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Lia Green

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„Wo ist Lindsay?“, ist das Erste, was Lia fragt, als sie das Klassenzimmer verlässt und Mike auf dem Flur alleine gegenüber steht.

Er reagiert enttäuscht. „Ist das alles was dich interessiert? Wie wäre es mal mit ‚Hallo Mike, es tut mir leid wie ich mich Freitag im Club benommen habe’?“

Irritiert blickt Lia ihn an. Kritik ist sie von Mike nicht gewöhnt. An den Abend im ‚Exit’ erinnert sie sich kaum noch und deshalb wüsste sie auch nicht, wofür sie sich zu entschuldigen hätte. Sie weiß zwar, dass der Abend damit geendet hat, dass der Fremde sie wieder nach Hause begleitet hat, aber deshalb kann Mike ja wohl kaum sauer sein. Immerhin hat sie ihm mehr als einmal schon deutlich gemacht, dass seine Schwärmereien für sie vollkommen aussichtslos sind. Zumal sie auch gar nicht verstehen kann, was er an ihr findet. Sie ist meistens schlecht gelaunt, depressiv und von Natur aus Pessimistin.

„Hallo Mike. Weißt du wo Lindsay ist?“, antwortet sie ihm nun also genervt, aber ringt sich dabei ein winziges Lächeln ab.

„Sie ist schon in der Cafeteria“, entgegnet Mike nur, während sie sich auf den Weg dorthin machen.

Natürlich ist es bereits mehr als überfüllt. Ihr alter Stammtisch bei den Mülltonnen ist jedoch noch frei, komplett frei. Keine Lindsay in Sicht. Lia hasst es normalerweise ihren Blick über die Schüler schweifen zu lassen, doch dieses Mal sieht sie sich dazu gezwungen. Erstaunt entdeckt sie Lindsay an einem der großen Gruppentische, die mitten im Raum stehen. Dort sitzt sie mit Mädchen aus ihrer Theater AG. Sie scheint Lias Blick im Rücken zu spüren, denn sie dreht sich plötzlich in Lias Richtung. Ein kurzes Lächeln huscht über ihre Mundwinkel begleitet von einem zögerlichen Winken, bevor sie sich wieder den anderen Mädchen zuwendet. Enttäuschung macht sich in Lia breit. Was ist passiert, dass Lindsay sich plötzlich von ihr abwendet? Hat sie etwas so schreckliches Freitagnacht gemacht, dass sie nicht mal mehr etwas mit ihr zu tun haben will? Aber warum lächelt sie ihr dann zu? Ist es albern, wenn sie sich direkt Gedanken macht, nur weil Lindsay einmal seit zwei Jahren an einem anderen Tischen sitzen will? Im Gegensatz zu Mike und ihr hat sie auch noch andere Freunde. Wahrscheinlich hätte sie sogar noch viel mehr Freunde, wenn sie sich nicht mit den beiden größten Losern der Scarborough Grammar School abgeben würde.

„Kommst du?“, will Mike wissen und jongliert sein voll beladenes Tablette an ihr vorbei. Ihr Zweiertisch fühlt sich jetzt, wo sie zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder alleine daran sitzen, leer an. Als Mike Lias bekümmerten Blick in Lindays Richtung bemerkt, legt er sanft seine warme Hand auf ihre.

„Du hast dir ja gar nichts zu essen geholt. Hast du keinen Hunger?“

Lia schüttelt den Kopf. „Ich habe gleich Schwimmunterricht, da ist mir schon schlecht genug.“

Mike zuckt mit den Schultern und widmet sich seinen Pommes, ohne weiter auf das Thema Lindsay einzugehen. Doch Lia kann das nicht einfach so im Raum stehen lassen.

„Was habe ich denn Freitagabend so schreckliches gemacht, dass Lindsay nicht mehr mit mir spricht?“

„Lindsay ist nicht sauer auf dich.“

„Und warum sitzt sie dann nicht bei uns?“

„Vielleicht will sie einfach mal etwas mit anderen machen.“

„Nach 2 Jahren?“

„Kann doch sein...Willst du etwas Schokopudding?“, meint Mike nur und versucht vom Thema abzulenken.

