Читать книгу Raetia - Melissa Jäger - Страница 3
Ab urbe condita 846, im zwölften Regierungsjahr des Kaisers Titus Flavius Domitianus, unter den Konsuln Sex. Pompeius Collega und Q. Peducae Monat Juni, V. Tag vor den Kalenden des Juli
ОглавлениеIlara stand vor dem Altar des Kapitolstempels, um zu heiraten. Sie trug das orangerote Flammeum und die rein weiße Tunika recta. Um den Altar waren die Priester versammelt, die das Eheversprechen vor den Göttern bezeugen sollten. Sie konnte die Stimmen der Menschen hören, die sich versammelt hatten, um Zeugen ihrer Verbindung mit Lucius Alpius Virilis zu werden. Ihre Mutter strahlte und selbst ihr Vater schien gerührt zu sein. In seinem Augenwinkel glitzerte eine Träne. Ilara drehte sich zu ihrem Verlobten um. Sie wollte seinen lieben Blick suchen. Doch wer blickte ihr entgegen? Eine teuflische Fratze! Mit glühenden Augen starrte ein furchteinflößender Mann aus einem bärtigen Gesicht auf sie herab. Er was übermenschlich groß und die langen, wirren Haare endeten in Schlangenköpfen. Sein tiefschwarzer Umhang blähte sich im plötzlich aufkommenden Wind. Der Himmel begann sich zu verdunkeln. Direkt vor ihr tat sich der Boden auf. Man konnte in die sengende Glut der Unterwelt blicken. Der Mann mit den glühenden Augen streckte die Hand nach ihr aus. Er umschloss ihren Unterarm mit seiner Pranke und zog sie mit sich in den Höllenschlund…
Ilara wachte schweißgebadet auf. Weinend schlug sie die Hände vors Gesicht. Was hatte dieser Alptraum zu bedeuten? War es ein Zeichen, einen Tag vor ihrer Vermählung einen solchen Traum zu haben? Was bedeutete dieser Traum für ihre Ehe?
Ilara wollte Gewissheit haben. Sie würde später, wenn sie der Göttin Juno opferte, einen Traumdeuter fragen, was diese erschreckende Vision zu bedeuten hatte.
Ihre Schwester Alpina und sie hatten am Abend zuvor eine alte Puppe herausgesucht und zu dem Kinderkleid gelegt, das die Mutter extra für diesen Tag aufgehoben hatte. Mit dem Opfer ihrer Puppe und des Gewandes an die Familien- und Hausgötter beendete Ilara symbolisch ihre Kindheit. Am darauffolgenden Tag würde sie vor den Altar der Götter treten, um Ehefrau zu werden. Das Kind wechselte aus der Obhut des Vaters als Frau in die Familie des Ehemannes.
Ilara freute sich, dass der Grammaticus Alpina für drei Tage freigegeben hatte. So konnte die Schwester sie bei diesen wichtigen Schritten begleiten und ihr zur Seite stehen. Sie klopfte an der Tür zu Alpinas Kammer. Die Schwester rief sie herein. Sie zog gerade ihre malvenfarbene Tunika an.
„Was ist, Ilara? Du siehst blass aus! Geht es dir nicht gut?“ Alpina klang ernsthaft besorgt.
„Ich hatte einen Alptraum, Alpina. Es war furchtbar!“ Dann erzählte sie den Inhalt ihres Traumes und fragte die Schwester nach ihrer Einschätzung.
