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Tag 1 - 25. März 2012: Bilbao

Nach der ersten Übernachtung und einem ausgiebigen Frühstück checke ich aus dem Holiday Inn am Flughafen in Bilbao wieder aus. Am Ausgang steht eine Waage mit großem Leuchtdisplay. Neugierig gehe ich zu ihr hin. Weggeschmissen habe ich bisher nur die Wäscheleine und eines von zwei Büchern. In der Hoffnung, dass die Waage am Flughafen ein falsches Gewicht angezeigt haben möge, werfe ich einen Euro in den Geldschlitz. Ich stelle den Rucksack auf die Waage: Acht Kilogramm.

Aber er liegt nicht richtig auf dem Waagenteller, sondern lehnt am Ständer mit dem Display. Das verfälscht das Ergebnis, befürchte ich und positioniere ihn neu, doch der eine Euro ist bereits durchgefallen und ein weiteres Ein-Euro-Stück habe ich nicht.

Mit Schwung hebe ich meinen nun leicht gewordenen Rucksack hoch. Den Gurt über den Hüften spüre ich kaum noch. Der eine Euro war gut investiert - das Gepäck ist offenbar nur so schwer, wie ich es mir denke.

Direkt vor dem Hotel wartet wieder der Shuttlebus zum Flughafen, dort angekommen steige ich um und sitze bald im Bus zum Bahnhof. Mein Gepäck lehnt an meinem Oberschenkel, und ich taste, ob mein Brustbeutel noch da ist. Ungefähr zweihundertfünfzig Euro habe ich aus Unsicherheit, ob es unterwegs genügend Geldautomaten gibt, eingesteckt. Ob das eine gute Idee war?

Ein bisschen ängstlich bin ich, als Frau alleine auf dem Jakobsweg. Mein Pilgerführer hält das allerdings für völlig ungefährlich. Das will ich nun mal glauben.

Neugierig und etwas angespannt gucke ich aus dem Fenster. Am Bahnhof muss ich aussteigen. Anschließend werde ich nach Burgos, meinem Startpunkt auf dem Camino fahren.

Der „Camino Francés“ beginnt schon im französischen Saint-Jean-Pied-de-Port und führt quer durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela, nahe der Atlantikküste. Schlusspunkt ist das Grab des Apostels Jakob in der dortigen Kathedrale. Ich werde allerdings erst in Burgos starten, was mir die ersten zweihundertneunzig Kilometer erspart. Es bleiben noch fünfhundert Kilometer, die ich dann hoffentlich in den fünf Wochen Urlaub zu Fuß schaffen werde.

Kurz nachdem der Bus eine Brücke überquert hat, entdecke ich ein Gebäude mit spitzen Kanten und geschwungen Wänden. Die Fassade funkelt in der Sonne. Was ist das für ein Gebäude? Wenn ich Zeit hätte, würde ich es mir gerne ansehen. Ohnehin sehne ich mich danach, mich treiben zu lassen.

Dann erst bemerke ich, dass ich schon frei bin. Ich habe Urlaub, ich kann den Tag spontan gestalten! Ich gebe dem Entdeckerimpuls nach und steige an der folgenden Bushaltestelle aus. Die Sonne scheint, es sind 23 Grad, ich habe den ganzen Tag zur freien Verfügung und genieße die neu entdeckte Freiheit. So gelöst war ich schon Monate nicht mehr. Leichten Schrittes nähere ich mich auf dem Rückweg über viele Querstraßen wieder dem mysteriösen Gebäude.

Noch eine Brücke überquere ich. Erst, als ich das Gebäude am Fluss zur Hälfte umrundet habe, sehe ich das Schild „Museo Guggenheim Bilbao“. Ach - habe ich davon nicht schon mal in einer Werbung für einen Wochenendtrip gehört? Ich biege links um die Ecke und stehe vor dem Museumsbistro. Hunger habe ich, kurzentschlossen trete ich ein, deute auf einige Happen und bestelle eine Cola Light dazu. Schon sitze ich an einem kleinen Bistrotisch, meinen Rucksack stelle ich in Sichtweite ab, um mich herum spielen Kinder. Das Kartoffelomelette, Tortilla genannt, schmeckt köstlich.

Ich könnte gleich noch ins Museum gehen, überlege ich. Andererseits, so meldet sich mein Kontrollorgan, verpasse ich dann möglicherweise die in Deutschland herausgesuchte Bahnverbindung nach Burgos. Eine dreiviertel Stunde Zeit für einen Museumsbesuch bliebe mir. Falls es länger dauert, weiß ich aber nicht, wann der nächste Zug fährt.

Ach was, ich habe viel mehr Zeit als nur fünfundvierzig Minuten! Wieder meldet sich das neue Gefühl der Freiheit, und es erweitert sich noch. Ich könnte mich sogar entscheiden, den ganzen Jakobsweg nicht zu gehen und statt dessen hier ein Zimmer nehmen, um fünf Wochen lang jeden Tag ins Guggenheim Museum zu gehen. Das sind ganz ungewohnte Gedanken für mich. Obwohl die Vorstellung, fünf Wochen lang dasselbe Museum zu besuchen, schon etwas ungewöhnlich ist.

Nachdenklich stehe ich vor der Kasse und entschließe mich endlich, eine Eintrittskarte zu kaufen. Zeit, zu tun, wozu ich Lust habe - das soll für die nächsten fünf Wochen mein Motto sein.

Im Museum stehe ich lange vor einem Bild von Anselm Kiefer. Ein Mann liegt ausgestreckt auf dem lehmfarbenen Boden, der schwarze Himmel, der drei viertel des Bildes ausmacht, ist voller Sterne. Ich versetze mich in die Lage des Mannes, lasse so das Bild auf mich wirken.

