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Tag 8 - 1. April 2012: Carrión de los Condes

Es ist Sonntag. Gegen 6 Uhr wache ich auf und will einen Schluck aus meiner Wasserflasche nehmen, die ich in die Ritze zwischen Bett und Wand gelegt habe, finde die Flasche aber nicht. Blitzartig wird mir klar, dass das Knacken heute Nacht nicht die Heizung gewesen ist, sondern die Flasche aus meinem Bett auf Marias Matratze gefallen ist oder sie womöglich getroffen hat. Das erklärt den Schrei. Obwohl mir diese Geschichte peinlich ist, fange ich an zu kichern. Ich kann mich gar nicht mehr einkriegen, gleichzeitig finde ich mich selber unmöglich. Ich tauche mit dem Kopf in den Schlafsack und halte die Hand vor dem Mund, um die anderen nicht zu wecken.

Um 7 Uhr kommt ein Mönch, zumindest vermute ich das, denn so schnell wie er „Buenos días!“ ruft, das Licht anknipst und wieder verschwindet, kann ich gar nicht den Kopf heben. Tanja räumt geübt ihre Sachen innerhalb von Minuten. Maria reicht mir meine Wasserflasche, worauf ich mich entschuldige. Sie tut so, als wäre das nicht weiter schlimm gewesen. Pünktlich um 8 Uhr verlasse auch ich die Herberge, kurze Zeit später frühstücke ich mit Maria in einer kleinen Bar. Dort sitzen einige Männer vor ihren Whiskygläsern, offenbar geht die Saturday night hier direkt in das Frühstück über. Der Fernseher läuft sehr laut. Ich mache mich nach dem Essen ohne Maria auf den Weg, leider bereitet mir das Auftreten mit dem linken Fuß wieder Schmerzen - es ist wohl ein Fehler gewesen, die Blasen anzupiken.

Vor mir liegt eine der anspruchsvollsten Strecken des Caminos: Siebzehn Kilometer lang werde ich keinen einzigen Ort passieren. Das Wetter ist umgeschlagen, es ist nun bewölkt und sehr windig. Mich beunruhigt die Überlegung, dass ich wegen meines Fußes nicht rechtzeitig in Santiago ankommen könnte. Ich rechne aus, dass ich fünfzehn Kilometer pro Tag schaffen muss. Einen Tag werde ich anschließend brauchen, um von Santiago nach Bilbao zu fahren, wo mein Rückflug startet. Verrückt, da denke ich jetzt an den Rückflug, dabei ist er noch einen Monat hin! Mein Motto: „Ich habe alle Zeit der Welt“ kommt mir wieder in den Sinn.

Um halb elf habe ich sieben Kilometer geschafft. In einer Pause auf einem kleinen Rastplatz ziehe ich fröstelnd meinen Fleece an und die Windjacke wieder drüber. Während ich Brot mit dem Rest Käse von vorgestern esse, trifft Maria ein. Sie schimpft über das Wetter, ich bin eher erleichtert, dass die Sonne nicht scheint, denn die lange Strecke vor mir bietet laut meinem Pilgerführer keinen Schatten. Maria startet vor mir, ich ruhe mich noch sitzend an einen Baum gelehnt etwas aus.

Die restlichen zehn Kilometer führen schnurgeradeaus, rechts und links liegen Getreidefelder, hin und wieder steht ein einzelner Baum am Wegesrand. Mich überholen von Zeit zu Zeit Pilger, unter ihnen eine joggende Frau. Ihr Rucksack hüpft auf und ab – sie bewegt sich nur wenig schneller als ich. Damit die Zeit schneller vorbei geht, rezitiere ich im Geist einige hundert Male mein Gebet. Damit es flüssiger und rhythmischer klingt, formuliere ich es mehrmals um.

Wo du mich haben willst, da führ mich hin.

Sorg dafür, dass ich dir nicht im Weg bin,

Menschen die ich treffen soll, die zeige mir.

Worte, die ich sprechen soll, die sage mir.

Das Gebet hat auf mich einen ähnlichen Effekt wie ein Reinigungsmantra. Mein Kopf ist vollkommen leer, die Schmerzen am Fuß spüre ich kaum noch – mühelos erreiche ich Calzadilla de la Cueza. Wie kann das sein? Ich bin total überrascht. Dies sollte eine der schwierigsten Strecken sein, stattdessen ist es eine der leichtesten gewesen. Zehn Kilometer bin ich mal so eben ohne Pause gegangen. Lag es an dem Gebet?