„Tja, Ilara, dazu kann ich auch nicht viel sagen. Es erinnert mich an den Demeter-Mythos von der Entführung Proserpinas durch Pluto. Wahrscheinlich hast du diese Geschichte im Kopf gehabt, als du träumtest. Glaubst du wirklich, dass die Träume von den Göttern geschickt werden?“
„Natürlich, Alpina! Gerade vor einem solchen Ereignis, wie einer Hochzeit, sind die Träume mit Sicherheit bedeutungsvoll. Ich will unbedingt einen Traumdeuter befragen. Du weißt doch, am Forum gibt es immer welche, die ihre Dienste anbieten. Da will ich hingehen!“
Alpina nickte zustimmend. „Wie du meinst, Ilara. Aber nimm Geld mit. Umsonst werden die ihre Dienste nicht zur Verfügung stellen.“
***
Claudius Paternus Clementianus machte seine neue Aufgabe viel Spaß. Seit den Kalenden des Iunius war der Ritter als Adiutor für den Ädil Vindelicus tätig, der in der Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum für Recht und Ordnung sorgen sollte. Vindelicus unterstanden die städtischen Beneficiarii und einige Wachleute, die sich um die Sicherheit der Bürgerschaft sorgen sollten. Claudius hatte nun tagtäglich mit Taschendieben, Betrügern, Schlägern, entlaufenen Sklaven und Huren zu tun. Da Augusta Vindelicum eine eher ruhige Provinzhauptstadt war, gab es nur wenige gravierende Vorkommnisse, jedoch viele Fälle von Kleinkriminalität. Das bedeutete viel Arbeit für den Adiutor des Ädils und sehr zum Leidwesen von Claudius auch sehr viel Schreibarbeit im Officium. Außerdem hatte er einen neuen Kollegen bekommen, der als Adiutor des Ädils Martialis eingearbeitet wurde. Die jungen Männer, die eine Verwaltungslaufbahn eingeschlagen hatten, wechselten in der Regel jährlich ihren Aufgabenbereich. Sie sollten in allen Bereichen der Verwaltung Erfahrungen sammeln und sich beweisen, ehe sie in die oberste Riege der Kommunalverwaltung aufstiegen. Martialis hatte angekündigt, bei der nächsten Wahl zum Ädilenamt nicht mehr antreten zu wollen. Seine Gesundheit war angeschlagen und er wollte sich in sein Landhaus vor den Toren der Stadt zurückziehen, um seinen Lebensabend zu genießen.
Mit dem Centurio der berittenen Statthaltergarde Caius Iulius Achilleus und seinen Kollegen hatte Claudius nun oft zu tun. Die Aufgabenbereiche der Garde und des Ädils überschnitten sich, so dass sie sich nahezu jeden Tag zu Besprechungen trafen, Wachmannschaften abstimmten und Einsätze koordinierten. Wenn Achilleus mit dem Statthalter der Provinz Raetia, Caius Velius Rufus, auf Inspektionsreise war und zu den Stammesversammlungen der Raeter oder Vindeliker reiste, musste alles gut geplant werden, damit die Provinzhauptstadt ausreichend mit Soldaten versorgt und die innere Sicherheit gewährleistet blieb.
Sehr zu Claudius Leidwesen, traf er den Centurio meist im nur Praetorium, so dass er Achilleus hübsche Tochter Alpina schon lange nicht mehr gesehen hatte. Doch nun stand die Hochzeit ihrer Schwester Ilara mit Claudius´ Freund Lucius ins Haus. Eine wunderbare Gelegenheit, das Mädchen wieder zu sehen.
***
Alpina und Ilara machten sich etwa zur vierten Stunde mit ihrer Mutter auf den Weg zum Forum. Die Schwestern waren sehr unterschiedlich. Ilara war größer als Alpina und hatte die dunklen Locken des Vaters geerbt. Alpina hingegen war klein und zierlich mit rotbraunem Haar. Auch in ihrem Wesen unterschieden sich beide. Während Alpina naturliebend und wissbegierig war, liebte Ilara aufwändige Kleider und schönen Schmuck. Eine Hochzeit mit dem Luxuswarenhändler Lucius war ganz nach ihrem Geschmack. Es würde ein rauschendes Fest geben.
Ilaras Sklavin Celsa trug einen Korb mit den Opfergaben, die Mutter Elvas führte die Ziege für die Göttin Juno. Das Wetter war hervorragend und schon um diese Zeit sehr heiß. Kurz bevor sie das Forum betraten, kauften sie bei einer Frau, die Blumengirlanden und Kränze flocht, einen frischen Blumenkranz für Ilara. Celsa drückte ihn ihrer Herrin vorsichtig auf die hochgesteckten Haare.
Auf dem Altar vor dem kapitolinischen Tempel brannte ein kleines Feuer. Einige Menschen sprachen auf den Stufen oder in der Vorhalle des Tempels mit dem Kultpersonal. Die Priester und ihre Gehilfen, die von den jeweiligen Kultgemeinschaften zum Dienst im Tempel abgestellt waren, hörten sich die Bitten und Klagen der Gläubigen an, berieten die Hilfesuchenden, reichten den Opfernden Wasser zur Reinigung und nahmen die Opfergaben entgegen. Ilara steuerte auf die Frau zu, die ihr bei ihrem letzten Besuch im Tempel das Wasser zur Reinigung gereicht hatte. Sie stand auf den untersten Stufen des Podiumstempels und war gerade mit einer älteren Frau ins Gespräch vertieft. Nach einer Weile bedankte sich die Alte, gab der Kultdienerin eine Münze und entfernte sich unter Verbeugungen. Nun trat die Frau auf Ilara zu und lächelte sie offen an.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie.
