Читать книгу Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff - Страница 5
ОглавлениеTag 2 - 26. März 2012: Burgos
Im Frühstücksraum ist es so kalt, dass ich rasch zwei Scheiben Brot in den Toaster schiebe und dann meine graue Fleecejacke aus dem Zimmer hole. Toast mit Marmelade, ein Glas Organgensaft, ein Joghurt, das ist heute mein Frühstück. Ich bin der einzige Gast. Auch in diesem Raum gibt es keine Fenster, ich vermute, es ist bewölkt - vielleicht kommt mir der Gedanke, weil es in dem Raum so dunkel ist. Es wird bald schon 10 Uhr.
Eine Stunde später breche ich auf. Draußen strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ich tausche meine Brille gegen meine Sonnenbrille. Schnell stelle ich fest, dass der Jakobsweg direkt am Hotel Jacobeo vorbei läuft. Das hätte ich mir bei diesem Hotelnamen denken können! Der Weg ist gut ausgeschildert. Es gibt an den Häusern Kacheln mit der Jakobsmuschel und einem Pfeil darauf. Oft ist auch ein gelber Pfeil auf dem Weg oder an den Hauswänden aufgemalt. Jeder Schritt mit dem rechten Fuß schmerzt. Ich frage mich, ob ich das jetzt die ganzen fünfhundert Kilometer aushalten muss, schiebe den Gedanken aber wieder beiseite.
Um halb zwölf mache ich einen Stopp an der Kathedrale. Zwei Störche bauen auf einem der gotischen Türmchen ein Nest. Ich höre sie klappern. Vor der Kathedrale steht ein kleiner Informationscontainer. Dort hole ich mir den allerersten Stempel für meinen Pilgerpass und betrachte diesen mit Stolz. Den Pass habe ich mir übers Internet von der Sankt-Jakobus Gesellschaft in Würzburg bestellt. Er ist quasi meine Eintrittskarte in die Pilgerherbergen. Außerdem soll er mit mindestens einem Stempel pro Tag dokumentieren, dass ich tatsächlich die gesamte Strecke zu Fuß gegangen bin.
Als Pilger kostet der Eintritt für die Besichtigung der Kathedrale zwei Euro. Beim Verlassen des Containers entnehme ich dem Schild „no aseos“, dass es dort keine Toiletten gibt. Das hätte ich ohnehin nicht vermutet. Bei der Besichtigung überfällt mich allerdings bald ein dringendes Bedürfnis, weshalb dieser kulturelle Programmpunkt etwas kurz gerät.
Nach dem Toilettenbesuch studiere ich die Auslagen des Souvenirshops. Ein gelber Pfeil als Kettenanhänger gefällt mir besonders gut. Ach da kommen ja noch hunderte Souvenirläden, denke ich und verlasse den Laden wieder.
Zum Mittagessen kaufe ich mir zwei Kilometer weiter in einem Supermarkt Brot, ein Säckchen Mini-Babybels, eine Packung Cherrytomaten, eine Dose Limonade und Frischkäse, der wie diese Stadt „Burgos“ heißt. Ich setze mich einige hundert Meter weiter auf die Wiese an einem kleinen Fluss auf meine blaue Sitzunterlage und streiche mir den Frischkäse mit meinem Taschenmesser aufs Brot. Auch von den kleinen Käsestücken genehmige ich mir zwei.
Ein Dackel kommt angelaufen, er drängt mit seiner Schnauze zu meiner Frischkäsepackung hin, die ich eilig wieder einpacke. Ich drehe mich um. Sein Herrchen sitzt auf einer Treppe und sieht zu. Erst als der Hund ohnehin schon von selbst wegläuft, pfeift er ihn heran.