„Hat sie denn nichts im Unterricht zu dir gesagt?“

„Verdammt, Lia! Die Welt dreht sich nicht immer nur um dich. Nur weil sie heute mal woanders sitzen möchte, heißt das nicht, dass sie direkt sauer auf dich ist. Langsam wirst du paranoid!“, brummt Mike zornig und Lia versteht die Welt nicht mehr. So kennt sie ihn gar nicht. Seitdem sie sich im Alter von drei Jahren kennen gelernt haben, hat er sie nie kritisiert. Ganz im Gegenteil er hatte immer eine Ausrede für sie parat, erst seit den letzten paar Wochen reagiert er häufig gereizt auf sie. So als hätte sie irgendetwas falsch gemacht.

„Was war denn jetzt Freitagnacht zwischen euch?“

„Gar nichts ist zwischen uns. Genau das ist es ja! Stell dir vor ausnahmsweise geht es mal nicht um dich.“, anstatt sich zu beruhigen, redet Mike sich nur noch mehr in Rage und weil er das selbst auch bemerkt, zieht er es vor zu gehen.

„Sorry Lia, aber ich muss heute mal alleine sein. Hat wirklich nichts mit dir zu tun.“, sagt er und trägt sein kaum angerührtes Tablett davon, sodass Lia am Mülltonnen-Tisch alleine zurückbleibt.

Ihr treuster Freund sind eben doch ihre Kopfhörer, die sie von ihrer Umgebung mit „Hurt“ von Johnny Cash wie einen Schutzwall abschotten.

What have I become my sweetest friend?

Everyone I know goes away in the end.”

Lias Knie zittern und ihr Magen krampft sich schmerzhaft zusammen als sie die Eingangshalle des Schwimmbads betritt. Der Montag ist ohnehin der schlimmste Tag der Woche, aber ihn auch noch mit Schwimmunterricht enden lassen zu müssen, ist purer Horror. Sie schwänzt den Unterricht so oft sie kann oder behauptet sie hätte ihre Periode, doch ihrer Lehrerin ist nicht dumm und weiß, dass die Ausrede nur einmal im Monat zieht. Sie hatte sie vor zwei Wochen und letzte Woche war sie einfach gegangen mit der Begründung, dass sie Kopfschmerzen hätte. Sie hat also bereits zweimal hintereinander gefehlt, was ihr ein drittes Mal zu fliehen unmöglich macht. Lia muss da heute durch, egal wie sehr ihr ganzer Körper sich auch dagegen wehrt.

Die Augen der anderen Schüler starren ihr bereits unheilvoll entgegen als sie sich als Letzte in die Schlange für das Drehkreuz anstellt, so dass sie auch als Letzte die große Mädchen-Sammelumkleide betritt. Schnell huscht sie in eine der zwei Einzelkabinen. Natürlich nicht, ohne das ihr Verhalten unter lautem Gekicher direkt von Tracy und ihren Dienerinnen kommentiert wird.

„Sie hat wohl Angst, dass wir ihr etwas weggucken.“

„Vielleicht hat sie ja auch Hängetitten und schämt sich.“

„Blödsinn! Mit Ausziehen hat die doch sonst auch keine Probleme, die hält sich einfach nur mal wieder für etwas Besseres!“

Ihre Worte schneiden wie Messer in Lias Haut. Sie möchte ja nicht mal dazugehören, sondern einfach nur von den anderen in Ruhe gelassen werden. Selbst ignoriert zu werden, wäre ihr lieber als die ständigen Lästereien, die sie nicht mal mehr hinter vorgehaltener Hand machen, sondern offen, für jeden hörbar und besonders für sie. Lia versucht nicht zu lauschen, sondern stattdessen an etwas anderes, etwas schönes zu denken. Doch zurzeit gibt es da nicht viel in ihrem Leben, was sie noch zum lächeln bringt, nachdem sie nun auch noch Mike und Lindsay verloren hat. Trotzdem gleiten ihre Gedanken zu IHM. Sie ist sich nur nicht sicher, wie sie ihn einordnen soll, als Geschenk oder doch eher als Fluch?

Bereits als die anderen die Umkleide schon lange verlassen haben, wartet Lia noch einen Moment um sicher sein zu können, dass wenn sie die Schwimmhalle betritt, niemand mehr in den Gängen auf sie lauert. Vielleicht wird sie ja langsam wirklich paranoid.