Ilara nannte ihren Namen und erzählte, dass sie am kommenden Tag heiraten werde und gekommen sei, um Juno zu opfern. Die Frau bat Ilara, ihr die Opfergaben für die Göttin zu zeigen.
„Wie schön, Iulia Ilara. Dann werde ich jetzt Wasser holen, damit du dich reinigen kannst und den Sacerdos bitten, mit dir das Voropfer zu vollziehen. Du kannst ihm deine Bitte noch einmal selbst vortragen, sobald er Zeit hat.“
Sie verließ die Frauen kurz, stieg die Stufen des Tempels hinauf und kam mit einer Kanne und einer Schale aus Ton zurück. Ilara wusch sich die Hände und Unterarme mit ein wenig Wasser, dann reichte sie den Krug an ihre Mutter und die Schwester weiter. Die Kultdienerin führte sie vor den Altar. Alpina und Elvas hielten mit den Sklavinnen Abstand.
Der Priester hatte gerade einige Dufthölzer in die Feuerschale gelegt, dann drehte er sich zu Ilara um. Sie kannte den Sacerdos, er war ein angesehener Mann in der Stadt. Am kommenden Tag würde er die Hochzeitszeremonie leiten.
„Iulia Ilara, welche Freude dich zu sehen! Du willst sicher Juno um eine glückliche Ehe bitten, nicht wahr?“
Ilara nickte. Sie überlegte, ob sie den Priester zu ihrem Traum befragen sollte, traute sich dann aber nicht, weil er ein Bekannter ihres Vaters und auch der Familie ihres zukünftigen Gatten war. Der Priester nahm sie in den Tempel mit, um das Voropfer zu vollziehen. Vor der schönen, bunten Statue mit dem warmherzigen Blick, die Ilara so liebte, stand ein niedriger Tisch auf dem bereits Blumenkränze, Getreideähren, Opferkuchen und Früchte lagen. Der Sacerdos schob ein paar Dinge beiseite und arrangierte sie neu, dann legte er die Opfergaben, die Ilara ihm übergeben hatte, dazu. Ilara formulierte ihre Bitte an die Göttin, der Priester sprach ein Gebet und sie sprach es ihm nach. Er nahm Weihrauch aus einer runden Dose und warf ihn in die Flammen. Ilara sie tat es ihm gleich. Der Rauch kräuselte sich und zog in Spiralen in die Höhe. Inbrünstig hoffte das Mädchen, dass die Göttin ihre Bitte erhören und ihr eine glückliche Ehe schenken möge. Der Priester lächelte erneut gütig, drehte sich dann um und stieg mit Ilara die Treppen des Tempels hinab. Auf dem Vorplatz des Tempels angekommen, wandte er sich ihr erneut zu.
„Jetzt ist es an der Zeit, dass du Juno eine Ziege opferst.“
Ilara nickte. Sie übergab dem Opferhelfer das kleine Tier, das sichtlich nervös war. Der Priester sprach die Gebete, und als der Opferhelfer der Ziege die Kehle durchschnitt und das Blut in einer Schale auffing, überkam Ilara Übelkeit. Der Geruch des warmen Blutes und ihre Angst vor einem schlechten Ausgang der Eingeweideschau sorgten dafür, dass sie in sich zusammensackte. Schnell half Elvas ihrer Tochter, sich auf die Stufen des Tempels zu setzen, während der Opferhelfer dem toten Tier die Eingeweide entnahm. Zum Glück gab der Sacerdos ihr wenig später zu verstehen, dass die Leber des Tieres in gutem Zustand war und die Göttin somit das Opfer annahm. Ilara war erleichtert. Sie bedankte sich bei dem Priester und seinem Opferhelfer. Als sie das Tempelareal verlassen wollte, begegneten sie erneut der Kultdienerin. Ilara holte einige Münzen aus ihrem Korb und reichte sie der Frau. „Für den Kultverein der Juno“, sagte sie schüchtern zu der Tempeldienerin.
