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Lia Green

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Das Zwitschern von Vögeln dringt durch die geschlossenen Fenster in das noch dunkle Zimmer. Ein kühler Windhauch streicht über Lias nackten Rücken und kitzelt die feinen Härchen. Erholt schlägt sie die Augen auf und gähnt erst mal kräftig, bevor sie sich die dicke Decke bis zum Hals zieht. Vogelgezwitscher im Winter? Wie viel Uhr ist es denn schon? Hat sie vergessen ihren Wecker zu stellen? Einen Blick auf die Uhr revidiert diese Annahme. Erst kurz vor sieben, sie könnte locker noch zehn Minuten schlafen. Es grenzt schon an ein Wunder, dass sie ohne das schrille Klingeln des Weckers erwacht, aber dass sie tatsächlich die Lust verspürt sofort aufzustehen, ist beängstigend. Normalerweise würde sie sich genervt das Kissen über den Kopf ziehen, in der Hoffnung, den Wecker dann später nicht zu hören und so für sich selbst eine Ausrede zu haben, warum sie heute mal wieder nicht in die Schule geht. Sonst hat sie morgens immer Magen- und Kopfschmerzen, wenn sie an ihre Mitschüler denkt und wie diese sie heute wohl wieder quälen werden. Doch gerade fühlt sie sich seltsam befreit und sehnt sich danach ihre Freunde und vor allem Lindsay wieder zu sehen. Sie hat ihr etwas zu erzählen! Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.

Die Schikanen der anderen erscheinen plötzlich nur noch halb so schlimm. Sie ist immerhin nur wenige Stunden des Tages in der Schule. Eisblaue Augen und Haare so dunkel wie die Nacht tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Die Haut an ihrem Hals prickelt vor Erregung bei dem Gedanken an die vielen Küsse und Berührungen der letzten Nacht. Verblüfft stellt sie fest, dass sie sich nicht für die Erinnerung daran wie sonst schämt.

Erleichtert schwingt sie ihre Beine aus dem Bett und tapst barfuß in ihre Decke gehüllt über die Holzdielen zu ihrem weißen Holzkleiderschrank und öffnet schwungvoll die Flügeltüren. Der Schrank ist zweigeteilt. Auf der einen Hälfte befindet sich eine Kleiderstange mit den perlgrünen Blazern und Röcken sowie einer Reihe weißer Blusen ihrer Schuluniform. Außerdem noch eine dicke Daunenjacke für kalte Tage und eine verschlissene braune Lederjacke, die das letzte Überbleibsel ihrer Mutter darstellt. Der einzige Beweis, dass sie überhaupt je existiert hat. Denn im ganzen Haus konnte Lia bisher weder ein Foto noch sonst irgendeinen Nachweis ihrer Existenz finden. Seitdem sie laufen kann durchsucht sie bereits sowohl den Keller als auch den Dachboden danach, jedoch ohne jeglichen Erfolg. Sie weiß nicht mal, ob sie ihr überhaupt ähnlich sieht und ihren Vater nach ihr zu fragen, ist zwecklos, da er jedes Mal in eine Art Trance verfällt und dann nur vor sich hin stammelt wie wunderschön sie war, aber das sie gegangen sei. Kein vernünftiges Wort ist in Bezug auf ihre Mutter aus ihm herauszubekommen. Es ist wie mit einer Wand zu reden, sodass Lia ihn oft am liebsten fest an beiden Schultern packen würde, um ihn dann solange zu schütteln, bis er endlich mit Antworten auf ihre vielen Fragen herausrückt.

Die andere Hälfte des Schranks enthält Fächer für private Kleidung, die bei Lia hauptsächlich aus schwarzen und grauen Longtops und dunklen Jeanshosen besteht. Nur im untersten Fach knüllen sich ein paar kurze Minikleider zusammen, an deren Käufe sie sich nur entfernt erinnert. Manchmal ist die Scham am Morgen so groß, dass sie sich eines der Kleider in Wut herauszerrt und eigenhändig mit einer Schere zerschneidet. Doch seltsamerweise gehen die winzigen Fetzen nie aus.