Auf der anderen Seite der Wiese sehe ich etwas, was ich nur Männerspielplatz nennen kann. Viele Sportgeräte, Reckstangen, Vorrichtungen zum Bauchmuskeltraining und Kreisel stehen auf dem Rasen. Einige ältere Herren, sitzen entweder auf der Bank oder machen Übungen. Einer winkt mich heran. Ich zögere etwas, denke aber an mein neues Motto. „Zeit zu tun, wozu ich Lust habe.“ Ich könnte den Jakobsweg auch nutzen, um meine Schüchternheit zu überwinden. Ich steige zu ihm auf eine Konstruktion, die man am ehesten als Wippe bezeichnen kann. Wir sitzen uns gegenüber, es geht darum, den Körper seitwärts zu neigen, sodass das Gerät pendelt. Nach einigen Minuten verabschiede ich mich mit einem lächelnden Nicken.
Schwungvoll gehe ich weiter. An mehreren Straßenkreuzungen laufe ich geradeaus, ohne einen Wegweiser zu entdecken und steige die hohen Bordsteine runter und wieder hoch.
Schnell befürchte ich allerdings, dass ich vom Jakobsweg abgekommen bin. Eine viertel Stunde irre ich nervös durch die Stadt, halte vergebens nach gelben Pfeilen Ausschau, bis ich auf zwei freundliche Passanten treffe. Der Rucksack lässt sie mich eindeutig als Pilgerin identifizieren, weshalb die beiden mir ungefragt den Weg weisen.
Zurück auf dem Camino laufe ich am Universitätscampus entlang, die Stadt ist immer dünner besiedelt, stattdessen säumen Bäume die Straße. Einige Jogger kommen mir entgegen, aber keinem einzigen Pilger bin ich bisher begegnet. Ein Geistlicher in schwarzem Gewand überquert vor mir die Straße. „Buen Camino“, grüßt er. Das bedeutet so viel wie „Guten Pilgerweg“. Ich wiederhole den Gruß und freue mich, dass ich mit dieser besonderen Formel nun zum ersten Mal angeredet werde.
Gegen 14 Uhr verlasse ich auch die letzten Ausläufer von Burgos. Ein Stück des Weges führt parallel an einer Autobahn vorbei. Ich stelle mir vor, dass dort wie in Deutschland üblich ein braunes Hinweisschild mit der Abbildung eines Weges und der Aufschrift „Kulturhistorischer Pilgerweg: Camino de Santiago“ steht. In meiner Fantasie sagt eine Beifahrerin zum Fahrer, als sie mich sehen: „Guck mal, da läuft sogar eine!“
Daneben wird eine Straße neu gebaut. Kurz stoppe ich, um meine Jacke zusammengerollt hinter die Verschlusslasche meines Rucksacks zu stopfen. Ein Bauarbeiter überquert vor mir die staubige Schotterpiste. Plötzlich ist er vor einem LKW verschwunden, ich sehe eine riesige Sandwolke, die anfängt, sich zu bewegen - eine Windhose. Mit meinen Augen verfolge ich den Miniwirbelsturm bestimmt fünfzig Meter, bis er sich auflöst. Der Bauarbeiter ist auch weg. Ich kann ihn zumindest nirgends mehr entdecken. Ich glaube nicht wirklich, dass ihn die Windhose aufgesogen hat, aber das Ganze hat etwas Mysteriöses.
Eineinhalb Stunden später mache ich Rast im Schatten einer Autobahnbrücke. Dort hat ein Pilger seinen Lacoste-Pullover und seine rote Regenjacke vergessen oder kurzzeitig deponiert. Vielleicht war ihm auch sein Gepäck zu schwer.
Als ich weiter wandere, bemerke ich, dass sich mein Rucksack nach den mittlerweile acht Kilometern auch schwerer anfühlt. Kurz setze ich ihn ab und kreise mit den Schultern.
Einen halben Kilometer vor Tardajos, der nächsten Ortschaft nach Burgos, holen mich auf einem von Bäumen flankierten Feld zwei Pilger ein. Anja, eine große, sonnengebräunte, blonde Frau mit Kurzhaarschnitt und ihr Mann Michael kommen aus Dänemark, sie sind vor einer Woche in Pamplona gestartet.