„Vielen Dank, Iulia Ilara. Es wäre schön, wenn du unserem Kultverein beitreten würdest. Wir treffen uns etwa drei bis vier Mal pro Monat und besprechen viele wichtige Dinge, nicht nur für den Junokult, sondern auch praktische Dinge, die für eine junge Ehefrau interessant und wichtig sind. Außerdem ist jede von uns abwechselnd zum Tempeldienst und zur Beratung der Frauen eingeteilt, die sich mit ihren Sorgen und Nöten an die Göttin wenden. Den Vorstand unseres Kultvereins wirst du sicher kennen. Es ist Velia Crispina, die Frau des Statthalters. Möchtest du nicht nächste Woche einmal zu uns kommen? Wir dürfen einen Raum im Statthalterpalast für unsere Zusammenkünfte nutzen. Wenn du möchtest, gebe ich dir Bescheid, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“
Ilara lächelte freundlich. „Sehr gerne.“ Dann verabschiedete sie sich von der Frau und ging zu ihrer Mutter, der Schwester und den Sklavinnen zurück. Als sie einen letzten Blick auf den Tempel warf, sah sie, wie die Tempeldienerin ihr nachwinkte.
Die Frauen überquerten das Forum. Bevor sie den umgrenzten Bezirk mit all seinen Geschäften verließen, blieb Ilara stehen. Sie wandte sich an ihre Mutter.
„Geh du schon voraus, ich möchte Alpina noch etwas in einem der Geschäfte hier zeigen. Wir kommen dann nach.“
Elvas zuckte die Achseln. „Natürlich, Liebes. Ich muss ohnehin noch ein paar Besorgungen machen. Mirne und ich werden zum Macellum gehen. Wir sehen uns dann zuhause.“
Die Mutter verabschiedete sich und strebte mit ihrer Sklavin der Markthalle zu. Ilara nahm Alpina bei der Hand und zog sie in den Schatten des Eingangstores zum Forum. Dort stand ein Mann mit langem Bart und ungepflegt wirkenden Haaren. Der Haaransatz war schon weit zurückgewichen, so dass sein Schädel unförmig erschien. Er trug ein Buch unter dem Arm und unterhielt sich mit einem anderen Mann, der eine Sternenkarte trug. Als die Männer die jungen Frauen auf sich zukommen sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch und erwarteten sie neugierig. Der mit der Sternenkarte in der Hand räusperte sich.
„Sucht ihr einen Astrologen? Ich bin Carneades, der Chaldäer. Ich kann euch die Sterne deuten und euch ein Horoskop erstellen, für jedes Ereignis Eures Lebens.“
Ilara lächelte verwirrt. Sie entschuldigte sich bei dem Mann und erklärte, dass sie einen Traumdeuter suche. Da löste sich der andere Mann von den Säulen des Eingangstores und trat auf die Mädchen zu.
„Dann darf ich Euch meine Dienste anbieten? Mein Name ist Aramios, Magister aus Elis. Ich bin ein Spezialist der Oneiromantie. Wie kann ich Euch helfen?“
Ilara fragte nach seinem Preis für eine Traumdeutung und sie einigten sich. Das Mädchen begann, dem aufmerksam lauschenden Traumdeuter ihren Alptraum von der vergangenen Nacht zu erzählen. Er fragte sie nach ihrem Elternhaus, nach dem Mann, den sie heiraten würde sowie nach dem Datum der Hochzeit. Dann nickte er.
„Dieser Traum ist sehr günstig, obwohl du ihn als beängstigend empfunden hast. Für eine Hochzeit ist dieser Traum geradezu ideal. Pluto ist der Herr der Unterwelt, er ist unermesslich reich, besitzt Edelsteine und Metalle wie Gold und Silber in großen Mengen. Der Traum sagt dir, dass du einen sehr wohlhabenden Mann heiraten wirst. An seiner Seite wirst du seine Königin sein, wie Plutos Proserpina, der eigene Tätigkeitsbereiche eingeräumt werden. Du wirst keinen Mangel kennen. Preise dich glücklich! Wenn du so willst, bist du die Göttin an der Seite deines Gatten, das bringt dich zwar zunächst in Gefahr, wird aber langfristig eine glückliche Ehe bedeuten. Aufregung, Bedrohung und Bedrängnisse können dir zu Anfang ins Haus stehen, aber du darfst hoffen - am Ende wird alles gut.“
Er sah Ilara tief in die Augen, als wolle er sich selbst als Ehemann anbieten. Erschrocken und beschämt schlug die junge Frau die Augen nieder.