Minuten später eilt sie dann endlich viel zu spät in die Schwimmhalle. Sie hüpft direkt in das Becken, ohne das auch nur einer ihrer Mitschüler oder der Lehrer die Zeit hätten etwas zu ihr zu sagen. Da das gesamte Schwimmbecken für zwei Schulstunden für sie gemietet wurde, ist es in acht verschiedene Bahnen unterteilt, die sich jeweils vier Schüler miteinander teilen müssen. Lia hat Glück, denn in der Bahn bei Tru ist noch ein Platz frei. Neben Tru belegen die Bahn noch zwei Jungen, jedoch glücklicherweise weder Bradley noch Freunde von ihm. Tru schmunzelt, als sie Lia neben sich erblickt. Ihr langes kastanienfarbenes Haar klebt bereits nass an ihrem Kopf und betont dadurch noch mehr ihre großen Rehaugen. Ein Blick genügt, damit Lia sich schon sicherer und weniger verloren fühlt.

„Bist du sicher, dass du in der selben Bahn wie ich schwimmen willst?“, erkundigt sich Tru ungewohnt heiter, sodass Lia verwundert ihre Stirn in Falten legt.

„Wie meinst du das?“

„Naja, ich werde dich gnadenlos abziehen und du wirst wie ein totaler Loser neben mir aussehen“, entgegnet ihr Tru frech und verschlägt Lia damit für einen Moment die Sprache, doch als sie das Grinsen auf Trus Lippen entdeckt, kontert sie keck.

„Das wollen wir ja mal sehen. Außerdem bin ich eh schon ein Loser, ich habe nichts mehr zu verlieren.“

Tru lacht ihr ansteckendes Lachen. „Das ist die richtige Einstellung. Lass dir von den anderen bloß nicht den Spaß verderben.“ Ein Zwinkern huscht über ihre braunen Augen, bevor der Startpfiff ertönt. Tatsächlich legt Tru ein enormes Tempo an den Tag, um einiges schneller als alle anderen aus der Klasse. Es kostet Lia viel Mühe und Anstrengung mit ihr mithalten zu können, doch letztendlich schafft sie es und so ziehen sie gemeinsam eine Bahn nach der anderen. So schnell, dass der Lehrer die beiden Jungen, die sich mit ihnen die Bahn teilen sollten, auffordert sich auf zwei der anderen Bahnen aufzuteilen. Er ist beeindruckt von Lias Talent, was sie bisher immer verheimlicht hat, nur um ja nicht aufzufallen. Sie besitzt zwar bei weitem nicht die Ausdauer und die Geschwindigkeit von Tru, aber sie spielen eindeutig in derselben Liga, nur dass Tru mehr Übung hat.

Als die beiden Stunden vorbei sind, die sich sonst zäh wie Honig für Lia dahin ziehen, kann sie es gar nicht glauben. Die Zeit erschien ihr wie wenige Minuten. Doch so schnell sie im Becken auch geschwommen ist, umso mehr trödelt sie nun damit das Becken zu verlassen. Sich die Duschen mit den anderen Mädchen teilen zu müssen, ist ihr ein Graus. Zudem sie sich nicht immer auf die Hilfe von Tru verlassen kann. Verloren blickt sie zu ihr empor, als diese aus dem Becken steigt und reißt geschockt die Augen auf. Trus kompletter Rücken ist mit alten Narben überseht. Lauter Striemen, fast wie das Karomuster eines Schottenrocks. Obwohl sie jetzt schon seit ein paar Monaten in derselben Klasse sind, ist es Lia noch nie aufgefallen. Tru scheint ihren Blick zu bemerken und schmeißt schnell ihr langes Haar über ihren Rücken, bevor sie in die Duschen davoneilt und Lia einen verärgerten Blick zu wirft.

„Was ist los, Liandra? Wollen Sie das Wasser nicht verlassen?“, erkundigt sich ihr Lehrer, als er beginnt die Abgrenzungen der Bahnen einzurollen.

