Читать книгу Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff - Страница 10

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Tag 7 - 31. März 2012: Frómista

Morgens erwache ich hungrig, packe meine Sachen und verlasse das Hotelzimmer. Als ich den Fahrstuhlkopf drücke, öffnet sich die Tür sofort. Befindet sich der Fahrstuhl immer noch oder schon wieder auf der dritten Etage? Ich habe gut geschlafen und keinen anderen Hotelgast wahrgenommen. An der Rezeption lege ich meine Zimmerchipkarte in einen kleinen Korb. Am Abend habe ich den Tresen auch nicht besetzt gesehen – war ich der einzige Gast in einem Geisterhotel? Ich finde die Vorstellung unheimlich.

Frühstück gibt es hier nicht, ich überquere die Straße, das Hotel gegenüber der Kirche scheint eines anzubieten. Am Nachbartisch sitzt eine Gruppe von zehn Franzosen in Wanderkleidung, denen ich bereits gestern in der Stadt begegnet bin. Sind es wirklich Pilger? Eine Dame hat Stiefelletten getragen, die andere eine hellgraue Handtasche dabei gehabt. Es ist geradezu absurd, den knappen Platz im Pilgerrucksack mit schicken Schuhen zu verschenken. Im Flur steht dann die Erklärung: mehrere Reisetaschen – also eine organisierte Pilgerreise mit Gepäcktransport!

Nach dem Frühstück mache ich mich auf, einen Kilometer weiter überholt mich fröhlich schwatzend die französische Gruppe. Die tragen ganz leichte Tagesrucksäcke, rechtfertige ich mein gemächlicheres Tempo.

Auf einem Brückenpfeiler liegt ein von einem Stein beschwerter Zettel. Neugierig lese ich „to Michael from Florida“, vermutlich handelt es sich bei dem Adressaten um den Amerikaner aus dem drei Etappen zurückliegenden Hontanas. Ich stelle mir vor, dass Michael und ich uns in einem der künftigen Etappenorte wieder treffen. Er wäre dann sicherlich enttäuscht, nicht von mir zu erfahren, was in dem Brief steht, falls er ihn selber übersehen hat. Das wiegt schwerer als das Briefgeheimnis!

Eine Frau schreibt, dass ihre Tochter seine Tochter in Amerika gerne besuchen würde, sie nennt ihre Emailadresse, die ich vorsichtshalber notiere.

Später komme ich an einer offenbar landwirtschaftlich genutzten Anlage vorbei. Vier große Speicher haben eine von oben zulaufende Befüllung. Die Rohre laufen in einer Pyramidenspitze zusammen, und oben auf hat ein Storch sein Nest gebaut.

Meine Gedanken wandern von den ziehenden Störchen wieder zu meiner Reise. Schon zehn Kilometer habe ich heute geschafft. Aber egal wie viel ich laufe, ich werde weder heute, noch morgen an meinem Ziel ankommen; auf absehbare Zeit werde ich es nicht erreichen. Das ist sehr seltsam. Ich habe schon einige Male auf meinem Weg daran gedacht, kann mich aber nicht an diesen Umstand gewöhnen.

Vor mir steht ein Stein mit der Aufschrift „429 km“. Zumindest ist er sehr gut ausgeschildert. Der lehmfarbene Jakobsweg ist so breit, dass ich mir unsicher bin, ob hier auch Autos fahren dürfen. Er sieht aus, als wäre er erst vor ein paar Jahren neu angelegt worden.

Gegen 14 Uhr erreiche ich Villalcázar de Sirga. Vor einer der typischen Bars mit einem grünen San-Miguel-Bier-Schild stehen Tische, mich zieht es jedoch aus der Sonne ins Kühle. Wie schon in anderen Bars dominiert ein Fernseher das Geschehen. Es läuft gerade ein Musiksender mit den Top 20 Videoclips. Zum ersten Mal seit langem höre ich Musik. Ich bestelle Tortilla de Patatas und bekomme ein Viertelstück. Eigentlich hätte ich gerne mehr gegessen, aber es reicht gegen den Hunger. Da ich vermutlich auch am Abend warm essen werde und das Essen stets fett ist, habe ich Sorgen, dass ich trotz vieler Bewegung hier eher zu- als abnehmen werde.

Nach dem Essen bleibe ich eine Dreiviertelstunde sitzen, verfolge das Musikprogramm, wonach ich meinen Weg beschwingt fortsetze. Ich schaffe ein ganzes Stück und freue mich, als es bloß noch vier Kilometer bis Carrión de los Condes sind. Gerne würde ich noch eine Pause machen, aber wo? Ich finde keinen geeigneten Pausenplatz - den Rest der Strecke wandere ich ohne Pause an einer zweispurigen, viel befahrenen Straße entlang. Aus dem Ortsnamen Carrión mache ich „carry on“ - weiter tragen. Gleich bin ich da, so motiviere ich mich.

Erst laufe ich noch durch ein Industriegebiet - möglicherweise handelt es sich bei den großen weißen fensterlosen Gebäuden wieder um Getreidespeicher. Um halb vier komme ich im Ortskern an und entscheide mich für die Herberge im Kloster Santa Clara. Ich betrete das Gebäude aus dem dreizehnten Jahrhundert und warte kurz bis der Pilger vor mir bezahlt hat. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein dunkelgekleideter Mann – ist es ein Mönch? Schließlich handelt es sich bei den Klarissinnen doch um Nonnen.