„Bist du eingeweiht in die Mysterien der Demeter und ihrer Tochter Persephone? Nein? Dann solltest du vielleicht daran denken, dich als Myste weihen zu lassen.“
Beide Mädchen blickten ein wenig irritiert, doch der Traumdeuter schien seine Ausführungen beendet zu haben. Sein Blick schweifte bereits wieder über das Forum, als suche er einen weiteren Kandidaten für seine Kunst. Ilara bedankte sich und zog Alpina mit sich fort.
***
Nachmittags hatte Alpina sich in ihre Kammer zurückgezogen. Der ganze Rummel um Ilaras Hochzeit war ihr zuviel geworden. Seit Tagen ging es um nichts anderes mehr. Das ganze Haus surrte wie ein Bienenstock. Am Vortag waren Lasthe und Pertha, die Großeltern der Mädchen, aus Bratananium gekommen. Spät abends gesellte sich dann auch noch ihr Halbbruder Caius dazu. Sie alle mussten untergebracht werden. Alpina teilte nun die Kammer mit den Großeltern, Caius würde die Nacht in der Kammer der Sklavinnen Mirne und Celsa verbringen, die vorübergehend im Triclinium nächtigten.
Ilaras Freundin Balbina, die Schwester des Bräutigams war gekommen. Die zwei Freundinnen hatten sich zunächst ohne Alpina in der Frauentherme gereinigt, dann hatten sie sich mit Ilaras Sklavin Celsa in eine Kammer zurückgezogen, um die Brautfrisur herzurichten. Sechs Zöpfe mussten geflochten und zu einem Turm aufgesteckt werden.
Alpina versuchte sich auf die von Eirenaios gestellte Aufgabe zu konzentrieren, als es klopfte. Ihre Großmutter steckte den Kopf zur Tür herein. „Darf ich dich stören, Liebes?“
Das Mädchen legte die Papyrusrolle sorgfältig beiseite. „Selbstverständlich, Großmutter!“
Pertha setzte sich zu ihr aufs Bett. Die alte Frau war eine Hebamme, wie auch Alpinas Mutter Elvas. Sie war die erste gewesen, die Alpina in die Kunst der Geburtshilfe eingeweiht hatte. Seither wollte das Mädchen das Handwerk ihrer Mutter und Großmutter erlernen. Pertha nahm Alpinas Hand.
„Erzähl mir, Alpina, bei wie vielen Entbindungen hast du bereits mitgeholfen?“
„Fünf, Großmutter“, erzählte das Mädchen stolz. „Wenn man die mitzählt, die ich mit dir zusammen erlebt habe.“
Die alte Frau nickte. „Und, wie viele davon waren kompliziert?“
„Hm, das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, etwa drei. Eine ging sogar tödlich aus für Mutter und Kind. Zwei waren schnell und ohne besondere Schwierigkeiten.“
Pertha sah Alpina ernst an. „Kannst du dir vorstellen, diesen Beruf zu ergreifen?“
Das Mädchen zögerte keine Sekunde. „Aber sicher! Ich tue alles dafür, eine gute Obstetrix zu werden! Mit dem Grammaticus übersetzte ich sogar medizinische Schriften von Hippokrates und anderen Ärzten. Außerdem habe ich bereits die Bücher des Plinius gelesen, in denen er über Heilmittel schreibt.“
Die Großmutter lobte sie, dann fragte sie weiter. „Was ist, wenn eine Geburt mit dem Tod von Mutter oder Kind oder sogar von beiden endet? Wie geht es dir damit?“
Alpina dachte nach. Sofort kamen die Bilder einer Geburt im Suburbium in ihr hoch. Diese Geburt hatte mit dem Tod der Gebärenden und auch ihres Kindes geendet.