„Wäre es vielleicht möglich, dass ich noch ein bisschen länger bleibe? Ich würde gerne noch etwas trainieren, damit ich Tru beim nächsten Mal schlagen kann.“

Der Lehrer lacht. „Bleiben Sie ruhig noch etwas. Aber mir würde es schon reichen, wenn Sie beim nächsten Mal überhaupt auftauchen würden. Sie scheinen ja ein echtes Naturtalent zu sein.“

Als Lia schließlich das Wasser verlässt, knurrt ihr Magen und ihre Beine zittern vor Anstrengung. Das heiße Wasser unter der Dusche über den Körper laufen zu lassen, wirkt befreiend. Für heute hat sie den Tag überstanden und es war gar nicht mal so schlimm, wie sie dachte. Dank Tru. Sie ist nett und hilfsbereit und doch unnahbar. Im Grunde weiß sie nichts über sie, außer dass sie wahrscheinlich denselben rockigen Musikgeschmack teilen. Auch Tru ist eine Außenseiterin und Einzelgängerin, doch niemand würde es wagen ihr zu nahe zu treten. Es kursieren die wildesten Gerüchte über sie. Einige behaupten sie wäre in einer Motorradgang und sei eine Schlägerbraut, andere sagen sie sei schon mal im Knast gewesen und wieder andere sie deale mit Drogen. Lia glaubt nichts davon, auch wenn die vielen Narben auf ihrem Rücken sie ängstigen. Es müssen schreckliche Schmerzen gewesen sein.

Wie bereits den ganzen Tag über schwenken ihre Gedanken zurück zu dem Fremden. Wenn sie doch nur seinen Namen wüsste oder irgendetwas über ihn, was ihr verraten würde, was für ein Mensch er ist. Vielleicht ist er ja ein totaler Idiot, so wie Bradley. Doch das kann sich Lia einfach nicht vorstellen. Sie hofft, dass sie so etwas einfach spüren würde. Er ist anders als alle Jungen, die sie bisher kennen gelernt hat. Sie kann nur nicht genau sagen in welcher Hinsicht anders.

Der nächste Schock lässt jedoch nicht lange auf sich warten. Als sie in die Sammelumkleiden zurückkehrt, sieht sie bereits, dass alle Spinde weit offen stehen, einschließlich dem, in den sie ihre Kleider gesteckt hat. Er ist leer. Natürlich. Verzweifelt wandert Lias Blick zum Mülleimer. Es wäre nichts Neues, wenn die Mädchen etwas von ihr dort hinein geworfen hätten. Zu ihrem Glück oder auch Pech, wie man es nimmt, findet sie darin ihren dunkelblauen Rucksack, dessen Inhalt sie ausgeleert neben Bananenschalen und benutzten Tampons aus dem Müll fischen kann. Wenn es das erste Mal wäre, müsste sie sich wahrscheinlich übergeben, doch so beeilt sie sich nur mit vor Ekel verzerrtem Gesicht ihre Sachen zurück zu bekommen. Ihre Schuluniform bleibt jedoch verschwunden, so lange und gründlich sie auch danach sucht. Tränen schießen ihr in die Augen, die sie krampfhaft zu unterdrücken versucht. Warum kann sie nicht einfach sein wie alle anderen? Warum kann sie sich nicht anpassen? Es würde alles so viel leichter machen.

Mittlerweile ist ihre Haut von alleine getrocknet, aber ihr Badetuch hätte sie trotzdem gerne, um sich wenigstens etwas vor dem eisigen Wind und den Blicken Fremder schützen zu können. Zum Glück schneit es gerade nicht, trotzdem ist sie sich sicher, dass sie sich bei den Minusgranden nur im Bikini und mit nassen Haaren mehr als nur eine Erkältung holen wird. Auch wenn sie sich noch so unwohl dabei fühlt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als nur mit dem Rucksack und ihren Badesachen das Schwimmbad zu verlassen. Da das Schwimmbad montags speziell für ihren Schwimmunterricht öffnet, kann sie auch nicht auf die Hilfe von anderen Badegästen oder dem Personal hoffen. Der einzige Mensch, der außer ihr, wahrscheinlich noch hier ist, ist der Wachmann, der die Aufnahmen der Sicherheitskameras im Blick behält und jetzt dank ihr sicher etwas zu lachen hat.