Als ich an der Reihe bin, fragt er mich, ob ich im Einzelzimmer oder im Schlafraum übernachten möchte. Ich zögere kurz, das Einbettzimmer ist verlockend, allerdings sind alle meine Bekannten weitergezogen, ich brauche Gesellschaft und wähle daher den Schlafraum. Die Übernachtung kostet fünf Euro. Er reicht mir einen Zettel mit der Nummer 16. Der Gang zu den Schlafräumen führt über den Kreuzgang und einen kleinen Innenhof voller Wäscheleinen.

Die Nummer 16 ist das obere Bett eines Doppelstockbettes, was mir ein bisschen Sorgen macht, denn diese Betten haben keine Leiter, stattdessen steht ein Stuhl als Aufstiegshilfe daneben. Außerdem fehlt ein Geländer, das mich vor einem Absturz in die Tiefe schützt. Bisher habe ich mir mein Bett immer selber aussuchen können. Soll ich fragen, ob ich tauschen darf? Ich schiebe meine Bedenken zur Seite und beschließe, erst einmal meine Kleidung zu säubern.

Im Innenhof befinden sich zwei Waschtröge, den durchgeweichten Socken darinnen lege ich mit spitzen Fingern beiseite. Mit Rei in der Tube schrubbe ich meine Unterhose und Socken, dann spüle ich heute auch mein Hemd, Unterhemd sowie meine Wanderhose aus.

Nachdem ich die Wäsche aufgehängt habe, verschwinde ich in den winzigen Duschraum. Vorsichtig gebe ich darauf Acht, dass meine Wechselkleidung an dem Haken dreißig Zentimeter neben mir trocken bleibt. Nach der Dusche trockne ich mich mit meinem kleinen Trekking-Handtuch ab und schlüpfe in Zweithose sowie Zweitbluse.

Endlich wieder sauber betrachte ich meine Füße. Unter der linken Hacke sitzt eine riesige Blase. Kein Wunder, dass der Fuß weh tut. Obwohl mir davon abgeraten wurde, pikse ich die Blase auf und klebe ein Pflaster drüber, in der Hoffnung, dass sie so weniger drückt.

Anschließend schlendere ich in das kleine Museum, das sich auf dem Klostergelände befindet. Dort sind Skulpturen und Ornamente ausgestellt. Die Innentemperatur passt zu den Steinbildhauereien. Zügig durchquere ich die kalten Räume. In einem entdecke ich verschiedene Weihnachtskrippen. Ich versuche, die deutschen Krippen darunter zu identifizieren.

Kultur mag wichtig sein, außerdem bringt das Wandern wenig Abwechslung – trotzdem weckt nichts mein Interesse. Nach etwa zwanzig Minuten verlasse ich das Kloster mit kalten Füßen.

Um mich wieder aufzuwärmen, schlage ich den Weg ins Stadtzentrum ein. Ich komme an zwei Kirchen und mehreren kleinen Läden vorbei, sogar einen Supermarkt gibt es hier. Ich freue mich, wieder den Abend in einer Kleinstadt verbringen zu können, darf ich doch hoffen, dass ich hier etwas Leckeres zum Abendessen finde. Als Vegetarierin schränkt sich die Auswahl ein – insbesondere in Spanien ist diese Ernährungsform eher selten.

Am Ufer des Flusses Río Carrión entdecke ich einen Campingplatz. Ich studiere das Tagesmenü im Campingrestaurant, da ich nichts verstehe, bleibt unklar, ob es etwas Vegetarisches gibt.

Am Fluss versuchen einige Angler ihr Glück. Ich trödle ein bisschen und setze mich auf eine Schaukel. Schließlich schlendere ich in das Zentrum zurück zu einem Imbiss. Warmes Essen wird hier erst ab 20:30 Uhr zubereitet - so warte ich ein bisschen, bis ich meine Bestellung bestehend aus Salat und Pommes Frites aufgeben kann.

Zurück in der Herberge, sind alle Betten im Raum belegt. Ich komme mit Tanja, einer Schülerin aus Süddeutschland ins Gespräch. Sie will es in den Osterferien bis nach Santiago schaffen. Glücklicherweise bleibt mir deutlich mehr als vierzehn Tage Zeit.

„Wo warst du denn gestern?“, will ich wissen und erfahre, dass Tanja heute erst angereist und in den letzten Osterferien bis eben diesem Kloster gepilgert ist.

In dem Bett unter mir liegt Maria, eine korpulente Spanierin Mitte Zwanzig. Sie bietet mir ihren Fön an - ich zeige ihr stolz meinen. Nicht jeder Pilger schleppt einen Haartrockner mit!

Aus Langeweile lege ich mich um halb zehn schlafen. Es ist auch hier kalt - ich stecke die Arme in den Schlafsack, bei jedem Umdrehen hole ich sie wieder hervor, um zu erfühlen, wie weit mein Körper vom Bettrand entfernt ist. Mit Geländer würde ich mich deutlich sicherer fühlen. Ich durchlebe eine sehr unruhige Nacht mit nur kurzen Schlafphasen.

Auf einmal knackt die Heizung laut - Maria unter mir schreit. Na, die stellt sich aber an!

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