Читать книгу Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff - Страница 6

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Tag 3 - 27. März 2012: Tardajos

Als ich die Augen öffne, packen die beiden Engländer gerade ihre Sachen ein. Michaels Bett ist bereits leer, Anja rollt ihren Schlafsack zusammen. Ich stehe auf und ziehe meine Schultern nach hinten, der Rücken fühlt sich vom ungewohnten Rucksacktragen verspannt an. Anja präsentiert mir stolz ihre Flipflops: „Die habe ich in einer Herberge gefunden, kann ich gut gebrauchen.“ Sie setzt ihren Rucksack auf, an dem eine Alu-Tasse baumelt. Unverkennbar, Anja ist eine Pilgerin. Ich auch! Sehe ich auch so aus? Ich ziehe meine pikobello saubere, beige Wanderhose und meine lila-rosa-karierte Bluse an. Ich fühle mich nicht anders als noch zu Hause, frage mich aber, wie ich aussehe, wenn ich tiefer in das Pilgerleben eintauche und ob ich dann auch irgendwann liegengelassene Badelatschen von anderen Pilgern auftrage.

Wir essen gemeinsam im Frühstücksraum. Der Herbergsvater, „Hospitalero“ genannt, heißt Paolo, ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er hat Baguettes und ein Glas Marmelade besorgt. Alle greifen kräftig zu, ich esse an die zehn Minischeiben. Die sauersüße Himbeermarmelade kommt von der „Gamle Fabrik“, eine Marke, die mir vage aus meinem letzten Dänemarkurlaub bekannt vorkommt. Die Dänen sind über die heimische Marmelade begeistert und loben das Frühstück. Paolo berichtet in passablem Englisch, dass er diesen Herbergsdienst eine Woche lang unentgeltlich verrichtet. Den Jakobsweg ist er selber schon viele Male gegangen - oft die klassische Variante, auf der wir unterwegs sind, aber auch die Nordstrecke oder die von Madrid nach Santiago. „Der Herbergsdienst ist auch eine Form, den Jakobsweg zu begehen“, stellt Anja fest.

Nach dem Frühstück verschwinden alle auf die Toilette. Bevor wir die Herberge verlassen, bezahlen wir noch unseren Obolus. Einen festen Preis für die Unterkunft gibt es nicht. Ich werfe zwölf Euro in den dafür vorgesehenen Briefkasten.

Gegen 8:30 Uhr brechen wir nacheinander auf, die Dänen als erste.

„Wir brauchen uns nicht zu verabschieden, wir sehen uns ohnehin unterwegs“, ruft mir eine der Österreicherinnen zu. Die kennen mein Tempo nicht, denke ich. Gestern bin ich elf Kilometer gegangen. Für den zweiten Wandertag nehme ich mir ebenfalls vor, den Fußmarsch kurz zu halten. Die Sonne geht gerade auf, und die Morgenröte taucht die Landschaft in ein sanftes Licht. Eine halbe Stunde später durchquere ich das Dorf Rabé de las Calzadas. Dann wandere ich acht Kilometer weit über einen Weg mit rotem Boden quer durch die weite Landschaft aus sanften Hügeln. Links und rechts liegen Felder. Diese Hochebene heißt Mesata und ist bei Pilgern berüchtigt, denn kaum ein Baum bremst die Sonneneinstrahlung. Selbst jetzt an einem Vormittag im März ist es warm. Ich passiere einen Rastplatz mit Brunnen, ohne dort zu halten.

In Hornillos del Camino, ein Dorf mit Häusern aus groben Natursteinen, begegne ich tatsächlich den beiden Engländern und den Österreicherinnen wieder. Mein Herz hüpft, als sie mich mit Winken und Hallo-Rufen begrüßen. Wir kaufen uns einen kleinen Imbiss im Lädchen und rasten gemeinsam am zwei Meter hohen Dorfbrunnen aus grauem Stein. Mein „Bocadillo de Queso“ besteht aus Baguettebrot und dicken Käsescheiben. Leider ist kein Salatblatt dabei. Hätte ich es zusammenstellen können, hätte ich saftige Tomatenscheiben dazu gefügt, auch ein paar Zwiebelringe wären schön gewesen. Der Verkäufer hat mich noch gefragt, ob er genügend Käse draufgetan habe. Obwohl ich genickt habe, hat er das Baguette wieder ausgewickelt und doch noch eine weitere Scheibe würzigen Käse drauf gelegt. Ich esse das belegte Brot bis auf ein kleines Stück, das ich in eine Plastiktüte einpacke.

