Читать книгу Raetia - Melissa Jäger - Страница 11

Monat August, am Tag vor den Nonen des August

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Der Festtag begann für Alpina mit Bauchkrämpfen und Kopfschmerzen. Sie kannte die Symptome mittlerweile recht gut und wusste, dass ihre Mondblutung bevorstand. Allerdings hoffte sie, zumindest die Feiern noch mitmachen zu können. Sie fragte ihre Mutter und die Großmutter um Rat. Übereinstimmend entschieden die Obstetrices, es mit einem Trank aus der Wurzel der Angelica, Gänsefingerkraut, Hirtentäschel und Melisse zu versuchen. Das Gebräu schmeckte würzig, und sie hatte schon bald das Gefühl, dass die Bauchkrämpfe nachließen.

Das Fest der Getreideernte wurde mit viel Tanz und Musik gefeiert. Es war neben dem Frühlingsfest eine beliebte Gelegenheit für die Partnerwahl. Alpina lernte Etuni, Estas und Secunda kennen, die alle in diesem Jahr erstmals ihre Blutung bekommen hatten. Auch sie trugen die komplette Tracht der raetischen Frauen. Die Mädchen kicherten aufgeregt. Für alle drei war der Zeitpunkt gekommen, sich den heiratsfähigen Männern der Region zu zeigen. Die Eltern würden dann versuchen, einen guten Partner für sie zu finden und das Brautgeld auszuhandeln. Allen Mädchen schien die komplette Tracht mit den großen Flügelfibeln und dem langen Überkleid noch ungewohnt zu sein. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig.

Der Festplatz war herrlich geschmückt, und auch die Wettergötter hatten ein Einsehen. Die Sonne strahlte vom Himmel und hatte bis zum Mittag die regenfeuchte Erde einigermaßen getrocknet.

Pertha und Lasthe nahmen Alpina bei der Hand. Sie gingen von einem zum anderen, um ihre Enkelin den Festbesuchern vorzustellen. Die meisten kannte Alpina bereits, weil sie schließlich jedes Jahr die Ferien in Bratananium verbrachte. Aber zum Frühlings- und Getreidefest kamen auch Bauern aus der Umgebung mit ihren Frauen und Kindern. Als sie ihre Runde bereits beendet hatten, trafen Ritali und Knuse ein, auf die Pertha und Elvas schon sehnlichst gewartet hatten. Das Ehepaar war etwa im gleichen Alter wie Alpinas Großeltern. Ritali war klein und hatte leuchtend blaue Augen, mit denen sie Alpina und Elvas an strahlte.

„Wie schön dich mal wieder zu sehen Elvas! Und das hier muss deine Tochter sein, nicht wahr? Sie sieht dir sehr ähnlich! Pertha sagte, du hättest zwei Töchter? Werden wir auch die andere einmal sehen?“

Elvas lächelte. „Schön, dass es euch gut geht. Meine älteste Tochter Ilara ist frisch verheiratet. Sie ist in Augusta Vindelicum geblieben.“

Der ältere Mann, der ganz wie Lasthe einen weißen Vollbart trug, nahm Elvas in den Arm. Er hielt sie lange fest, dann sprach er mit dunkler Stimme: „Ich hoffe, es geht dir gut, Elvas? Wie steht es mit deinem Mann? Behandelt er dich gut?“

Alpina horchte auf. Warum sollte ihr Vater sie nicht gut behandeln?

„Oh ja, Knuse! Sehr gut! Caius ist mein Fels in der Brandung! Was hört ihr von Pithie?“

Der alte Mann seufzte. „Wenig, Elvas. Er ist im Augenblick in der Provinz Iudaea stationiert. Seine neue Frau ist Jüdin. Mit ihr hat er eine Tochter.“

Dann wandte er sich um und rief seinen Enkel. „Remi, komm einmal her!“

Aus einer Gruppe junger Männer löste sich ein mittelgroßer Junge mit schulterlangen blonden Haaren. Er trug eine Tunika mit blau-rotem Rautenmuster, die von einem bronzeverzierten Gürtel zusammenhalten wurde und einen Kapuzenumhang, den Kapuzenmantel. Seinen Hals schmückte ein gedrehter Bronzering. In lässig schwingendem Gang kam er auf die Gruppe um Alpina und ihre Familie zu. Knuse legte ihm den Arm um die breiten Schultern.

