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Monat August, am III. Tag vor den Iden des August

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Die vierte Stunde musste bereits begonnen haben, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel und wärmte das Langhaus am See der Wirmina. Vor der Tür des Hauses war das Alltagsleben in vollem Gange, als Alpina den Fuß über die Schwelle setzte. Ihre Augen mussten sich zunächst an den gleißenden Sonnenschein gewöhnen. Knuse und Remi hatten ihren Fang vom Morgen bereits auf der Darre ausgebreitet und eingeschürt. Dunkler Rauch stieg auf, und der würzige Geruch von geräuchertem Fisch zog in die Nase der Nachwuchshebamme. Remi schüttelte die blonden Haare und band sie mit dem Lederband erneut aus dem Gesicht. Er grinste Alpina an.

„Na? Endlich ausgeschlafen? Ich habe bereits gefischt und dem Großvater beim Einschüren geholfen.“

Sein freches Grinsen und die schalkhaft funkelnden Augen provozierten das Mädchen. „Willst du demnächst den Kindern auf die Welt helfen? Dann werde ich für dich Fischen gehen!“

Remi lachte jetzt hellauf. „Oh, nicht böse werden! Ich gönne dir deinen Schlaf! Ich hätte heute auch gerne länger geschlafen, doch Großvater hat so eine Art inneren Gockel. Der weckt ihn immer zur gleichen Zeit.“

Alpina setzte sich auf die Bank vor dem Haus und genoss den Blick über den See.

„Wo sind Pertha und deine Mutter?“, fragte sie.

„Die sind zum Beeren pflücken gegangen. Wenn wir Glück haben, gibt es nachher einen guten Kuchen!“ Er machte eine reibende Bewegung über seinem Bauch.

Alpina war empört. „Ohne mich? Oh, wie schade! Da wäre ich gerne dabei gewesen!“

„Das kannst du doch immer noch machen. Beeren gibt es noch länger. Ich dachte, weil es so heiß ist, gehen wir schwimmen. Du kannst doch schwimmen, oder?“

Alpina schüttelte den Kopf. „Nein, woher auch. Bei uns im Likias ist es zu gefährlich, und in der Frauentherme ist keine Piscina. Ich war ohnehin noch nicht so oft dort.“

Remi blickte zunächst ein wenig ratlos drein, dann lachte er. „Macht nichts! Ich bringe es dir bei, es ist nicht so schwer!“

Alpina lief rot an. „Es gehört sich doch nicht für mich, oder? Ich muss mich doch ausziehen!“

Der junge Mann zuckte die Achseln. „Kein Problem. Ich drehe mich einfach um, wenn du dich ausziehst, und im Wasser sieht man ohnehin nichts mehr. Der See ist viel zu trüb. Außerdem kannst du ja die Unterwäsche anlassen. Komm!“

Er lief bereits los, und Alpina blieb nicht viel Zeit zu überlegen. Sie wollte ohnehin gerne schwimmen lernen. Na also, nun bekam sie die Gelegenheit dazu.

Am Ufer zeigte Remi ihr zunächst einige Trockenübungen. Er demonstrierte den richtigen Arm- und Beinschlag und ließ Alpina üben. Um den Beinschlag zu trainieren, sollte sich Alpina bäuchlings über seinen Einbaum legen und wie ein Frosch strampeln. Beide kugelten sich vor Lachen. Dann ließ Remi den Einbaum zu Wasser und stieg ein.

„Hier ist es sehr seicht. Du kannst bis fast zum Ende des Stegs gehen, ohne schwimmen zu müssen. Dort beginnen wir. Ich nehme den Stecken, mit dem ich sonst das Boot antreibe. Den halte ich vor dich hin. Wenn du nicht mehr kannst, greifst du zu und hältst dich fest!“

Alpinas Augen weiteten sich vor Angst. Er hatte gut reden! Das klang so einfach, aber was, wenn sie es nicht schaffte?

Remi redete ihr gut zu und stakte dann mit dem Boot ein Stück am Steg entlang.

„Ich drehe mich jetzt um. Du kannst dich ausziehen und ins Wasser gehen. Wenn du soweit bist, dass du schwimmen willst, sag Bescheid!“

Er drehte sich weg, und Alpina zog den Gürtel und die Tunika aus und legte beides beiseite. In Unterhose und Brustbinde stieg sie ins Wasser. Es war furchtbar kalt. Alpina biss die Zähne zusammen und watete ins tiefere Wasser. Der schlammige Seegrund presste sich zwischen ihren Zehen hindurch. Sie schauderte. Als das kalte Wasser ihren Bauch erreichte, quietschte sie hell auf. Remi lachte.

„Nun los! Schnell rein, dann ist es nicht so schlimm! Geh einfach in die Knie, dann ist es gleich gut!“

Alpina tat wie geheißen, stieß einen kleinen Schrei aus und war bis zum Hals im Wasser.

„Du kannst dich umdrehen!“, lachte sie fröhlich.