Anschließend versorge ich Tom noch mit einen Pflaster für eine Schnittwunde an der Hand, fülle meine Wasserflaschen am spritzenden Hahn des Brunnens auf und breche nach den Österreicherinnen auf.

Meisen flattern von einem Busch zum nächsten. Meine Gedanken wandern zurück zu meiner Arbeit. Es kommt mir vor, als wären die unangenehmen Erlebnisse der letzten Wochen zwei, drei Jahre her. Da mich der Marsch bergauf anstrengt, drossle ich mein Tempo.

Der weite, sandige Weg mit einer Grasspur in der Mitte führt durch die karge Landschaft. Die Sonne brennt, der Felsbrockenwall zu meiner Rechten spendet nicht genügend Schatten. Ich fühle mich mittlerweile erschöpft. Hoch am Himmel fliegt ein Flugzeug. Ich bemerke, dass der Schall von weit hinter der sichtbaren Flugzeugposition kommt. Das physikalische Prinzip, dass Licht schneller als Schall ist, kenne ich. Aber bei Flugzeugen habe ich das noch nie beobachtet. Nach kurzem Überlegen komme ich darauf, dass es normalerweise gar nicht so ruhig ist, dass ich den Schall eines hoch fliegenden Flugzeugs hören kann.

Ich finde kein schattiges Plätzchen und mache nur eine kurze Mittagspause. Stunde um Stunde laufe ich weiter durch die Mittagshitze, die Jacke habe ich längst ausgezogen, meine Bluse ist schweißdurchtränkt. Wie halten die Pilger das im Sommer aus? Ich bin froh über meinen weißen Sonnenhut. Da ich nach Westen wandere, kommt die Sonne von links. Habe ich in Santiago dann eine gebräunte linke und eine blasse rechte Gesichtshälfte? Ich creme noch einmal mit Sonnencreme nach.

Kurz vor Hontanas holen mich am Nachmittag zum ersten Mal seit dem Aufbruch wieder zwei Pilger ein, langsam kommen der Mann mit dem Strohhut und die Frau näher. Es sind schon wieder Michael und Anja! Wie kann denn das sein? Ich habe sie vor mir gewähnt und freue mich, sie wieder zu sehen. Sie berichten von einem Abstecher zum Kloster, die Herberge dort habe aber geschlossen.

Gleich hinter dem Ortseingang setzen wir uns in ein Café. Nach und nach treffen weitere Pilger ein, auch die beiden Österreicherinnen und die Engländer, die mich unterwegs überholt haben. Sie haben im Schatten eines kleinen Walls pausiert, als ich vorbeizogen bin und berichten, dass sie sich amüsiert hätten, weil ich sie nicht bemerkt habe.

Hontanas ist ein mittelalterliches Dorf. Seine erdfarbenen Mauern passen zum hellen Licht. Es gibt drei Herbergen, eine „municipal“, die ich mit „städtisch“ übersetzten würde, und zwei private. Wir entscheiden uns, alle zusammen in der städtischen zu übernachten, die sich in einem Natursteinhaus aus dem vierzehnten Jahrhundert befindet.

Als erstes dusche ich dort und schamponiere genüsslich meine schulterlangen Haare. Die Schuhe mag ich nun nicht wieder anziehen. Also verlasse ich das Haus auf Badelatschen und mache einen kleinen Rundgang durch den Ort. Das Dorf besteht fast nur aus einer Straße.

Ich biege auf ein unbebautes Grundstück, ziehe die Latschen aus, spüre das Gras an meinen Füßen kitzeln und hüpfe leicht und unbeschwert über die Wiese. Nach der langen Wanderung habe ich keine Sorgen, keine Pläne, mein Kopf ist leer, und es gibt für mich auf der Welt nichts Schöneres, als barfuß auf dieser Grasfläche zu laufen. Zukünftig werde ich alle Urlaube auf diese Weise verbringen!

