Читать книгу Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff - Страница 9
ОглавлениеTag 6 - 30. März 2012: Itero de la Vega
Gleich beim Aufwachen bewege ich mein linkes Bein und stelle fest, dass es unverändert schmerzt. Ich mache mir Sorgen, muss ich zukünftige Streckenabschnitte mit dem Bus fahren oder meinen Pilgerweg sogar ganz abbrechen? Ich denke darüber nach – bevor ich abreise, kann ich die Schmerzen besser zwei Wochen lang in Spanien auskurieren. „Zeit haben“ ist doch mein Motto auf dem Jakobsweg. Vielleicht kann ich in der Zwischenzeit Spanischunterricht nehmen. Es wäre schön, eine neue Fremdsprache zu lernen. Also warte ich erst mal ab und beobachte, wie sich die Situation entwickelt.
Zum Frühstück esse ich ein paar Kekse und Brot mit Marmelade, die einer der Franzosen mir anbietet. Dann nehme ich eine Tablette und starte auf die heutige Etappe.
Ängstlich setze ich einen Fuß vor den anderen – erleichtert merke ich, dass es ohne große Schmerzen geht. Die Bäume beginnen zu grünen, ich freue mich über den Frühling. Ich denke an Ralph, der mir sein Navi mit spanischen Wanderkarten angeboten hat. Die brauche ich hier definitiv nicht, der Weg ist deutlich durch gelbe Pfeile ausgeschildert. Trotzdem freue ich mich noch jetzt über sein Angebot. Vielleicht hat er nach meiner Rückkehr Interesse, ein Blick in mein Reisetagebuch zu werfen?
Als ich an einer kleinen Kapelle vorbeikomme, stoppe ich. Sie ist verschlossen, ich kann durch ein Gitter in den Altarraum hineinsehen. Ich hole einen Zettel mit einem Gebet aus meinem Rucksack und spreche es leise.
Herr, führe mich dahin, wo du mich haben willst.
Zeig du mir die Menschen, die ich treffen soll,
sag mir, die Worte, die ich sprechen soll
und hilf mir, dass ich dir nicht im Weg stehe.
Dieses Gebet kenne ich, seit ich schon vor ein paar Wochen von der ungeliebten Arbeitsstelle wegversetzt werden sollte. Personalchef und Abteilungsleiter sind einverstanden gewesen. Es fehlte aber immer noch eine Genehmigung der Geschäftsleitung, woraufhin ich beschlossen habe, Gott um Hilfe zu bitten.
Seit Jahren hatte ich kein persönlich formuliertes Gebet mehr gesprochen und deshalb im Internet nach einem geeigneten Text gesucht.
Das Gebet mit dem Wunsch nach Gottes Führung hat mich spontan angesprochen, weil ich damit nicht für meine präferierte Lösung bete, sondern generell auf Gott vertraue.
Tatsächlich hat es aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen mit der Versetzung nicht geklappt. Stattdessen wurde ich aufgefordert, mich auf eine weitere Stelle schriftlich zu bewerben, was ich dann direkt vor meiner Abreise auch getan habe.
Auch hier auf dem Camino finde ich dieses Gebet sehr passend. Ich bin zwar mit einem klaren Ziel gestartet, jetzt sind aber durch die Schmerzen Hindernisse aufgetaucht. Nicht wenige Pilger brechen den Jakobsweg wieder ab - möglicherweise führt mein Weg nicht bis nach Santiago. Vielleicht ist die Strecke einfach zu weit für mich. Wichtig finde ich nur, dass ich meinen persönlichen Weg gehe. Hier auf dem Jakobsweg, genauso wie in meinem weiteren Leben.
Um halb elf komme ich in Boadilla del Camino an. Dank der Tablette bin ich jetzt schmerzfrei und völlig in meine Bewegung vertieft. Das Gehen bringt Spaß, ich möchte gar nicht mehr damit aufhören. Gestern habe ich gedacht, dass dieser Ort mein heutiges Etappenende sei, jetzt möchte ich am liebsten bis Frómista weiterlaufen. Ich habe mir also wieder viel zu viel Sorgen gemacht, über Dinge, die gar nicht eintreffen.
Jetzt kommt mir alles unkompliziert vor. Einfach eine Tablette nehmen - und alles ist gut. Mein übliches Widerstreben gegen Schmerzmittel versuche ich wegzuschieben. Raten die Ärzte nicht meist, man solle lieber eine Schmerztablette nehmen, bevor man in eine Schonhaltung geht? Ruhigstellen ist nicht mehr modern, heutzutage wird moderate Bewegung empfohlen. In Anbetracht dessen, dass die meisten Männer, die ich hier treffe, dreißig Kilometer am Tag laufen, deklariere ich mein heutiges Pensum bis Frómista von 14,7 Kilometern großzügig als mäßige Belastung.
Auf meinem weiteren Weg passiere ich eine Kirche mit Storchennest obenauf. Der braune Turm hat ein sehr flaches Dach. Neben dem Kreuz sitzt der Storch in seinem Nest.
Ich wandere eine ganze Weile an einem kleinen mit Schilf bewachsenen Kanal entlang, dem „Canal de Castilla“. Ich befinde mich auf dem alten Treidelpfad. Ein Glück, dass ich nur meinen Rucksack tragen muss und kein Schiff hinter mir her ziehe.