„Es ist schrecklich, so machtlos zu sein! Wie grausam es ist, wenn man zusehen muss, wie Mutter oder Kind sterben und nichts dagegen tun kann!“ Sie machte eine Pause, dann sah sie Pertha in die Augen. „Doch das Schlimmste ist die Armut, Großmutter - wenn sie verhindert, dass man helfen kann. Stell dir vor, wir waren bei einer Entbindung, bei der zunächst die Mutter und einige Tage später auch das Neugeborene starben. Sie hätten vielleicht beide gerettet werden können, wenn diese Leute das Geld für den Medicus oder zumindest für Medizin gehabt hätten. Es war schrecklich, zusehen zu müssen, wie sie den Tod in Kauf nahmen, weil sie das Geld für die notwenige Therapie nicht hatten!“
Die Großmutter nickte verständig. „Wir stehen in unserer Arbeit oft an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Nicht immer dürfen wir die Hände des Kindes oder der Gebärenden ergreifen und sie ins Leben ziehen. Oft müssen wir den Göttern bei ihrem Spiel mit dem Schicksal zusehen. Mal ist es Klotho auf der Schwelle, die den neuen Lebensfaden spinnt, mal Atropos, die Unabwendbare, die ihn mit der Schere zerschneidet. Es tut weh, zu sehen, wie der eben erst gesponnene Faden oder der eines noch jungen, blühenden Lebens, zerschnitten wird. Leider dürfen wir meist nur zusehen, was die Schicksalsschwestern tun.“
Alpina sah Pertha traurig an. „Gewöhnt man sich daran?“
Die alte Hebamme lächelte gütig. „Nein, nicht wirklich. Es tut jedes Mal weh. Aber je häufiger es passiert, desto eher kannst du lernen, dass es die Entscheidung der Götter ist und nicht dein Fehler, wenn ein Lebenslicht ausgelöscht wird. Natürlich sucht man wieder und wieder die Schuld bei sich, bei anderen Menschen oder bei der Armut. Mit der Zeit aber versteht man, das Wirken der Götter zu akzeptieren, es nicht mehr anzuzweifeln, sondern es anzunehmen.“
Das Mädchen sah die Großmutter lange an. Sie hoffte, irgendwann so weise zu werden, wie diese wundervolle Frau. Sie nahm sich fest vor, ihre Worte nicht zu vergessen.
***
Der Centurio Caius Iulius Achilleus kam nach einem ausgiebigen Bad in der Forumstherme nach Hause zurück. Sein ältester Sohn und der Vater des Bräutigams, Titus Alpius Soterichus, hatten ihn begleitet. Alle sahen den Feierlichkeiten des kommenden Tages freudig entgegen. Zuhause trafen Vater und Sohn eine aufgeregte Schar von Frauen an. Ilara war bereits eingekleidet und von der Mutter mit einem speziellen Knoten gegürtet worden. Sie sah wunderschön aus. Über der weißen Tunika recta trug sie die safranfarbene Palla und das rote Flammeum. Sie hatte auch die passenden Schuhe angezogen. Die Männer bewunderten Ilara. Dann wandte man sich dem geschmückten Lararium zu. Mirne hatte wunderschöne Blumen- und Blättergirlanden hergestellt und den Schrein der Hausgötter gereinigt und geschmückt. Ein Räuchergefäß, eine Opferschale und eine Kanne mit Wein standen bereit. Vor dem Lararium hatten sie eine kleine hölzerne Bank aufgestellt, auf der Ilara später ihre Puppe und das Kinderkleidchen ablegen würde.
Caius wusch sich die Hände in einem Wasserbecken. Dann reichte die Sklavin es an die anderen Opferteilnehmer weiter. Als sich alle gereinigt hatten und auch der Weihrauch die Körper und Seelen der Opfernden geläutert hatte, schlug der Centurio den Bausch seiner Toga über den Kopf. Er stellte sich vor den Schrein der Ahnen- und Hausgötter und betete, dass sie seiner Tochter einen guten Übergang vom Hause des Vaters in das Haus ihres zukünftigen Gatten gewähren mögen. Als Opfergaben goss er Wein aus dem Krug, den seine Frau ihm reichte, in die Patera und stellte die gefüllte Opferschale auf die Bank vor dem Lararium. Dann trat er zur Seite und machte Ilara Platz.