Zurück in der Herberge, die ausschließlich von uns sieben belegt ist, verkündet John, dass er heute Abend kochen werde. „You are welcome to join us“, lädt er mich ein. Er fragt mich, ob ich einen Salat oder einen Nachtisch zubereiten kann. Im Lädchen gegenüber kaufe ich Tomaten, grünen Salat, eine Gurke und noch eine Tafel Schokolade.

John kocht Nudeln mit Tomatensoße auf dem Elektroherd, und ich schnipple die Salatzutaten in Stücke. Das Prozedere dauert länger als eine Stunde.

Als die Teller endlich gefüllt sind, hauen wir ordentlich rein. Wir sitzen dabei gemeinsam am großen Holztisch in der Küche und trinken Rotwein. Nach einer Weile kommt die Frage auf, wer was beruflich macht. Michael ist Programmierer, Anja freie Künstlerin. John vermutet, dass sie malt. „Nein“, berichtigt sie auf Englisch, „ich mache Objektkunst. Früher habe ich gemalt. Ich habe auch einen Skizzenblock dabei, habe bis heute aber erst eine Skizze angefertigt.“

Als Malerin hat Anja hin und wieder ein Bild verkauft - aber seit sie Objekte herstellt, habe sie nichts mehr eingenommen. John fragt, welchen Künstler sie am liebsten mag. „Anselm Kiefer“, sagt sie.

„Oh, den kenne ich“, bemerke ich, „und zwar seit vorgestern. Ich war vor meinen Start noch in Bilbao.“

Bei der Frage nach meinem Beruf berichte ich, dass ich Ingenieurin bin. Zu Michael hingewandt ergänze ich: „Ich war wie du in der Softwareentwicklung. Aber letzten Sommer bin ich ins Projektmanagement gewechselt, weil ich mal etwas Neues machen wollte.“

Inzwischen haben wir die Pasta komplett verspeist. Da alle noch hungrig sind, holt Anja die Flasche Olivenöl, in das wir das übrig gebliebene Brot tunken, dazu verzehren wir den Rest Salat. Zum Schluss hole ich die Tafel Schokolade und setze mich diesmal an den Rand der Bank nahe dem Herd.

John berichtet, dass er mit Antiquitäten handelt, was aber nicht sein ursprünglicher Beruf sei. Vor einigen Jahren habe er noch als Lehrer gearbeitet, das sei nun aufgrund der Stressbelastung nicht mehr möglich.

Als er fertig ist, gucken alle mich an. Offenbar haben sie das zuvor Gesagte vergessen, woraufhin ich ein weiteres Mal an der Reihe bin. Das animiert mich, meine Situation vollkommen anders als eben zu beschreiben: „I'm trying to get rid of my job, because I found out, that it makes me sick.“ Mein Herz klopft. Auf Deutsch bedeutet das „ich versuche meinen Job loszuwerden, weil ich herausgefunden habe, dass er mich krank macht“. Nur hätte ich das auf Deutsch nie so direkt formuliert. Was sagen sie jetzt wohl? Alle in der Runde nicken.

Ich spüre viel ehrliches Interesse in Michaels Blick und schildere meine Erlebnisse.

Insgeheim habe ich mir vor dem Beginn des Jakobsweges vorgenommen, hier nichts von meinem Kummer zu erzählen. So dachte ich, könne ich ihn leichter vergessen. Jetzt tu ich das Gegenteil und rede mir alles von der Seele.

„So you were supposed to be the trouble shooter“ - du solltest also die Problemlöserin sein, kommentiert Michael, als ich meine Erzählung beende.

„I thought I was the trouble shooter, but for my colleagues I was the trouble“ - ich dachte, ich wäre eine Problemlöserin, aber für meine Kollegen war ich das Problem - antworte ich.

Auf Englisch formuliere ich häufig direkter als auf Deutsch, weil mir differenzierenderes Vokabular fehlt. Zu meiner Überraschung erklärt mir dieser englische Satz, was mir bis dahin noch nicht klar war: Es ist alles eine Frage der Sichtweise.

In dem alten Haus ist es kühl geworden. Kirsten schaltet die Herdplatten an, eine andere Heizquelle gibt es nicht. Wir sitzen noch lange zusammen und trinken den trockenen Rotwein. Ich trage keine Uhr, auch meine Mitpilger kümmern sich nicht um die Zeit.

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