„Ihr seid die ersten Pilger die ich auf dem Jakobsweg treffe“, stelle ich auf Englisch fest.
Sie erzählen von einem Mann aus Rumänien, den sie kürzlich trafen, und der auf einer Nebenstrecke des Jakobsweges fünf Tage lang keinen anderen Pilger traf, bis er überglücklich den beiden begegnete. Ich bin auch froh, so nette Bekanntschaft zu machen. Michael und Anja wollen heute ebenfalls nur bis Tardajos und schmunzeln, als ich berichte, dass ich heute in Burgos gestartet bin. Alles in allem bin ich elf Kilometer gelaufen. Mittlerweile ist es auch schon 17 Uhr.
In Tardajos folgen wir einem auf den Asphalt gemalten gelben Pfeil mit dem Wort „Albergue“- Herberge, bis wir vor einem roten zweistöckigem Häuschen stehen. Das ist ja einfach zu finden, stelle ich erleichtert fest.
Die Herberge ist eingerichtet, wie ich es aus meiner Kindheit von deutschen Jugendherbergen kenne. Ein Acht- und ein Vierbettzimmer mit Doppelstockbetten, ein Badezimmer mit je zwei durch einen kleinen Schieber verriegelbaren Duschkabinen und zwei Toiletten. Im Badezimmer stehen Putzmittel. Es wirkt auf mich sehr sauber und ordentlich. Als erstes dusche ich und frage mich dann, was ein Pilger mit dem Rest des Tages anstellt.
Die Sonne scheint noch immer. Mit meinem Tagebuch setze ich mich vor der Herberge an einen großen Holztisch mit zwei Bänken. Anja und Michael setzen sich dazu. Kurze Zeit später treffen John und Tom ein, Vater und Sohn aus Leeds. Ich freue mich, weitere Pilger kennen zu lernen. John packt eine Packung Zigaretten aus und beide beginnen zu rauchen. John bezeichnet sich als Jakobsweg-süchtig. Er sei den ganzen Weg schon drei Mal gegangen und wolle davon jetzt los kommen, aber einmal müsse es jetzt noch sein, denn er wolle seinem Sohn den Camino zeigen. Tom geht aufs College, vom Aussehen hätte ich ihn jünger, etwa auf fünfzehn geschätzt.
Kurz darauf stoßen Dagmar und Kirsten aus Österreich zu uns. Michael und Anja begrüßen sie mit großem Hallo. Ich denke erst, die sind die letzten zweihundert Kilometer gemeinsam gegangen, erfahre aber, dass sich die vier erst am vorherigen Tag in einer Herberge kennen gelernt haben.
In einem Mix aus Deutsch und Englisch werde ich über die wesentlichen Prinzipien des Jakobweges unterrichtet.
„Es geht nichts verloren auf dem Camino“, behauptet Kirsten. „Gestern habe ich meine Kamera verloren. In der Herberge habe ich bemerkt, dass sie sich nicht mehr in meinem Rucksack befindet. Zuletzt hatte ich sie auf einem Rastplatz. Da ist der Herbergsvater extra mit mir hin gefahren, und genau, wo ich gesessen habe, lag der Fotoapparat.“
„Ich habe fünfzig Euro gefunden“, ergänzt Dagmar, „und sie dem Besitzer wieder zurückgegeben.“
Ich lache.
„Nein, wirklich!“, bekräftigt Dagmar, „der Schein lag mitten auf dem Weg, und der musste von jemanden direkt vor uns verloren worden sein, sonst hätte ihn jemand anderes aufgehoben. Ich habe beim nächsten Stopp die Brasilianerin vor uns eingeholt und gefragt Where do you have your money? Da hat sie bemerkt, dass ihr Fünfziger aus der hinteren Hosentasche verschwunden ist. Taaaraaa! habe ich gesagt und ihr den Schein zurückgegeben. Die hat sich vielleicht gefreut.“
Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, ich genieße die Gesellschaft.
