Читать книгу Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff - Страница 8
ОглавлениеTag 5 - 29. März 2012: Castrojeriz
Beim Aufwachen bin ich zuversichtlich, dass ich heute eine Ersatzhose bekomme - ich werde nochmal den Herren in seinem Pilgereibedarfladen besuchen. Mein Magen knurrt. Heute soll der Generalstreik sein, wer weiß, ob ich unterwegs überhaupt eine Mahlzeit bekomme. Ich begebe mich in den Frühstücksraum und freue mich, an Tisch und Stuhl statt wie gestern am Tresen essen zu können. Das in meinen Augen üppige Frühstück besteht aus den üblichen getoasteten Baguettescheiben, zwei Sorten Marmelade, einem Joghurt und einem Glas Organgensaft. Dazu trinke ich einen Pfefferminztee. Dann fällt mir auf, dass ich dieselbe Zusammenstellung am ersten Tag noch als karg bezeichnet habe. Drei Tage ist das her - so schnell habe ich mich umgewöhnt!
Durch die Eingangstür tritt ein älterer Mann mit einem weißen Bart und langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Sein Gepäck besteht nur aus einem kleinen Stoffbeutel, den er diagonal über die Schulter trägt. Der Wirt begrüßt ihn freundlich und serviert ihm einen Kaffee. Ich halte kurz beim Essen inne – das muss einer der sogenannten Dauerpilger sein. John hatte mir erzählt, dass es Menschen gibt, die der Jakobsweg nicht mehr loslässt, sodass sie ihn permanent rauf und wieder runter laufen. Vielleicht hat er selber, der sich als Jakobsweg-süchtig bezeichnet, die Befürchtung, so zu werden. In Hape Kerkelings Buch kommen diese Menschen auch vor. Hape sieht sie aber weniger romantisch – er nennt sie Bettler.
Nach dem Frühstück besuche ich erst mal ohne Gepäck den kleinen Laden. Der ältere Herr umarmt mich zur Begrüßung. Erfreut, aber nicht überrascht, erwidere ich die Umarmung. Da alle Pilger immer nur vorbeiziehen, ist es in diesem Jahr bestimmt das erste Mal, dass eine Nicht-Einheimische ihn nun schon zum fünften Mal besucht. Ohnehin beginnt die Pilgersaison gerade erst. Hochsaison ist erst im Mai. Ich zeige auf meine Hose, worauf er mir sein Sortiment an Wanderhosen präsentiert. Eine lange Unterhose oder Leggings hat er nicht im Programm. Dann nehme ich eben eine Wanderhose als Schlafanzughose - vielleicht kann ich die noch mal anderweitig verwenden. Beim Bezahlen schenkt er mir eine Anstecknadel von Castrojeriz.
Zurück im Hostal packe ich meine Sachen ein, begleiche meine Zimmerrechnung und mache mich auf den Weg. Es ist heute wieder heiß - der Lehmpfad geht steil bergauf. Mich überholt ein Strom von Pilgern. Ich zähle sie nicht, aber es scheint eine ganze Herberge voll zu sein. Wahrscheinlich sind sie ein oder zwei Orte vor mir gestartet.
Bald wird mein Wasser knapp - hoffentlich kann ich meine Flaschen in absehbarer Zeit wieder auffüllen! Ich habe immer mindestens einen Liter Wasser dabei. Noch mehr Sorgen machen mir die Schmerzen im linken Unterschenkel. Wegen der Blasen habe ich gestern den linken Fuß wohl etwas schief aufgesetzt, jetzt scheinen die Bänder überreizt zu sein. Hoffentlich wird es keine Sehnenscheidenentzündung!
Ich wandere weiter auf dem Pfad inmitten all der Felder. Wird der Generalstreik Auswirkungen für mich haben? Mein Leben kommt mir hier so einfach und unabhängig vor, dass mir das vollkommen unwahrscheinlich scheint. Nur ich und die Natur auf dem langen Weg, wer soll da streiken, etwa das Gras beim Wachsen?
Um kurz nach eins komme ich endlich an eine Quelle, fülle meine mittlerweile leeren Wasserflaschen wieder auf und raste. Auf den Bänken liegen Werbeflyer für eine Herberge im nächsten Ort.