Mein Kopf ist leer verglichen mit dem Tosen der Gedanken in den letzten Wochen. So wie der Mann, fast tot, habe ich mich auch gefühlt. Hoffentlich muss ich nie wieder in diese Abteilung zurück.

Gegenüber hängt ein Wellenbild von Gerhard Richter. Mein Rücken entspannt sich. Auch alle anderen Objekte in diesem Raum schaue ich mir aufmerksam an. Die weiteren Räume durchschreite ich eher schnellen Schrittes, ich achte mehr auf die Architektur: Riesige Foyers und asymmetrische Wände lassen den Raum sehr offen wirken. Nach einer Stunde habe ich genug gesehen, es zieht mich weiter.

Am Bahnhof angekommen ist der geplante Zug schon weg, und der nächste fährt erst in vier Stunden. Die verbleibende Zeit verbringe ich mit einem Spaziergang durch den Park, in einem Café und schließlich beim Burger King im Bahnhof. Ich bin froh, als ich endlich in den Zug einsteigen kann.

Die Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Bilbao nach Burgos dauert zweieinhalb Stunden. Dabei lese ich den übriggebliebenen Teil der „Zeit“, die es im Flugzeug gab. Mit dem beiliegenden Magazin werde ich jedoch nicht ganz fertig und reiße die ungelesenen Seiten als Lektüre für die nächsten Tage heraus. Dann werde ich etwas unruhig. Es ist schon fast 20 Uhr. Zu Hause habe ich noch überlegt, mir auch in Burgos ein Hotel für die erste Nacht zu buchen, die Idee aber verworfen.

Schließlich kommt der Zug am Bahnhof an. Ich stürze eilig in die Touristeninformation. Der Mann hinter dem Tresen sagt nur „I don’t speak English.“ Er zeigt aber noch in eine Richtung, brummt „autobus“ und gibt mir einen Stadtplan.

Ich gehe durch die Schiebetür, sehe jedoch nur Straßen und Grünflächen. Dieser Bahnhof liegt offenbar außerhalb des Stadtzentrums. Auch die Bushaltestelle ist nirgends zu sehen. Ich zögere erst noch, zu Fuß in die Stadt zu gehen. Dann beschließe ich: Hier ist der offizielle Startpunkt meines Jakobsweges. Jetzt beginne ich, nicht erst morgen! Mit weit ausladenden Schritten und schwingenden Armen mache ich mich auf in die Richtung, in der ich die Innenstadt vermute.

Es ist noch sehr hell für die Uhrzeit, viel heller als in Deutschland. Ich gehe auf einem kleinen Fußweg. Rechts neben mir eine Hauptverkehrsstraße, links Wohnblocks und Hochhäuser. Viele junge Paare mit Kindern sind unterwegs. Ich blicke auf meinem Kompass, der am Rucksack baumelt und spreche dann doch eine junge Frau auf Englisch an. Sie zeigt auf meine Frage nach dem Zentrum in die Richtung, in die ich schon unterwegs bin. Anschließend redet sie mit ihrem Partner und holt mich extra noch einmal ein, um zu fragen, ob ich nicht doch zum Bahnhof will.

Sechs Kilometer weiter erreiche ich die Innenstadt. Ich sehe kein einziges Hotel, auch keinen Imbiss, dabei habe ich ein starkes Leeregefühl im Magen. Da, ein Vier-Sterne-Hotel, aber diesen Luxus brauche ich jetzt nicht. Ich bin schon fast daran vorbei, als ich beschließe, nach dem Preis zu fragen. Achtzig Euro. Immerhin habe ich jetzt einen Anhaltspunkt, was ein Hotelzimmer hier kostet.

Eine halbe Stunde später sehe ich das „Hotel Jacobeo“. Für vierzig Euro ohne Frühstück bekomme ich einen fensterlosen Raum. Den verlasse ich, ohne viel auszupacken, sofort wieder in Richtung Innenstadt und finde schnell eine Tapas-Bar.

Beim Eintreten sieht sie mit den bunten Fliesen und den dunklen Barhockern noch ganz ansprechend aus. Mein Blick wandert durch den Raum. Auf dem Fußboden, direkt am Tresen, liegt alles voller Papierschnipsel - und was ist das andere? Ein Mann am Tresen schiebt sich eine Olive mit Hilfe eines Zahnstochers in den Mund und spukt den Kern auf den Boden. Olivenkerne - alles liegt voller Kerne! Ein Qualitätsmerkmal für die Bar, wie ich später erfahre, daran erkennt man eine Lokalität, die nicht nur Touristen, sondern auch viele Einheimische besuchen.

Mein Abendessen, ein Sandwich mit Rührei sowie einige Oliven kostet 3,20 Euro. Das Sandwich ist so groß, dass ich nach der Hälfte satt bin. Ich packe den Rest als Wegzehrung für den nächsten Tag ein.

Zurück im Hotel ziehe ich als Schlafanzugersatz meine lange Unterhose und das langärmeliges Unterziehshirt an. Beim Betrachten der Füße finde ich sogar schon die erste Blase am großen Zeh rechts. Lächelnd klebe ich ein kleines Blasenpflaster aus meiner Reiseapotheke darüber. Ist das nicht blöd, dass ich mich jetzt über eine Blase freue? Aber irgendwie bin ich zufrieden. Eine ist nicht schlimm - sie schmerzt schließlich kaum. Viel wichtiger finde ich, dass ich jetzt auf meinem persönlichen Jakobsweg bin.

Laufet, so werdet ihr finden

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