Nachdem sie sich im Badezimmer gewaschen und angezogen hat, stellt sie sich in ihrem Zimmer vor den Spiegel über ihrer mit Schnörkel verzierten Kommode und streicht mit den Fingern über die feine Stickerei des Schulwappens. Ein weißer Leuchtturm auf grünem Grund, das Logo von Scarborough, der ehemaligen Fischerstadt.

Mit einer Bürste kämmt sie sich die Haare und will sie bereits wieder in einem Pferdeschwanz zurückbinden, doch entscheidet sich dann dagegen. Warum sollte sie ihr Haar nicht mal wie jedes andere Mädchen offen tragen? Sollen die anderen doch reden was sie wollen! Sie ist doch nicht auf der Welt, um sich immer nur Gedanken über andere zu machen.

Beschwingt gleitet sie in einem hüpfenden Schritt die Holztreppe hinunter in die Küche. Zu ihrer Überraschung, trifft sie dort auf ihren Vater, der lässig am Tresen lehnt, mit der aktuellen Tageszeitung in den Händen und die heutigen Börsenkurse studierend.

„Guten Morgen, Daddy“, begrüßt sie ihn lächelnd und erntet einen irritierten Blick. ‚Gut’ war ein Morgen schon lange nicht mehr und ‚Daddy’ hat sie ihn zuletzt mit fünf genannt. Er räuspert sich.

„Guten Morgen Liandra. Maria hat heute Morgen frische Pancakes gemacht, bevor sie einkaufen gefahren ist.“

Maria ist ihre spanische Haushälterin, Köchin und einfach Mädchen für Alles. Kurz: Die gute Seele in ihrem Haus. Lia lächelt.

„Wie lieb von ihr, aber ich habe gar keinen Hunger. Kann ich etwas von deinem Kaffee haben?“

Das Verhalten seiner Tochter erscheint Mr. Green immer eigenartiger, so dass er die Zeitung sinken lässt. „Es ist noch eine ganze Kanne da, nimm dir ruhig.“

Mit einem Becher Kaffee lässt sich Lia auf den Stuhl, gegenüber ihrem Vater gleiten und schaut fröhlich hinaus in den schneebedeckten Garten, wo sie einen Vogel dabei beobachtet, wie er den vereisten Boden nach Körnern absucht.

„Wie läuft es in der Schule?“

„Ach das wird schon, ich arbeite dran. Wenn man sich wirklich Mühe gibt, kann man alles schaffen.“

Vor Schock verschluckt sich William Green an seinem Kaffee. Das Mädchen, welches ihm dort gegenüber am Tisch sitzt, kann unmöglich seine pessimistische, stets depressive Tochter sein. Doch ehe er dazu in der Lage ist, sie auf ihre gravierende Veränderung anzusprechen, springt sie von ihrem Stuhl auf, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und rauscht durch die Tür. Er weiß nicht, was er davon halten soll. Zwar hat er sich immer gewünscht, dass sie sich endlich ändern und zur Vernunft kommen würde, doch mit so einer plötzlichen Wandlung hat er nicht gerechnet.

Während der Fahrt in ihrem alten VW Golf durch die kahle Alleestraße von der Manor Road zu der Scarborough Grammar School, pfeift der Wind eisig durch das undichte Fenster. Ihr Vater würde ihr jederzeit mit größter Freude ein neueres, schnelleres und allgemein schöneres Auto schenken, doch Lia weiß, dass das nichts weiter als rausgeschmissenes Geld wäre. Denn es wäre schade, wenn das neue Auto bereits nach einem Tag auf dem Schulparkplatz mit Kratzern und Kaugummis ihrer aufmerksamen Mitschüler übersäht wäre. Dem alten Golf schadet das nicht. Die Kratzer im einst schwarzen Lack kann sie schon nicht mehr zählen und das obwohl sie extra schon ein paar Straßen von der Schule entfernt parkt.

Aber davon will sie sich heute nicht ihre gute Laune verderben lassen und so dreht sie das Radio lauter als „Rebel yell“ von Billy Idol läuft, einer ihrer absoluten Lieblingssongs.