Remi drehte sich zu ihr. Er wiederholte die Anweisungen, wie sie schwimmen sollte, und Alpina versuchte es. Hektisch und viel zu schnell machte sie drei Schwimmzüge, schluckte Wasser und musste husten. Dankbar klammerte sie sich an den Stab.

„Du kannst hier noch stehen. Probiere es mal!“

Tatsächlich, ihre Füße fanden den Boden, der hier kiesbedeckt und nicht mehr schlammig war.

„Keine Angst, Alpina! Versuch es noch einmal - langsamer! Zieh die Arme weit durch, so schnell geht man nicht unter!“

Das Mädchen nickte und versuchte es erneut. Diesmal schaffte sie vier ruhigere Züge, bevor sie wieder in Hektik verfiel. Geduldig lobte Remi die Schwimmschülerin. Sie übte und übte. Er forderte einen kräftigeren Beinschlag und einen langsameren, kräftigen Armzug. Und tatsächlich, nach und nach schaffte sie es, sich über Wasser zu halten. Natürlich schluckte sie viel Seewasser, verschluckte sich und hustete mehrere Male, aber sie war glücklich als Remi schließlich sagte: „Das reicht für heute! Wir können es ja morgen wieder versuchen. Alpina hielt sich am Boot fest, während er zum Ufer zurückstakte. Dann erst fiel dem Mädchen ein, dass es sich ja wieder anziehen musste.

„Ich bin ja jetzt ganz nass. Da wird meine Tunika auch nass werden.“

Der junge Mann hob die Schultern. „Na und? Es ist heiß – sie wird gleich wieder trocken.“

Er zog den Einbaum an Land und drehte sich von ihr weg, den Blick auf den Hang gerichtet, der zum Haus führte. Als Alpina gerade das Wasser abgestreift hatte und die Tunika aufhob, hörte sie ihn fluchen. „Mist, sie kommen!“

Alpina folgte seinem Blick und sah Pertha und Ritali den Weg zum See hinunter laufen. Sie konnte die erstaunten Gesichter der beiden Frauen erkennen und wurde sich bewusst, wie die Szene auf die Beiden wirken musste. Ihr wurde heiß und sie ahnte, dass ihre Gesichtsfarbe bereits wieder ungesund rot geworden war.

Ritali fuhr ihren Enkel wütend an. „Remi, das hätte ich nie von dir gedacht! Wie konntest du mir diese Schande antun? Ich bin entsetzt!“

Pertha hingegen musterte Alpina mit strengem Blick. „Was hast du dazu zu sagen, Alpina?“

Die Röte im Gesicht des Mädchens fühlte sich wie Feuer an. „Remi wollte mir nur das Schwimmen beibringen, und ich dachte, es wäre eine gute Sache, Schwimmen zu können, Großmutter.“

Perthas Gesichtsausdruck entspannte sich. Sie begann zu grinsen und schließlich sogar herzhaft zu lachen. Ritali schien noch nicht verstanden zu haben, warum die Obstetrix so herzhaft lachte. Sie sah stirnrunzelnd die Freundin an.

„Aber … was? Schwimmen?“

Dann begann auch sie zu lachen. Alpina streifte schnell die Tunika über und lachte mit den beiden Frauen, während Remi seine Großmutter anblaffte:

„Was glaubst du denn? Wie denkst du überhaupt von mir?“

Er war sichtlich erbost über die Verdächtigung. Pertha nahm ihre Freundin in Schutz.

„Du musst uns schon verstehen, Remi. Es sah ein wenig anders aus, als wir herunterkamen und eine halbnackte Alpina sahen. Verzeih, Remi! Natürlich darfst du ihr das Schwimmen beibringen. Sehr gerne sogar! Ich entschuldige mich für den Verdacht.“

Der junge Mann grollte noch immer. „Das ihr mir so was zutrauen würdet…!“

Nach einem kleinen Mittagsschläfchen im Schatten einer Weide drängte Pertha zum Aufbruch. Sie wollte nach der Wöchnerin sehen. Alpina, die gerade Remi geholfen hatte, die Fischernetze zu reparieren, sprang auf und holte ihre Schuhe. Den Weg kannte sie nun schon gut und wusste bereits, wo man die Füße setzen musste, damit sie nicht nass wurden.

Vor der Tür des Hauses trafen sie Kethenu an, der einen Weidenkorb flocht. Er lächelte erfreut, als die zwei Geburtshelferinnen kamen.

„Es geht ihr erstaunlich gut, Pertha!“, sagte er zur Begrüßung. Die Großmutter war beruhigt. Sie hatte große Sorgen gehabt. Als sie aus der gleißenden Sonne in den kleinen, dunklen Raum traten, mussten sie abwarten, bis sie etwas erkennen konnten. Die alte Nunanda war da. Sie trug den Säugling im Zimmer umher. Er weinte jammernd. Auf dem Lager hinter dem Herd lag Mnesi. Sie hatte das Becken hochgelagert und sah den Besucherinnen neugierig entgegen.