Das einzige Buch, das ich neben dem Wanderführer dabei habe, ist Goethes Faust. Eine wohl überlegte Wahl, denn das Reclam-Heft wiegt kaum etwas, trotzdem ist es im anderen Sinne des Wortes so schwer, dass es Lesestoff für mehr als eine Woche bietet. Ich kann von meiner Bank an der Quelle etwa einen halben Kilometer des zurückliegenden Caminos überblicken – es kommt kein einziger Mensch. Das ist jetzt doch mal die Gelegenheit, mir als Unterhaltung den Text selber vorzulesen. Also lese ich wohlbetont den gesamten Eingangstext:
„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein...“ Ich merke, wie glücklich es mich gerade macht, noch nicht „fertig“ zu sein. Was wird wohl aus mir? Wie verändert mich der Pilgerweg?
Nach der Pause schmerzt mein Unterschenkel leider noch mehr. Ich hole meinen Teleskopwanderstock aus dem Rucksack, den ich bisher noch nicht verwendet habe und versuche, ihn so einzusetzen, dass er das Bein entlastet. Nach kurzer Zeit schmerzt auch mein linker Arm von dem ungewohnten Aufstützen. Ich schleiche regelrecht. Als ich eine gemauerte Brücke überquere, überholen mich drei Pilger nacheinander freundlich grüßend. Mir ist mein Schneckentempo unangenehm, aber ich weiß nicht, wie sie mir helfen könnten. Auf einem Schild lese ich, dass Itero de la Vega nur noch zwei Kilometer entfernt liegt. Für diese Strecke brauche ich anschließend jedoch fast eine Stunde.
Im Ort muss ich unter Schmerzen mehrere Runden drehen, um eine der dortigen Unterkünfte zu finden. Schließlich komme ich an eine private Herberge. Ich erkenne sie als die Herberge von den Werbezetteln. Am Zaun hängt ein gedrucktes Plakat mit vielen zusätzlichen handschriftlichen Bemerkungen. Ich trete durch die Pforte in den Hof. Draußen sitzen zwei Frauen mittleren Alters. Nachdem ich erst nicht verstehe, was sie mir mitteilen wollen, sagt dann eine der beiden „closed“. Also doch der Generalstreik. Bei dem Plakat handelt es sich vermutlich um den Streikaufruf. Ich hoffe sehr, dass die zweite Herberge im Ort geöffnet hat. Was tue ich, wenn hier alles geschlossen ist? Ich kann unter keinen Umständen noch einen Kilometer weiter gehen!
Hinter der Kirche finde ich dann die städtische Herberge. Ich trete ein, niemand befindet sich in dem Zimmer, nach kurzem Zögern belege ich eines der Betten. In dieser Albergue gibt es zwölf einfache Betten, zwei Toiletten, eine Dusche und eine Küche, die über den Hof zu erreichen ist. Möglicherweise wird die Herberge noch sehr voll, weil die andere geschlossen hat, überlege ich.
Einen Moment später treffen zwei Franzosen ein und suchen sich ihre Betten aus. Sie berichten, dass sie heute dreißig Kilometer gegangen seien und stöhnen über die Hitze. Ich staune, wie man solch eine Distanz an einem Tag bewältigen kann.
Meine Wanderstiefel ziehe ich jetzt endlich aus, schlüpfe in die Badelatschen und mache mich auf in Richtung des Cafés am Ortseingang. Ohne feste Schuhe kann ich deutlich befreiter laufen. Trotzdem komme ich nur langsam voran und frage mich, ob ich sichtbar humple. Vor dem Café setze ich mich auf einen Plastikstuhl und halte meine Füße in die Sonne. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser und ein Stück Kuchen.