Last night a little dancer

Came dancin' to my door“

Die Blicke der anderen sind unbezahlbar. Damit haben sie nicht gerechnet. Die schwache Lia, die sich von allen demütigen lässt und sich aus lauter Angst in der hintersten Ecke versteckt, gibt es schlagartig nicht mehr. Zwar hat sie immer noch ihren alten Platz, doch sitzt sie nun aufrecht und mit erhobenem Kopf da. Zum ersten Mal seit langer Zeit, ist sie wieder in der Lage Mr. Attkins zuzuhören anstatt den Lästereien von Tracy und Sarah in der Reihe vor sich zu lauschen. Egal wie laut sie heute auch schimpfen, es verletzt Lia nicht mehr. Einzig der Gedanke an schwarz gewellte Haare auf ihrer nackten Haut lässt sie abschweifen und mit einem glückseligen Lächeln wieder aufhorchen.

Mr. Attkins hat ihre Veränderung auch bemerkt. Er ist es nicht gewöhnt, dass irgendjemand wirklich aufmerksam seinen Unterricht verfolgt. Wenn sein Blick den ihren streift, gerät er immer wieder in ein verwirrtes Stottern. Mittlerweile haben sie im Unterricht das Jahr 1914 erreicht, indem im November an der deutschen Westfront ein System aus Schützengräben entstand und der Grabenkrieg begann. Plötzlich schweigt Mr. Attkins und wippt aufgeregt auf seinen Fußballen vor und zurück. Seine Augen wandern über die Klasse, ein erfolgloser Versuch sich die Aufmerksamkeit zu sichern. Unbeirrt fährt er jedoch fort. Im Dezember sei dann etwas Unglaubliches geschehen. Er rechnet nicht damit, dass irgendjemand gut genug zuhört, um sich zu melden und so blinzelt er zweimal ganz irritiert als ausgerechnet Lias Hand in die Höhe schnellt.

„Ja…Liandra?“, fragt er fast scheu. Er erscheint Lia auf einmal gar nicht mehr wie der kleine Giftzwerg vom Vortag, sondern eher wie ein Mann, der auf Grund seiner Größe an mangelndem Selbstbewusstsein leidet.

„Im Dezember war der Weihnachtsfrieden.“

Seine Augen leuchten und funkeln euphorisch, als er erfreut die Hände zusammenklatscht.

„Ganz genau, können Sie uns erklären was damit gemeint ist?“, seine Stimme überschlägt sich fast vor lauter Aufregung und Begeisterung.

„Es war ein kurzzeitiger Waffenstillstand zwischen den deutschen und britischen Soldaten zu Ehren des Weihnachtsfests. Teilweise haben sie sogar Verbrüderungsgesten ausgetauscht.“

Mr. Attkins nickt erst zufrieden, um danach ein betrübtes Gesicht aufzusetzen.

„Ja und das alles nur, um nach Weihnachten mit demselben Krieg fortzufahren, indem die Soldaten nur Werkzeuge waren.“

Er gleitet wieder ab in einen seiner Monologe, doch mit einem viel glücklicheren Gesicht als Lia es in dem ganzen letzten Jahr bei ihm gesehen hätte. Vielleicht ist es ihr nur nie aufgefallen, aber Mr. Attkins Freude ist ansteckend. Geschichte ist viel interessanter als sie dachte. Man kann daraus jede Menge für das heutige Leben lernen. Fehler der Vergangenheit müssen nicht in der Zukunft wiederholt werden. Warum hat sie das vorher nur nie gesehen?

Bevor Mr. Attkins sie alle in die Pause entlässt, wünscht er ihnen schon mal ein schönes Weihnachtsfest. Es ist ihre letzte Geschichtsstunde vor den Winterferien und dem Start ins neue Jahr. Außerdem bittet er sie, sich doch am Weihnachtsfrieden mal ein Beispiel zu nehmen und alte Fehden wenigstens über die Festtage ruhen zu lassen.