„Das ist Remi, mein Enkel. Ich denke, er kann seinen Vater nicht leugnen, oder Elvas?“

Alpina sah Tränen in den Augen ihrer Mutter glitzern als diese den jungen Mann betrachtete. Mit belegter Stimme antwortete sie: „Oh ja! Remi, du siehst deinem Vater unglaublich ähnlich!“

Neugierig betrachtete Alpina den jungen Mann, dessen Anblick ihre Mutter zu Tränen rührte. Seine tiefblauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus. Auf seinen Wangen zeigte sich ein beginnender Bartwuchs, und die langen Haare hielt er mit einem Lederband über der Stirn im Zaum. Als er Elvas und Alpina begrüßte, entblößte er eine kleine Lücke zwischen den Frontzähnen. Höflich verneigte er sich und hörte sich pflichtschuldig die Erklärungen seines Großvaters an. Doch sobald dieser fertig war, verabschiedete er sich wieder und kehrte zu seinen Freunden zurück.

Das Fest begann mit einem Eröffnungstanz der Frauen, der von einigen Musikern mit Flöten und Trommeln begleitet wurde. Rhythmisches Stampfen und Klatschen der Männer und wiederholte Positionswechsel im Kreis machten den Tanz turbulent. Schließlich wechselten die Männer ins Kreisinnere und drehten sich mit den Frauen sehr schnell im Kreis. Immer wieder wechselten die Tänzer aneinander vorbei, reichten sich die Hände, lösten sie wieder, lachten und sangen.

Die jungen Leute klatschten und wippten im Takt mit. Nach einer Weile verstummte die Musik, und die Tänzer bildeten einen großen Kreis. Nun waren die jungen Leute dran. Estas nahm Alpina bei der Hand und zog sie in die Mitte. Mit denselben Tanzschritten wie vorher die Erwachsenen vollführten sie nun ihren Kreistanz. Die Musiker, die die Tänze begleiteten, gerieten ebenso schnell ins Schwitzen wie die Tänzer.

Alpina haderte mit ihrem langen, ungewohnten Gewand und den neuen Tanzschritten. Bislang hatte sie nur zugesehen, und während Estas, Etuni und Secunda in den vergangenen Wochen Gelegenheit gehabt hatten zu üben, waren die Schrittkombinationen für Alpina neu. Doch bald lernte sie die Abfolge der Schritte, Drehungen und Wechsel. Sie begann Spaß am Tanzen zu haben. Als sie sich zum Ausruhen hinsetzte, lächelte Etuni ihr zu. „Du machst das schon richtig gut, Alpina!“, lobte das pausbäckige Mädchen mit den zwei langen blonden Zöpfen.

Alpina bedankte sich und stürzte gierig das kühle Essigwasser hinunter, das Elvas ihr anbot. Die Bauch- und Kopfschmerzen waren vergessen.

Wieder und wieder wurde sie aufgefordert mitzutanzen, und bald beherrschte sie die beliebtesten und wichtigsten Tänze.

Gegen Abend wurde den Göttern für das gute Wetter gedankt, das die reiche Ernte möglich gemacht hatte. Brot, Getreide und Kränze aus Stroh und Blumen wurden geopfert. Dann entzündete Lasthe unter gesungenen Gebeten die Scheiterhaufen.

Als Alpina an diesem Abend erschöpft ins Bett fiel, war sie sehr glücklich. Selten hatte sie so einen schönen Tag erlebt. Wenn das der Anfang des Erwachsenenlebens war, freute sie sich auf den Rest. In ihren Träumen tanzte sie weiter. Sie tanzte, tanzte, tanzte.

Raetia

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