„Wollen wir abends in der Bar an der Straße essen gehen?“, fragt Kirsten auf Englisch, alle nicken. Eine Bar bezeichnet in Spanien eine Lokalität, in der es kleine Imbisse und Getränke gibt. Meist hat sie vom Frühstück bis zum späten Abend geöffnet.
Um kurz vor acht stehen wir tatsächlich allesamt in der einzigen Kneipe von Tardajos. Abendessen gibt es noch nicht, so erfahren wir, erst ab 20:30 Uhr. Kurz setzen wir uns daher an einen Tisch im Hauptraum. Ich bemühe mich, nicht auf die zahlreichen ausgestopften Tiere an den Wänden zu sehen. Dann werden wir in einen separaten Raum geführt, an der Tür steht „Comedor“.
Die Bedienung, eine resolute Frau in den Fünfzigern nimmt unsere Bestellung auf. Ich bin froh, dass Anja etwas Spanisch spricht, denn es gibt keine Speisekarte. Stattdessen zählt die Dame für Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch jeweils drei Möglichkeiten auf.
Alles versteht Anja auch nicht, außerdem ist keines der Hauptgerichte vegetarisch, und Dagmar möchte nur einen Salat ohne Hauptspeise. So dauert es eine Weile, bis wir Vorspeisen und Hauptgerichte ausgewählt haben. Ich nehme einen Salat und anschließend Nudeln mit Tomatensoße, was eigentlich eine weitere Vorspeise gewesen wäre. Mit großem Seufzen verschwindet die Dame in der Küche und kehrt zurück mit einer Orange, einem Joghurt und einem Becher Vanillepudding. „Postre?“- Nachtisch?, fragt sie.
Unter großem Gelächter zeigt jeder von uns auf eine der Nachtischvarianten.
Gespannt sehe ich in die Runde, hier sitze ich also mit sechs Pilgern aus Dänemark, England und Österreich, die ich vor ein paar Stunden noch nicht kannte. Die Bedienung stellt unaufgefordert eine Flasche Wein und zwei Flaschen Wasser auf den Tisch.
Mit seinem nicht ganz einfach zu verstehenden nordenglischen Akzent berichtet John: „Die Ankunft in Santiago ist gar nicht so sensationell. Das ist letztlich auch nur eine Großstadt mit viel Verkehr. Am schönsten finde ich immer den Punkt, an dem ich Santiago zum ersten Mal sehe.“
Unsere weitere Unterhaltung dreht sich um die Erlebnisse auf den vergangenen Kilometern und die Frage, ob Spanischkenntnisse hier notwendig sind. Hoffentlich nicht, denke ich. Aber solange immer jemand dabei ist, der Spanisch und mindestens noch Englisch spricht, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
Beim Bezahlen um 22 Uhr freue ich mich, dass die Getränke in den zehn Euro für das Menü schon enthalten sind. Wir brechen eilig auf, denn um diese Uhrzeit schließt die Herberge.
„Keine Panik“, sagt Michael „die müssen eh auf uns warten, außer uns gibt keine weiteren Gäste.“
Trotzdem bin ich froh, als wir eine viertel Stunde später endlich ins Gebäude kommen. Wir übernachten im Achtbettzimmer, nur die beiden Österreicherinnen schlafen im Nebenraum. Schon fünf Minuten später liegen alle in den Betten. Jeder wünscht jedem eine gute Nacht. Ich murmle mich in meinen Schlafsack ein und decke mich außerdem mit einer der ausliegenden Wolldecken zu. Ein wohliges Kindheitsgefühl aus alten Klassenfahrtzeiten sammelt sich in meinem Bauch. Zufrieden schlafe ich ein.