Nach insgesamt siebzehn Kilometern heute brauche ich nicht mal eine Pause, verordne mir gleichwohl aber eine Stunde Ruhe in einer Bar. Dort steht ein Computer mit Internetzugang. Singen unterwegs wäre schön – am besten etwas Lustiges. Ich höre auf YouTube einige deutsche Songs und notiere mir den Text von Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ sowie Ottos „Schwamm drüber Blues“. Den ersten Song habe ich Thomas bei unserem Warnemünde-Urlaub vorgespielt, nachdem wir dort den Sanddorn entdeckt haben, der in Nina Hagens Lied so hoch am Ostseestrand steht und wie alle anderen Dinge von Nina leider nur in Schwarz-Weiß fotografiert wird. Den zweiten hat ein Kollege häufiger in unseren Betriebsratssitzungen angestimmt, irgendwie passt er zu meinem Vorsatz, die ganze Episode bei der Arbeit zu vergessen.

Weitere 6,6 Kilometer liegen bis zum nächsten Ort vor mir. Um 15:30 Uhr breche ich singend auf.

Steht was Falsches auf der Tafel,

geh mit dem Schwamm drüber!

Jesus ging nicht über’n See –

nein er schwamm drüber.

Wärst du gerne in Düsseldorf

und musst nach Hamm rüber…

Nimm das alle nicht so schwer, Baby.

Sag doch „Schwamm drüber“!

Schwamm drüber, Honey!

Das ist der Schwamm-drüber-Blues.

Es geht bergauf und wieder bergab immer links an einer wenig befahrenen Landstraße entlang. Die Vögel zwitschern, auch ich singe immer weiter. Schließlich erreiche ich gegen Abend Ledigos, die ersten hundert Kilometer meines Jakobsweges habe ich damit geschafft.

In der privaten Herberge, die ich ansteuere, werden auch einzelne Zimmer angeboten. Mir gefällt der Gedanke, allein schlafen zu können - eine Eingebung lässt mich das Vorhaben aber aufgeben. Als ich in den Zwanzig-Betten-Schlafsaal einziehe, bestätigt sich meine Vermutung: Ich bin der einzige Gast. Ich rolle den Schlafsack auf einem der unteren Etagenbetten aus. Im Waschraum, der sich unter freiem Himmel befindet, reinige ich meine Wäsche, hänge sie an die Leine in die Abendsonne und dusche genüsslich.

In der angeschlossenen Wirtschaft servieren sie wie üblich erst ab 20 Uhr Essen, ich setze mich trotzdem schon einmal hin, obwohl mir noch eine gute Stunde bleibt. Einige Einheimische gucken Fußball und rufen laut „Messi!“. Thomas fragt per SMS nach den Temperaturen und wie es mit dem Essen klappt. Es ist hier Ende März so warm wie in unserem letzten Sommerurlaub in der Bretagne. Das Essen ist wenig abwechslungsreich: Kartoffeltortilla, Käsebrot, gemischter Salat ohne Thunfisch. Das kann ich mittlerweile alles auf Spanisch bestellen.

Von den drei Hauptgerichten, die die Bedienung mir eine Stunde später vorschlägt, besteht eines aus Fleisch mit „huevos fritos“ und eines aus „patatas fritas“, was ich mit Spiegelei und Pommes Frites übersetze. Ich bestelle mir, indem ich die neu gelernten Worte wiederhole, als Sonderwunsch Spiegelei mit Pommes und freue mich, als mir die Frau später die gewünschte Kombination serviert.

Um kurz nach 21 Uhr lösche ich das Licht in meinem Schlafsaal. Eine der Außentüren, die direkt in den Garten führt, hat sich zwar schließen, jedoch nicht absperren lassen. Mir ist mulmig, ich rolle mich tief in den Schlafsack ein und schlafe immerhin sofort ein. Kurz schrecke ich auf, als ich einen lauten Knall höre – wie unheimlich! Da aber nichts weiter folgt, übermannt mich nach kurzer Zeit meine Müdigkeit.

Laufet, so werdet ihr finden

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