Deprimiert tritt Lia aus dem Gebäude. Montag ist der einzige Tag in der Woche, an dem sie nicht mit dem Auto zur Schule fährt, eben wegen dem verdammten Schwimmunterricht. So muss sie sich jetzt nicht nur die Schmach eines zehnminütigen Fußweges, vorbei an einer Hauptverkehrsstraße, zur nächsten Bushaltestelle geben, sondern auch noch eine fast halbstündige Fahrt mit einem vollbesetzten Bus zu ihr nach Hause. Zudem ist sie sich sicher, dass Tracy und die anderen sich hier irgendwo noch herumtreiben, um ihre Tat noch besser genießen zu können. Der Wind weht ihr bereits kalt um ihre nackte Haut, sodass sich sämtliche Härchen ihres Körpers schützend aufstellen. Ihre Zähne beginnen bereits vor Kälte zu klappern. So oder so, bleibt ihr nichts anderes übrig, denn es gibt niemanden, den sie anrufen und um Hilfe bitten könnte. Ihr Vater hat für so Kindereien keine Zeit, Mike besitzt kein Auto und bei Lindsay traut sie sich zur Zeit nicht anzurufen. Seit langem hat sie sich nicht mehr so alleine gefühlt. Der dicke Kloß in ihrem Hals droht zu brechen, aber mitten in der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen, wäre eindeutig zu viel.

Die ersten Autofahrer beginnen bereits zu Hupen als sie Lia in ihrem spärlichen Outfit am Straßenrand, wie eine Bordsteinschwalbe, stehen sehen. Tapfer beißt sie die Zähne zusammen und läuft stur geradeaus, während sie tapfer die Tränen runterschluckt. Sie spürt von überall her Blicke in ihrem Rücken wie Messerspitzen. Ein Kichern hier und Schritte dort lassen sie zusammenschrumpfen wie eine Maus. Ach wäre sie doch nur eine Maus und könnte sich in irgendeinem Loch verkriechen und am besten nie wieder rauskommen.

Doch plötzlich hört sie das langsame Surren eines Motorrads direkt neben sich. Bedenklich nah kommt ihr die Maschine, bevor sie schließlich auch noch direkt vor ihr zum Stehen kommt. ‚Oh nein, nicht auch das noch’, denkt sich Lia ängstlich. Sie will bereits an dem Fahrer vorbeisteuern, ohne ihn weiter zu beachten, als sie seine, beziehungsweise ihre Stimme hört.

„Lia, komm ich nehme dich mit.“

Erstaunt fährt Lia zu der Person herum. Mittlerweile hat sie das Visier ihres Helmes hochgeklappt, sodass Lia die warmen Augen von Tru erkennt. Wieder mal ist sie ihre strahlende Retterin in der Not. Dass sie Motorrad fährt, passt wie die Faust aufs Auge. Tru steigt von ihrer schwarzen Honda, zieht ihren Ledermantel, den sie verbotenerweise immer über ihrer langweiligen Schuluniform trägt, aus und reicht ihn Lia, ohne irgendwelche unangenehmen Fragen zu stellen. „Zieh den an, damit du nicht frierst.“

Dankbar schlüpft Lia in das seidene rote Innenfutter des Mantels, welches noch warm von Trus Körper ist und nach ihr riecht. Es ist der würzige Duft des Herbstes von gerösteten Kastanien, gemischt mit Tannennadeln und buntem Laub. Wunderschön und stark zu gleich, so wie Tru. Als sie ihre Hände um Trus Taille schließt, startet diese bereits den Motor ihrer Rennmaschine und wenige Sekunden später geht es auch schon los. In rasantem Tempo sausen sie vorbei an den Autos in Richtung Sonnenuntergang. Lia möchte vor Freude laut los schreien, nie zuvor hat sie sich so frei und unbeschwert gefühlt. Vielleicht sollte sie sich auch ein Motorrad kaufen, wenn sie sich damit dann immer so fühlen würde.

Als Tru merkt, dass es Lia gefällt, gibt sie noch mehr Gas, sodass die Fahrt leider viel zu schnell vorbei ist und sie vor dem Anwesen ihres Vaters zum stehen kommen. Seufzend steigt Lia von dem Motorrad. Mit einem Frösteln lässt Lia den Mantel von ihren Armen gleiten und senkt den Kopf, damit Tru nicht sieht wie rot sie vor lauter Scham geworden ist.