Lia trödelt nicht wie gewöhnlich herum, sondern beeilt sich ihre Sachen zusammen zu packen und drängt sich zusammen mit den anderen aus der Klasse. Dabei kann es Tracy sich natürlich nicht verkneifen sie auf ihre Veränderung anzusprechen.

„Du hast es wohl echt nötig! Wie billig sich hier vor der ganzen Klasse beim Lehrer einzuschleimen!“, fährt sie sie herablassend an, wobei Sarah direkt anfängt Lia mit piepsiger Stimme nachzuäffen

Ja, Mr. Attkins. Ganz ihrer Meinung, Mr. Attkins.“

Bradley grölt vor Lachen und stimmt wie üblich in die Stichelei ein. „Darf ich Ihnen den Schwanz lutschen, Mr. Attkins?“

„Du bist so eine Schlampe!“, empört sich Tracy erneut und schmeißt sich ihre Locken lässig über die Schulter, ohne eine Antwort von Lia zu erwarten.

„Das sagt gerade die Richtige! Gib doch einfach zu, dass du neidisch bist oder klapp Bradley wenigstens mal die Kinnlade hoch, sonst fängt er noch an zu sabbern.“

Es herrscht Totenstille, die nur von einem einzigen herzhaften Lachen unterbrochen wird. Tru klopft Lia auf die Schulter und zwinkert ihr schelmisch zu, bevor sie an ihr vorbei auf den Ausgang zueilt.

Auch Lindsay und Mike sind positiv überrascht als Lia mit den anderen aus der Klasse strömt. Es hebt Lindsays Laune gewaltig, sodass sie sich bei Lia freundschaftlich einhakt und sie in Richtung Cafeteria zieht. Dieses Mal sind sie so früh dran, dass Lia einen Platz am Fenster für sie besetzen kann. Sie ignoriert die Blicke der anderen tapfer, indem sie in den Schulhof blickt und die Blätter dabei beobachtet wie sie von den Bäumen fallen. Der Schnee auf dem Pflasterboden erinnert sie an die kalte Haut des Fremden der letzten Nacht.

Mike konnte es sich durch seine fürsorgliche Ader nicht verkneifen ihr ein Schälchen Obstsalat und eine Cola Lemon mitzubringen. Lia hat jedoch immer noch keinen Hunger und so stochert sie nur in dem Salat herum, wobei sie weiter grinsend aus dem Fenster blickt.

„Ist es nicht herrlich? Frische Luft! Kein Mief von den ekligen Mülltonnen!“, seufzt Lindsay und lässt sich behaglich auf ihrem Stuhl zurücksinken. „Das ist doch ein ganz anderer Lebensstil!“

„Heute scheint einiges anders zu sein. Du siehst fantastisch aus, Lia.“, schließt sich Mike Lindsays Begeisterung an, jedoch dämpft er mit seinen Worten augenblicklich die ihre. Doch es stimmt. Die Augenringe sind verschwunden und ihr Haar erstrahlt in einem gesunden Glanz und wirkt nicht so stumpf und matt wie sonst.

Lia lächelt ihm beschämt zu, doch als ob das nicht genug wäre, muss Mike das Ganze noch mehr betonen.

„Nicht, dass du sonst nicht wunderschön wärst, aber heute eben besonders. Du wirkst so frei und gelöst, einfach glücklich.“, beeilt er sich mit einem breiten Schmunzeln hinzuzufügen.

Lindsay zieht erst über seine Worte einen fuchsigen Schmollmund, doch nach einem musternden Blick auf Lia fängt sie ebenfalls zu grinsen an.

„Ich wage ja kaum zu fragen, aber kann es sein, dass du dich endlich mal wirklich und wahrhaftig verliebt hast?“ Neugierig streicht sie sich ihre pinkfarbene Haarsträhne hinters Ohr und fixiert Lia mit ihren himmelblauen Augen.

„Verliebt vielleicht nicht, aber ich gebe gerne zu einen fantastischen Mann kennen gelernt zu haben.“

Stolz klingt in ihrer Stimme mit. Endlich mal eine Nacht, für die sie sich nicht schämt, obwohl sie es wahrscheinlich sollte, genauso wie für all die anderen Nächte.