Nach einer Weile höre ich ein Fiepen - ich sehe auf und erblicke einen Pilger, der einen Tropenhut mit Moskitonetz auf seinem Kopf trägt. Hinter sich zieht er eine bepackte Sackkarre. Wieder höre ich diesen durchdringenden Laut. Ich gucke genauer auf seine Karre, dort befindet sich zwischen alle den Taschen und Beuteln ein Hohlraum, in dem eine kläglich miauende Katze sitzt. Wie kann man denn einer Katze so eine lange Reise antun? Ich hoffe, er macht diesen Blödsinn nicht nur, um anschließend ein Buch darüber zu schreiben. Ich habe mal von einem Roman namens „Mit einer Katze allein durch Indien“ gehört. Den kaufe ich mir aus Prinzip nicht – die arme Katze! Da gefällt mir das Buch „Mit einem Kühlschrank durch Irland“ viel besser, wo ein Engländer zusammen mit dem Elektrogerät einmal um die grüne Insel trampt. Der Katzenpilger verschwindet nach kurzem Stopp wieder. Als die Terrasse nicht mehr in der Sonne liegt, verlasse ich das Café.
Auf dem Rückweg zur Herberge mache ich einen kleinen Schlenker zum Supermarkt, der etwa so groß wie mein Wohnzimmer ist. Die Verkäuferin wickelt mir ein großes Stück Käse ein, außerdem kaufe ich Nudeln und Tomatensoße.
In der Herberge sind fünf weitere Pilger angekommen. Vier packen gerade ihren Rucksack aus, und eine Frau scheint zu schlafen. Ich koche jetzt meine Nudeln. Während die Nudeln gar werden, lese ich auf dem Gartenstuhl im Faust. Bevor ich in die Küche zurückgehe, um die Spaghetti umzurühren, drehe ich den Faust um, sodass die Rückseite oben liegt. Mir ist unangenehm, dass jemand sehen könnte, was für eine „gebildete“ Lektüre ich mir vornehme. Sofort finde ich mich albern – und wende das Buch daher wieder richtig herum. Als ich wenig später aus der Küche komme, sitzt ein etwa vierzigjähriger Mann im Garten. Er spricht mich auf Deutsch an und stellt sich als Bruno aus Baden-Württemberg vor. Er deutet erfreut auf das Büchlein und zeigt mir seinen Ebook-Reader, auf dem er Goethes Faust geladen hat. Erfreut, dass ich mein Buch nicht versteckt habe, plaudere ich ein bisschen. Bruno fragt ohne große Umschweife: „Warum läufst du?“
Ich erzähle kurz von meiner Arbeitsstelle.
Mittlerweile ist die Herberge noch voller geworden. Bruno erzählt mir, dass die anderen abends in dem Restaurant am Ortseingang essen wollen. Ich beschließe mitzugehen und nur etwas zu trinken.
In dem Restaurant setzen wir uns an einen langen Tisch. Neben mir sitzt Bruno, gegenüber Gabi aus der Schweiz, die mit ihrer spanischen Nachbarin Französisch spricht. Am anderen Ende des Tisches wird auf Englisch gelacht.
Ich berichte kurz von meinen Schmerzen.
„Ich habe heute Sylvia und Sylvia überholt“, Bruno grinst, „das sind zwei sächsische Krankenschwestern, die beide im selben Krankenhaus arbeiten. Die lassen es auch ganz ruhig angehen. Falls du unterwegs nicht mehr kannst, holen die dich bestimmt ein und verarzten dich.“
Ich muss bei der Schilderung lachen.
Gabi sieht mich an „Hast du Ibuprofen dabei?“
Genau das steht zwar auf meiner Packliste aus dem Internet, aber ich habe nicht damit gerechnet, sie zu brauchen.
Als ich um kurz vor 22 Uhr in mein Bett schlüpfe, das direkt neben Gabis steht, reicht sie mir eine Ibuprofen Tablette. „Am besten, du nimmst gleich eine, die haben auch eine entzündungshemmende Wirkung“, sagt sie und gibt mir noch drei weitere Tabletten für den vor mir liegenden Weg. Ohne lange nachzudenken, schlucke ich dankbar eine, verstopfe meine Ohren mit Ohropax und knipse dann die Taschenlampe aus. Wegen der Kälte verschwinde ich auch mit den Armen im Schlafsack.
In der Nacht schlafe ich unruhig, einmal wache ich auf, weil meine Schulter aus dem Schlafsack ragte und zu kalt geworden ist. Mein linkes Bein schmerzt bei jedem Umdrehen.