus angsterfüllt das Geschehen. Die beiden Wachen, die sie herbrachten, haben sich vor ihr aufgebaut, damit sie nicht auf die Idee kommt zu fliehen. Doch wohin sollte sie schon gehen? Es gibt keinen Ort, an den sie flüchten könnte. Moundrell Manor ist das einzige Zuhause, das sie hat. Was ihr jedoch am meisten Angst macht, sind Claudias Augen, die sie unablässig taxieren. Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass sie sie auf frischer Tat ertappt haben und jedes Mal prophezeite ihr Claudia, dass sie dafür sterben müsse, doch jedes Mal verschonte die Königin sie aufs Neue. Aber auch das vermag Marys Angst nun nicht zu mindern.
Als die großen, schweren Ebenholztüren auffliegen und mit lautem Donnern gegen die schweren Steinwände schlagen, entfährt Mary ein spitzer Schrei, bevor sie sich die blutverschmierten Hände vor den Mund schlägt. Mit schnellem Schritt betritt die wunderschöne Königin der Vampire den Raum. Ihr schwarzes Haar fällt in sanften Wellen über das purpurfarbene Kleid. Die dunkle Krone auf ihrem Kopf glitzert schöner als jeder Sternenhimmel. Augenblicklich richten sich alle Augenpaare auf sie, um sofort in Demut zu Boden zu gleiten. Erst als Königin Chasity Platz auf dem Thron genommen hat, erlaubt sie ihnen mit einem machtvollen Klatschen in die Hände die Blicke wieder zu heben.
„Seid mir gegrüßt, Kainskinder.“, sagt sie feierlich und lässt ihre Augen durch den Raum wandern. Mit einem kurzen Nicken und einem Lächeln auf den Lippen, erweist sie ihrer treusten Beraterin Claudia eine besondere Ehre. Als ihr Blick zu Mary wandert, verengen sich ihre Augen zu Schlitzen und ihre makellose Stirn wirft verärgerte Falten.
„Schon wieder!“, entfährt es ihr voller Zorn, doch in Chasitys Augen sieht Mary etwas, was ihr Hoffnung gibt: Enttäuschung. Denn anders als bei Claudia, strahlt der Blick der Königin, Wärme und Güte aus, welche im Moment jedoch hinter einem Schleier der Strenge verborgen werden.
„Wie konnte das passieren? Wer hatte Wachdienst?“, fordert Chasity zu erfahren und wendet ihren Blick von Mary an einen der Wachmänner, der direkt an Claudias Seite steht. Mit zusammengekniffenem Mund deutet er auf die beiden Männer, die sich vor Mary postiert haben. Als Mary den Blick sieht, mit dem Chasity sie betrachtet, wird ihr eiskalt und sie kauert sich noch weiter in die Ecke.
Mit einem lauten Knarren des alten Holzes erhebt sich Chasity aus ihrem schmuckvoll geschnitzten Thron. Beängstigend hallen ihre langsamen, aber zielstrebigen Schritte über den alten Steinboden. In gespannter Erwartung halten fast alle Anwesenden den nicht vorhandenen Atem an, nur Marys angstvolles Zittern durchbricht die Stille. Auch wenn der Blick nicht ihr, sondern den Wachen galt, fürchtet sie das nun wirklich ihr letztes Stündlein geschlagen hat.
Das flackernde Kerzenlicht wirft unruhig zuckende Schatten an die kalten Wände, während Chasitys Schatten vor den Gemälden ihrer Vorfahren immer größer wird je näher sie Mary kommt.
„Chasity, vergib mir. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Es kommt bestimmt nie wieder vor…“, jammert sie unter blutigen Tränen und drängt sich immer weiter an die eisige Steinwand. Chasity beachtet sie jedoch keines Blickes und schreitet immer weiter voran.
„Es tut mir leid…“, fleht Mary unablässig um Vergebung und hält erst den Mund, als Chasity bereits vor ihr und den Wachen steht und ihr Blick geradewegs auf sie richtet. Jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn dann fährt sie mit einer Geschwindigkeit, über die nur ein Unsterblicher verfügen kann, zu einem der Wachmänner herum und reißt ihm mit einer tödlichen Präzision das Herz aus der Brust. Er schreit vor Schmerz laut auf und geht auf die Knie, nur um unmittelbar in einer Blutfontäne zu verstummen. Das kalte Blut spritzt gegen die bordeauxfarbenen Vorhänge und ergießt sich über Mary, die nun den Schmerzensschrei des Vampirs fortsetzt und sich weinend und zitternd die Hände vor die Augen schmeißt, als Chasity auch die andere Wache ihres toten Herzens entledigt, gerade als er dazu ansetzt zu fliehen. Ihre leblosen Körper fallen vor Marys Füße, als Chasity sich nur ungeniert die Hände an einem ihr gereichten feuchten Tuch abwischt und zu den anderen Versammelten umdreht. Dieser eine winzige Blick, den sie an Mary gesandt hat, reicht aus, um dem Mädchen begreiflich zu machen, dass alleine sie für den gewaltsamen Tod der Männer verantwortlich ist. Eine Last, die Mary das Herz bricht. Das wollte sie nicht. Niemand sollte ihretwegen leiden, weder der Wachmann, dessen Blut sie getrunken hat, noch die beiden Vampire, die sie haben unabsichtlich entkommen lassen.
„Ich dulde keine Nachlässigkeit!“, erklärt die Königin ihre Tat mit einer kalten Endgültigkeit.