„Danke fürs Fahren!“

„Kein Problem“, meint Tru nur lächelnd, sie scheint jedoch noch mehr sagen zu wollen, aber hadert mit sich.

„Was soll das eigentlich immer mit den Männern? Ich meine du erscheinst mir gar nicht wie ein Mädchen, dass es drauf anlegen würde. Und unter den Lästereien leidest du tagtäglich. Warum hörst du dann nicht einfach auf damit? Du hast das doch gar nicht nötig.“

Selbst Tru hat es also schon mitbekommen. Die Gerüchte über sie eilen ihr wohl voraus. Wenn es wenigstens nur Gerüchte wären. Unsicher schabt Lia mit ihren nackten Füßen über die kleinen Kieselsteine der Einfahrt und entscheidet sich dann für die Wahrheit, so lächerlich sie sich auch anhören muss.

„Ich muss das tun!“

So wie sie es sagt, hat Tru keinen Zweifel daran, dass es die Wahrheit ist oder Lia es zu mindestens für die Wahrheit hält, trotzdem fragt sie: „Warum?“

„Weil es mir sonst schlecht geht.“

„In welcher Hinsicht?“

„Ich fühle mich sonst schwach und kann kaum klar denken. So als hätte ich wahnsinnigen Hunger, aber essen kann ich nichts. Es ist wie ein innerer Zwang und danach geht es mir immer eine Zeitlang besser.“

Unschlüssig steht Lia vor der Haustür herum, während ihr Herz auf unerklärliche Weise wie wild klopft. Hoffentlich denkt sie jetzt nichts Falsches von ihr! Sie mag Tru und sie würde gerne mehr Zeit mit ihr verbringen, doch es fiel ihr noch nie leicht, das den anderen Menschen auch zu zeigen oder gar zu sagen. Als Tru nichts erwidert, dreht sie sich dann doch herum, um zurück in das einsame Zuhause zu kehren.

„Du solltest dich besser in Acht nehmen!“, ruft Tru ihr da plötzlich nach. Verwirrt fährt Lia wieder zu ihr herum und bemerkt das Zögern in Trus Gesicht.

„Vor Tracy und den anderen?“

„Nein...“, sie stockt „Ich habe dich neulich gesehen...mit dem Typ. Er ist...nicht der Richtige für dich.“

Verwundert starrt Lia sie an. Meint sie etwa den Fremden von letzter Nacht?

„Woher willst du das wissen? Kennst du ihn?“

„Sagen wir es mal so, wir sind alte Bekannte. Du solltest dich wirklich besser von ihm fern halten.“, erwidert Tru eindringlich und löst dabei jede Menge Fragen in Lias Kopf aus. Ihr wird ganz kalt und das nicht nur von den eisigen Schneeflocken, die vom Himmel fallen.

„Was hat er denn gemacht?“

„Es geht nicht darum, was er gemacht hat, sondern WER er ist und was er noch tun könnte.“

Je länger Lia mit Tru spricht, desto weniger versteht sie.

„Woher kennst du ihn?“

„Vertrau mir einfach und wenn du mir nicht glaubst, dann frag ihn einfach mal wie alt er ist. Manchmal sind die Dinge nämlich nicht so einfach wie sie scheinen.“ Tru schiebt das Visier ihres Helmes wieder runter, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie das Gespräch offensichtlich für beendet hält, obwohl Lia ihr am liebsten Löcher in den Bauch fragen würde. Nachdenklich blickt sie ihr nach, als Tru bereits davonrast.

Es stellt sich ihr nicht nur die Frage WER der Fremde ist, sondern auch WER Tru ist. Alles erscheint wie ein großes Rätsel, undurchschaubar und irgendwie auch unheimlich. Sie hat das Gefühl, dass sie, wenn sie das Geheimnis lüftet, mehr erfahren wird, als ihr überhaupt lieb ist. Trotzdem reizt es sie so sehr, dass es sie bis in ihre Fingerspitzen kribbelt. Es ist an der Zeit den Namen des Fremden zu erfahren, so viel steht fest. Wenn sie mehr über ihn herausfindet, erfährt sie dadurch vielleicht auch indirekt mehr über Tru, immerhin scheint sie ihn zu kennen.

Schneerose

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