Lindsay verfällt in ein mädchenhaftes Kichern. „Easy! Das muss ja ein echter Traummann sein, wenn der es schafft dich so zu verzaubern.“ Sie ist die Einzige weit und breit, die ständig das Wort ‚Easy‘ verwendet. Das macht sie zu einem echten Unikat.

„Er ist besser als jeder Traummann, denn er ist Realität“, entgegnet Lia frech und just in dem Moment steht Mike mit bösem Gesicht und lautem Knarren von seinem Stuhl auf.

„Das ist mir zu blöd, ich gehe schon mal zur Klasse“, bringt er unter seinen zusammengekniffenen Lippen hervor und marschiert angekratzt davon. Auf der einen Seite tut er Lia leid, aber auf der anderen Seite freut sie sich, dass es endlich mal nicht Lindsay ist, die auf sie wütend ist. Sie ist immerhin ihre beste Freundin und fehlt ihr immer mehr, seitdem Lindsay sich in Mike verliebt hat und es deshalb häufig zu Streitereien kommt.

„Mach dir keine Sorgen, der regt sich schon wieder ab. Erzähl mir lieber mehr von dem heißen Typ. Wo hast du ihn kennengelernt und wann siehst du ihn wieder?“

Lia erzählt ihr fast alles bis ins kleinste Detail, nur den Teil bei sich Zuhause lässt sie aus. Seit langer Zeit sind sie wieder ganz normale Mädchen, die schnatternd und kichernd ihre Köpfe zusammenstecken. Die Normalität ist Balsam für Lias Seele.

Als sie zum Ende der Pause zusammen zurück zu ihren Klassenräumen schlendern, ist der Spaß jedoch schlagartig beendet, als Bradley sich mit seinen Freunden ihnen in den Weg stellt. Lüstern ruht sein Blick auf Lias Blusenausschnitt.

„Hast du heute für mich extra einen Knopf mehr aufgelassen?“

Doch die vor Angst bibbernde Lia, die er gewöhnt ist, gibt es nicht mehr. „Nur in deinen Träumen.“

Bradley zieht erstaunt die rechte Augenbraue hoch. „Oha, das sind ja ganz neue Töne. Letzte Nacht hat es dir wohl mal einer ordentlich besorgt.“

„Spar dir deinen Müll für jemand anderen, der sich davon noch beeindrucken lässt.“, zischt Lia ihm abweisend entgegen und will sich an ihm ungerührt vorbeischieben, doch sofort umschließt Bradley mit festem Griff ihr Handgelenk.

„Werd jetzt bloß nicht frech. Du kannst dich hier nicht wie eine Diva aufführen, ohne dass das Folgen hat. Das muss dir doch wohl klar sein.“

Unsanft schupst er sie vor sich her, geradewegs in die Jungentoilette. Seine Freunde folgen ihm und schleifen die furchtsame Lindsay direkt mit. Beißender Uringeruch schießt ihnen in die Nasen.

„Lasst sie doch in Ruhe, wenn ein Lehrer kommt, seid ihr dran.“, versucht Lindsay es auf dem vernünftigen Weg, doch stößt sie bei den Jungs damit auf taube Ohren. Als Bradley mit dem Finger schnippt, reicht einer seiner Kameraden ihm glucksend ein Glas, gefüllt mir einer schleimigen milchigen Flüssigkeit.

„Weißt du was das ist?“, will er von Lia wissen und baut sich bedrohlich vor ihr auf, während sie immer weiter vor ihm zurückweicht, bis sie schließlich gegen die graue Kachelwand zwischen den Waschbecken stößt. Die ängstlich zitternde Lia ist wieder da und hat sich von der mutigen Löwin zurück in das scheue, wehrlose Rehlein verwandelt.

„Das soll dir zeigen wie sehr wir dich schätzen. Es ist ziemlich unverschämt, dass du dich durch die ganze Stadt vögelst und nur uns nicht ranlassen willst. So etwas nennt man Mobbing, Lia. Aber vielleicht musst du erst mal auf den…’Geschmack’ kommen.“ Sein Grinsen ist eiskalt und gehässig, während sein Gefolge ihn nur gespannt beobachtet.