Als ich mein Handy einschalte, summt es kurze Zeit später zweimal. Meine Mutter schreibt mir eine aufgeregte SMS. Offenbar haben meine Eltern einen Anruf mit der Frage bekommen, ob sie ein R-Gespräch annehmen wollen. Wie meine Mutter in ihrer zweiten Nachricht dann geschrieben hat, hat sie mittlerweile über das Internet herausgefunden, dass es sich um Telefonnepp handelt. Ich schreibe zurück, dass alles in Ordnung ist. Prompt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil die SMS schon von gestern Abend stammt, woraufhin sie sich nun einige Zeit Sorgen gemacht hat. Gleichzeitig ärgere ich mich über meine Schuldgefühle. Ich bin nicht für die Sorgen anderer Menschen verantwortlich, erst recht nicht für die Katastrophenfantasien meiner Eltern! Während ich noch mit dem Handy hantiere, überholen mich zwei Pilger, die ich nur flüchtig und ohne aufzuschauen grüße. Das macht mein Herz schwer. Ich möchte im Hier und Jetzt sein - der Anspruch der ständigen Erreichbarkeit stört mich ohnehin. Ich gucke noch mal auf mein Handy und stelle fest, dass zwischen den beiden Nachrichten meiner Mutter zwanzig Minuten liegen- sie hat sich also nur kurz Sorgen gemacht. Mich beschäftigt der Vorfall jetzt schon länger.
Mühsam schaffe ich es, die Landschaft wieder wahrzunehmen, gegenüber steht ein langes, einstöckiges gelbes Haus mit bunten Dachziegeln, ich frage mich, ob da jemand wohnt oder ob es sich um ein Lagerhaus handelt.
Schließlich erreiche ich eine vierstufige, aus großen Natursteinen gebaute Schleuse, wie der Kanal gemäß meinem Pilgerführer wohl über zweihundert Jahre alt. Auf einer kleinen steinernen Brücke überquere ich sie.
Am frühen Nachmittag treffe ich in Frómista ein. Ich bin heute entgegen meiner pessimistischen Einschätzung etwa fünfzehn Kilometer gegangen. Das hat gut geklappt. Auch zukünftig sollte ich stets nur die nächste Etappe planen, statt mir schon über den ganzen Weg bis nach Santiago Sorgen zu machen.
Als erstes steuere ich eine Apotheke an. Direkt hinter der Eingangstür steht ein ganzes Regal voll mit verschiedensten Sorten von Blasenpflastern, Fußcreme und Bandagen. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein Aufbau mit Gesundheitslatschen: Pantoffeln, Sandaletten und Sandalen. Ich kaufe mir eine Fußbandage, Salbe, weitere Ibuprofen-Tabletten und frische auch meinen Vorrat an Blasenpflastern auf.
Nach dem Mittagessen, das ich als einziger Gast in einem kleinen Restaurant einnehme, suche ich mir ein Hotel. Als ich noch unschlüssig davor stehe, kommt plötzlich von der anderen Straßenseite eine Frau herbei gelaufen. Sie fragt, mich, ob ich hier übernachten möchte und schließt ohne eine Antwort abzuwarten auf.
Gut, dann nehme ich also dieses Hotel. Die Dame kassiert als erstes den Übernachtungspreis, zeigt mir, wo ich die Chipkarte zurückgeben soll, zeigt im Zimmer ausführlich, wie die Elektroheizung eingeschaltet wird und wo sich die Fernbedienung befindet.
Da ich keine Fragen stelle, verlässt sie den Raum. Als nächstes dusche ich und befreie meine Füße von den Pflastern und entdecke Blase Nummer sechs.
Dann spaziere ich ins Zentrum, setze mich am Platz vor der Kirche San Martín auf einen Terrassenstuhl und trinke einen entkoffeinierten Kaffee. Es sind wieder über 20 Grad. Ich strecke die Beine aus, rühre im Kaffee und strahle den rund siebzigjährigen Spanier vom Nachbartisch an, der gleich zu reden anfängt. Ich nicke hin und wieder und sage „si“ oder „Alemania“, denn durch einige Schlüsselworte wie „Santiago“ errate ich seine Fragen.
Später besichtige ich die romanische Kirche. Es gibt keine Innenbemalung aber zahlreiche Skulpturen: Tiere, Menschen und Fabelwesen. An den Säulen ranken sich Blätter und Blumen, vermischt mit Ornamenten.
Draußen scheint immer noch die Sonne. Im Ort soll es ein Museum geben, aber selbst nach längerem Suchen finde ich es nicht. Auch den Supermarkt entdecke ich erst, nachdem ich ihn das dritte Mal passiere. Er sieht von außen unscheinbar aus, keine Aufschrift, keine Reklame und die Farbe der Ladenkette scheint weiß zu sein. Eine Dose Mais, eine Dose Champignons, Baguettebrot und Käse werden heute mein Abendbrot sein.
Ich schlendere wieder zurück zum Hotel und fahre mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage zu meinem Zimmer. Das Essen, das ich dann auf meinem Bett sitzend mit einer Plastikgabel einnehme, schmeckt doch etwas fad.
Mit Thomas schreibe ich einige Male hin und her und berichte von den vielen Storchennestern. Der Fernseher zeigt nur spanische Kanäle. Gelangweilt gehe ich um 20 Uhr ins Bett.