„Pertha, wie schön! Und auch Alpina wieder, das freut mich! Stellt euch vor, er trinkt schon sehr gut, aber jetzt plagen ihn Blähungen. Meine Blutungen haben etwas nachgelassen. Ich nehme noch immer die Wollpfropfen, wie du gesagt hast, Pertha und ich habe sie immer wieder mit Brombeerblättersud getränkt.“

Die alte Obstetrix setzte sich zu ihr. Sie fühlte den Puls und tastete den Bauch ab.

„Die Gebärmutter ist zwar wieder in deinem Unterleib, aber sie hat ihre Position verändert. Ich fürchte, sie blockiert den Harn und die Stuhlentleerung. Konntest du dich heute schon erleichtern?“

Mnesi schüttelte den Kopf. Pertha nickte nachdenklich und erklärte dann: „Wir werden einen Einlauf machen müssen und wohl auch die Blase mit einer Sonde zum Ablaufen bringen.“

Alpina sah die Großmutter sorgenvoll an. Sie hatte schon erlebt, dass ihre Mutter bei Schwangeren Einläufe machte, um die Wehentätigkeit anzuregen oder die Geburt auszulösen, aber sie hatte noch nie gesehen, wie die Blase mit einer Sonde zum Ablaufen gebracht wurde. Sie kannte das dazugehörige medizinische Gerät, eine lange dünne Metallsonde, aber die Vorgehensweise war ihr neu.

Die Wöchnerin verzog das Gesicht. „Muss das sein?“

Pertha ignorierte die Frage und begann, alles vorzubereiten. Sie holte ihr Instrumentenetui hervor und bat Alpina, Essigwasser vorzubereiten und einen Nachttopf zu holen. Pertha wusch ihre Hände und dann die Sonde in dem Essigwasser. Dann hielt sie mit einer Hand die Sonde, mit der anderen fühlte sie den Eingang zum Harnleiter. Sanft schob sie die Sonde vor und siehe da, der Urin floss reichlich in den Tonkrug. Mnesi war erstaunt, wie viel sich angesammelt hatte. Anschließend bereitete Pertha aus dem schwarzen Helleborus und Blutwurz einen Sud, den sie für einen Einlauf verwendete. Auch hier zeigte sich, dass die Verlagerung der Gebärmutter zu einer Blockierung der Verdauung geführt hatte.

Interessiert beobachtete Alpina die versierten Handgriffe der Großmutter und bemühte sich, sich alles so genau wie möglich zu merken.

Zuletzt tränkte Pertha einen weiteren Wollpfropf mit frischem Brombeerblättersud und schob ihn in den Unterleib der Wöchnerin. Sie lagerte das Becken wieder hoch und gab Anweisungen, dass jemand zu der heiligen Quelle an der Wirmina auf dem Weg nach Bratananium gehen und Mnesi von dem Wasser bringen sollte. Pertha war überzeugt davon, dass es helfen würde, die geschwächte Frau zu kräftigen.

Alpina meldete sich freiwillig, am kommenden Morgen zu der Quelle zu gehen und das Wasser holen. Sie war lange nicht dort gewesen und freute sich, den schönen, magischen Ort aufzusuchen. Mnesi bedankte sich und gab Alpina einen Lederschlauch mit, in dem sie das kostbare Wasser transportieren konnte.

Kethenu gab Pertha einige Münzen und drückte ihr einen schönen, geflochtenen Weidenkorb in die Hand.

„Als Dank für deine großartige Hilfe, Pertha. Du weißt, wir haben nicht viel, aber das, was wir besitzen, teilen wir gerne.“

Als sie das kleine Haus verließen, blendete die Helligkeit die beiden Geburtshelferinnen. Aber nachdem sich ihre Augen umgewöhnt hatten, erkannte Alpina Remi, der auf einem Stein am Weg hockte und an einem Grashalm kaute. Er grinste breit.

„Ich dachte, ich hole euch mit dem Boot, dann müsst ihr nicht laufen. Vater hat mir das Fischerboot geliehen. Es liegt unten am Steg.“

Nach dem Essen setzten sich Remi und Alpina noch ein wenig auf den Steg und beobachteten den Sonnenuntergang. Sie sprachen lange nicht. Schließlich aber sagte Alpina leise zu Remi: „Es tut mir so leid, dass ich dich heute in so eine unangenehme Situation gebracht habe.“

Der junge Mann drehte sich zu ihr. Sein Gesicht war von der Sonne gerötet, wie sie annahm. Er sah ernst aus und seine blauen Augen suchten die ihren.

„Mir tut es leid. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, wie das für Außenstehende aussehen musste. Ich habe dich in Verlegenheit gebracht.“

Er machte eine lange Pause und blickte über den See, dann sah er ihr wieder in die Augen.

„Ich würde so etwas nie tun, Alpina! Glaube mir!“

Er meinte es ernst, sie wusste es und hatte auch nie etwas anderes vermutet. „Ich weiß das doch!“, sagte sie.

Schweigend beobachteten sie noch eine Weile die Fische, die nach den Mücken sprangen, und lauschten den Fröschen, die mit dem Verschwinden des Sonnenwagens ihr Konzert begannen.

Raetia

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