„Das reicht! Ich hole jetzt einen Lehrer!“, schimpft Lindsay aufgebracht, wird jedoch bei dem ersten Schritt in Richtung Tür von einem der Jungen festgehalten, während die anderen sich nun an Lia zu schaffen machen. Auf keinen Fall wird sie sich das einfach so gefallen lassen, egal wie groß ihre Angst auch ist. Aber gegen drei Jungs, die sie an Armen und Beinen festhalten, kann sie einfach nichts ausrichten. Hilflos muss sie mit ansehen wie Bradley ihr mit dem ‚Getränk’ bedrohlich nahekommt. Er sperrt bereits ihren Mund brutal durch Druck auf ihre Kieferknochen auf, als seine Hand plötzlich zurückgerissen wird. Dieses Mal ist es jedoch nicht die taffe Tru, die ihr zur Hilfe eilt, sondern ihr treuer Freund Mike. Er rangelt wild mit Bradley hin und her, nur um am Ende den Kürzeren zu ziehen. Das gesammelte, widerliche Sperma ergießt sich über Mikes dunkelbraunen Lockenschopf. Die Jungs johlen und lachen, so sehr bis ihnen Tränen in die Augen treten. Das sie sich nicht vor Freudengeheul auf dem Boden hin und her wälzen ist auch schon alles.

Für heute hatten sie ihren Spaß und so lassen sie Mike und die beiden Mädchen alleine. Auch in Mikes Augen stehen Tränen, doch vor Scham und Demütigung. Behutsam legt ihm Lia die Hand auf den Oberarm.

„Oh Mike, es tut mir so leid.“, auch in ihren Augen brennen Tränen, die sie gerade so noch zurückhalten kann. Aber nicht nur Lia hat sich heute untypisch benommen, sondern nun auch Mike. Denn er schubst sie zum ersten Mal in ihrer jahrelangen Freundschaft von sich.

„Lass mich!“, bringt er verärgert hervor und wischt sich mit Toilettenpapier angeekelt die stinkende Brühe aus den Haaren.

„Komm ich helfe dir“, drängt Lia ihn und greift nachdem Papier, um ihm damit über den Kopf zu fahren.

„Verschwinde einfach“, knurrt Mike aufgebracht und schlägt ihre ausgestreckte Hand weg. „Ich bin doch nur dein Fußabtreter. Ich wette selbst Bradley würdest du mir vorziehen.“

Verletzt schüttelt Lia den Kopf. „Es tut mir wirklich leid. Wir sind doch Freunde.“

Seitdem sie denken kann ist Mike ihr bester Freund. Schon als Kind war sie immer etwas eigenartig, sehr still und ungewöhnlich ernst. Sie war nie beliebt und immer eine Außenseiterin. Mike erging es da nicht viel besser, wozu aber auch seine Freundschaft mit Lia beitrug. Doch so richtig schlimm wurde es erst als Lia in die Pubertät kam und die Discotheken der Stadt zu ihrem nächtlichen Zuhause wurden.

Es fing mit leisem Getuschel hinter ihrem Rücken an, doch mittlerweile wäre Lia froh, wenn es nur das wäre. Sie hatte gehofft, dass wenn sie einfach nicht darauf eingehen würde, die anderen schnell die Freude daran verlieren würden, doch ganz im Gegenteil. Je mehr sie ihren Spott ignoriert, umso einfallsreicher werden sie. Je weniger sie auf ihre Beleidigungen eingeht, umso grausamer werden ihre Angriffe.

„Freunde verletzen einander nicht!“, gibt ihr Mike kalt zur Antwort bevor er aus der Toilette stürmt. Lias Lippen beben und schließlich rollt ihr die erste Träne über die Wange. Als sie Lindsays warmen Finger auf ihrem Oberarm spürt, bricht der Damm endgültig und sie fängt leise zu schluchzen an.

„Ich mach das doch nicht mit Absicht.“

Das war es also mit der neuen selbstbewussten Lia, wäre sie doch lieber mal das Reh geblieben.

Schneerose

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