Aus ihren Untertanen löst sich eine dunkelhäutige Frau hervor und eilt auf die Königin und das zitternde Etwas, was einst Mary war, zu, wobei ihr langes braunes Haar wie ein Schleier hinter ihr herfliegt. Behutsam geht sie vor Mary in die Knie, wobei ihr fliederfarbenes Kleid sich vom Blut rot verfärbt. Sie zieht das Mädchen hoch, worauf diese sich bereitwillig in ihre Arme fallen lässt und laut zu schluchzen beginnt. Sanft streicht die Vampirfrau ihr über die roten Locken und stört sich nicht im Geringsten daran, dass Mary nun den Ausschnitt ihres Kleides mit Blut und Tränen vollkommen ruiniert.
„Pscht, alles wird wieder gut…“, flüstert sie ihr liebevoll ins Ohr und küsst sie auf ihre kleine Stirn.
Diese versöhnliche Situation wird jedoch von einer Stimme, so schneidend und kalt wie Eis, unterbrochen.
„Und das soll es jetzt gewesen sein?“, schallt es empört von Claudia zu ihrer Königin durch den Raum. „Du tötest die Wachen und lässt den eigentlichen Auslöser am Leben?! Du weißt, dass es weder das erste Mal, noch das letzte Mal ist. Sie wird damit nicht aufhören, aber vielleicht sollten wir sie beim nächsten Mal einfach machen lassen, damit dann die Sonne uns die Arbeit abnimmt, denn das dumme Ding, würde es ja nicht mal mitbekommen!“
„Sie ist krank. Es ist nicht ihre Schuld!“, knurrt nun die dunkelhäutige Schönheit zurück, während sie Mary beschützend an ihre Brust drückt.
Ein abfälliges Schnauben ist die einzige Antwort, die sie darauf von Claudia bekommt, die ihren Blick fordernd auf Chasity richtet.
„Es ist nicht, weil sie süchtig ist, oder? Jeder andere wäre schon längst zum Tode verurteilt worden. Der wahre Grund, dass du sie immer wieder verschonst ist Orlando! Du willst ihm seine kleine Schöpfung nicht wegnehmen!“, wirft Claudia wütend ihrer Königin vor. Nun kneift diese verärgert die Augen zusammen und legt ebenfalls schützend einen Arm auf Marys bebenden Schultern.
„Sie gehört zur Familie!“, verteidigt sie die Ziehtochter ihres Cousins.
„Und das reicht als Entschuldigung für alles?“, fordert nun auch der Wachmann an Claudias Seite zu erfahren.
Genervt stöhnt Chasity auf und nimmt den Platz auf ihrem Thron wieder ein, um allen Anwesenden zu demonstrieren, wer hier das Sagen hat.
„Wie ihr alle wisst, liegt die Krone seit jeher in meiner Familie und als Königin erwarte ich, dass die königliche Familie von allen mit Respekt behandelt wird. Orlando und Mary gehören zu dieser Familie und so werde ich es nicht länger dulden, wenn hier vor allen etwas Negatives über sie gesagt wird. Haben wir uns verstanden, Claudia?“
Verärgert presst Claudia ihre Lippen feste aufeinander. Es ist immer dasselbe Spiel.
„Verzeiht meine erneute Frage, verehrte Königin, aber wie wollt Ihr uns erklären, dass Orlando sich nicht bei einer Versammlung blicken lässt? Sollte ein Mitglied der königlichen Familie neben Rechten, nicht auch Pflichten haben? Ich frage mich, wo er schon wieder steckt.“, wieder hat der Wachmann das Wort ergriffen, womit er nur noch mehr Chasitys Ärger auf sich zieht, doch Claudia nickt sofort zustimmend und sieht dies als Grund an, um erneut das Wort zu ergreifen.
„Ganz recht, Victor. Es ist doch jedes Mal so. Alle sind da, nur Orlando fehlt. Ich frage mich wo er dieses mal steckt, aber ich wette seine ach so geliebte Ziehtochter, kann uns da weiterhelfen.“
Ihr Blick jagt zu Mary, die sofort verängstigt den Kopf senkt. Weil nun auch alle anderen unruhig werden und eine Antwort fordern, sieht sich Chasity nun zum ersten Mal gezwungen sich direkt an Mary zu wenden.
„Mary, weißt du wo er ist?“
Sofort schüttelt diese ihren zarten Kinderkopf, doch damit gibt sich Claudia noch lange nicht zufrieden.
„Warum fragst du nicht Vivienne, ob sie auch die Wahrheit spricht?“
Die dunkelhäutige Frau, an Marys Seite erstarrt. Sie besitzt eine einmalige Gabe. Sie ist als einzige der Wahrheitslesung mächtig, was bedeutet, dass sie eine Lüge erkennt, auch ohne die Wahrheit zu kennen. Als sie nun zögert und schwer schluckt, sieht Chasity empört zu Mary, die ihre großen Augen flehend zu Vivienne gleiten lässt.
„Sie sagt die Wahrheit!“, presst sie nun leise aus zusammengepressten Lippen hervor und neigt schuldbewusst ihren Kopf.
Chasity reicht dies als Antwort, auch wenn Claudia sich empört und laut schnaubend abwendet. Alle haben Viviennes Zögern bemerkt und wissen nicht, wie sie es deuten sollen. Mit einem Klatschen in die Hände erklärt Chasity als Königin die Versammlung für beendet. Während Mary in ihr Zimmer gebracht wird, tragen die übrigen Wachen die Leichen ihrer einstigen Kameraden in den Innenhof von Moundrell Manor, wo sie die Sonne bei Anbruch des Tages zu Asche verwandeln wird.