Wie erwachsen seine Tochter in diesem Moment wirkte. Caius Mund wurde trocken. Er sah Bilder aus lange vergangenen Tagen vor sich aufsteigen, erinnerte sich, wie Elvas ihm ihren runden Bauch präsentiert hatte und ihn die kräftigen Tritte Ilaras durch die Haut hatte spüren lassen. Er dachte an die Geburt, die lang und schwer gewesen war. An Elvas Schreie, Perthas beruhigende Worte und seine Angst um die Frau, die er so liebte. Dann vergegenwärtigte er sich Ilaras erste Schritte, die Freude seines Sohnes Caius, als Ilara ihm in die ausgebreiteten Arme torkelte und ihre großen Augen als Elvas ihr ein Schwesterchen schenkte. Jetzt war dieses kleine Mädchen groß geworden, sie stand in ihrem Hochzeitskleid vor dem Lararium und opferte den Hausgöttern ihre Puppe und eine dunkelrote Kindertunika. Sorgfältig drapierte die Fünfzehnjährige ihr Kinderkleid auf die Holzbank und legte die Puppe dazu. Sie wiederholte das Gebet des Vaters und stand dann noch eine Weile schweigend vor dem Schrein, bevor alle sie umarmten und sich die Großfamilie zur Abendmahlzeit ins Triclinium begab.
***
Lucius hatte Claudius zu einer Art Abschied vom Junggesellendasein eingeladen. Der Händlersohn hatte dafür einen Raum im ersten Stock der Forumstherme reserviert. Neben den üblichen Kleinigkeiten, die die angeschlossene Caupona lieferte, hatten seine Sklaven exotische Köstlichkeiten aus dem Geschäft der Familie mitgebracht. Sie waren zu viert. Claudius, Vindelicus und Comitinus Apelles, ein Jugendfreund von ihrem Gastgeber Lucius. Zunächst hatten sich die drei jüngeren Männer zum Sport in der Palaestra getroffen und waren dann nach einem ausgelassenen Ballspiel in den warmen Räumen der Therme auf den Gatten von Lucius Schwester Balbina gestoßen. Nach ausgiebiger Reinigung und Massage suchte man gemeinsam den festlich hergerichteten Raum in ersten Stock auf. Lucius war ausgesprochen angespannt. Von Vorfreude auf das kommende Ereignis war bei ihm nichts zu spüren. Jede Anspielung der Freunde, dass er ab morgen seine Freiheit einbüßte, beantwortete der Sohn des Luxuswarenhändlers aus der Provinz Asia, gereizt. Es war offensichtlich, dass ihm die Vorstellung, nun an die Kette gelegt zu werden, gar nicht behagte.
Apelles, der Holzhändler war, lachte. Er hatte erst vor einem Jahr geheiratet.
„So schlimm ist es nicht Lucius! Wenn du Abwechslung willst, kannst du immer noch ein Lupanar besuchen oder dir eines der Mädchen aus einer Caupona gönnen. Selbst hier in der Therme gibt es immer wieder nette Angebote!“
Lucius bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Und wenn ich nach Hause komme, steht Ilara mit einem Mischkrug hinter der Tür und gibt mir eine drüber.“
Alle lachten bei der Vorstellung davon, dass Lucius von seiner Frau einen Mischkrug übergezogen bekäme.
„Nun, du wirst es schon ein wenig geschickter anstellen müssen. Aber da mache ich mir keine Sorgen, schließlich bist du ja nicht auf den Kopf gefallen!“ Apelles lachte laut und scheppernd.
Claudius war klar, warum sein Freund so schlecht gelaunt war. Es würde von nun an schwerer für ihn werden, Glycera zu treffen. Die schöne Schauspielerin hatte Lucius in ihren Bann gezogen. Er war ihr derartig verfallen, dass er die Ehe mit Ilara als Hindernis für seine Liebschaft betrachtete. Glycera war die Geliebte des Statthalters. Seit dieser von seiner Inspektionsreise zurückgekehrt war, befand sich die Laune des Händlersohnes auf dem Tiefpunkt. Die Vorstellung, dass seine Treffen mit der Schönen ab jetzt nicht nur von der Anwesenheit des Statthalters bestimmt wurden, sondern zudem vor den wachen Augen seiner Gattin verborgen werden mussten, trübten Lucius Stimmung nachdrücklich.
Claudius hatte Mitleid mit Ilara. Das Mädchen war offensichtlich sehr verliebt in seinen Freund und blickte der Hochzeit freudig entgegen. Was würde wohl werden, wenn sie entdeckte, dass ihr frisch angetrauter Ehemann eine andere Frau mehr begehrte, als sie? Der junge Ritter hoffte, dass es Ilara gelingen würde, Lucius für sich einzunehmen.
Die Stimmung löste sich nach einigen Runden gemischten Weines und als sich die Gesellschaft auflöste, steuerten Lucius und Apelles das Lupanar an, während Vindelicus und Claudius nach Hause gingen.