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Die Hitze der Jugend

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Vivian jauchzte vor Freude. Sie lief um die Ladentheke herum und dem Postboten entgegen, der sich mit dem größten Paket abmühte, das sie je bekommen hatte. Überhaupt war es das erste richtige Paket, das sie in ihren siebzehnjährigen Leben bekam.

Oh bitte, Herr, es muss für mich sein!

Mit einem Ruck riss sie die gläserne Ladentür auf, dass das kleine Glöckchen darüber wild bimmelte und fast durch den Laden flog. »Chuck, endlich!«, keuchte sie dem Postboten aufgeregt entgegen. »Ist das da für mich? Ist es? Ja?« Dabei deutete sie auf das Paket in seinen Händen, in das gut und gerne ein Globus gepasst hätte.

Chuck kam die dreißig Meilen von Sheldon einmal die Woche vorbei, brachte die Post und nahm neue mit. Das tat er bereits, solange sie sich erinnern konnte. Mit seinem dürren Körper und dem schmierigen, nach hinten gekämmten schütteren Haar war er wahrlich keine Augenweide. Für Vivian wirkte er heute jedoch wie ein Gott, der aus Sheldon, Iowa ins verschlafene Purgatory herabgestiegen war, um Heil zu bringen. Oder, wie heute, zumindest Pakete.

Postbote Chuck schob den Klumpen Kautabak von einer Wangentasche in die andere und nickte. »Yeah … is’ in der Tat für dich, Mädchen.« Verwundert besah er den Absender. »Kommt nicht oft vor, dass ich ’n Paket aus Übersee ausliefere … Hast ’n Freund in England, hä?«

»Brieffreundin«, beeilte sich Vivian, ihn zu verbessern, und hibbelte herum, weil er sich an dem Paket festklammerte. Es fiel ihm wohl schwer, sich davon zu trennen. »Komm schon, gib mir das Ding!«, bettelte sie.

Chuck drehte das Paket in den Händen, hob es an und roch an der verknautschten Pappe. »Hm.« Dann hielt er es sich ans Ohr und rüttelte daran. Der Inhalt klapperte. »Sach mal, was is’n das Weiteste, wo du von hier weg warst, Mädchen?«

Vivian verdrehte genervt die Augen. Sie wollte es unbedingt haben, die Pappe aufreißen, darin herumwühlen. Stattdessen stand sie vor dem Laden ihrer Eltern und musste einem Postboten dämliche Fragen beantworten. »Letztes Jahr, Sioux City, als Tante Betsy geheiratet hat. Du weißt schon, diesen Versicherungstypen, der die Farmen abgeklappert hat.« Vivian erinnerte sich nur ungern an den brütend heißen Tag zurück. Sie hatten mit Dads klapprigem Truck den ganzen Tag gebraucht, um sich in einer mit Girlanden dekorierten Turnhalle zu Tode zu langweilen und selbst gemachten Pfirsich-Eistee zu trinken. Hinterher hatte eine Woche lang ihr Magen rebelliert und sie hatte meiste Zeit kotzend über der Toilette verbracht, weil was mit dem Abendessen schiefgelaufen war. »Und du?«

Chuck lachte krächzend. Er hörte sich an wie eine alte Krähe, die Husten hatte. »Vietnam, Mädchen … das feuchte, heiße, verdammt dreckige Nam, wo man sich auf jedem Scheißhaus ’nen Tripper holt. Dein Dad kann ’n Lied von singen, sag ich dir …«

»Eine scheiß Oper aus Tod und Schmerz.« Vivian zuckte zusammen. Ihr Vater stand direkt hinter ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Trotz seiner Körpergröße konnte er sich lautlos bewegen. Ertappt drehte sie sich zu ihm um. »Dad … ich mag’s nicht, wenn du dich so anschleichst.«

Bob McCall wischte sich mit einem Lappen seine blutigen Hände ab. Er hatte hinten im Kühlhaus an den Fleischpaketen gearbeitet, die Chuck wie jeden Freitag mitnehmen würde. Bob konnte in der Tat ein Lied über Vietnam singen. Zehn Jahre hatte er im Dschungel verbracht. 1975 war der Krieg vorbei gewesen und er kehrte als anderer Mensch zurück. Er hatte sein Lachen wie auch sein Leben in Saigon verloren. Bob McCall hatte nie darüber gesprochen, was er dort erlebt hatte, und sich in seiner wortkargen Art in die Arbeit im Laden gestürzt, als wäre er nie weg gewesen.

Bob nickte dem Postboten zu. »Chuck …«

Der schob den Kautabak zurück in die andere Backe. »Bob …«

»Was hast’n da?« Bob zeigte auf das Paket.

»Ist für deine Tochter … von überm Teich … England.«

»England?«

»Jepp.«

Bob nahm Chuck das Paket aus der Hand und sah es unschlüssig an. Sein von der Arbeit blutiger Daumen hinterließ einen verwischten Abdruck auf der Pappe. Dann sah er zu Vivian. »Wie kommst’n an ein Paket aus England, Tochter?«

Die rollte genervt die Augen. »Ach, komm, Dad, weißt du nicht mehr? Die Brieffreundschaftsaktion vorletztes Jahr mit der Schule in London?«

»Und was is’n da drin?«, wollte er wissen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, dachte er darüber nach, das Paket aufzureißen, um selbst nachzusehen.

»Du weißt, wie ich über die von außerhalb denke«, brummte er missmutig.

»Dad … bitte …«

»Wie wir alle über die von außerhalb denken!« Er sah den Postboten mit seinen stechenden Augen warnend an.

Chuck wich dem Blick des schweren Eins-neunzig-Mannes aus, sah zu Boden und hob die Hände. »Bin nur der Postbote, Sir. Liefere Pakete aus und nehm andere mit …« Er trat zum Lieferwagen zurück und tat beschäftigt. »Geht mich ansonsten nichts an, was hier geschieht.«

Bob nickte zufrieden und widmete sich seiner Tochter. »Was schreibst du über uns denn so, hm? Von dem Leben hier, der Weite des Landes … den Schweineställen? Sicher nicht von den Maisfeldern …«

Vivian knetete von Angst ergriffen ihre Finger. Ein falsches Wort, und sie würde es bitter bereuen. »Wir haben über Musik geschrieben, Dad … nichts weiter. Mädchensachen halt, nichts von hier, außer dass wir einen Laden haben …«

Die schallende Ohrfeige schmetterte ihren Kopf zur Seite. »Selbst das geht die dort draußen nichts an, hörst du?« Er knirschte mit den Zähnen und packte sie an ihrem schwarzen Shirt, sodass es in den Nähten knackte. »Lass dir das eine Warnung sein, Tochter! Ein falsches Wort in die falschen Ohren, und die dort oben fangen an, Fragen zu stellen!«

Er ließ sie los und drückte ihr das Paket gegen die Brust. »Du weißt, dass ich dich liebe. Nimm dein Paket und geh auf dein Zimmer. In zehn Minuten stehst du wieder hinter der Theke!«

Vivians Wange brannte wie Feuer. Sie strich sich ihr schwarzes Shirt glatt, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief durch den Laden und nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schluchzte sie auf. Sie warf das Paket aufs Bett und setzte sich davor auf den Boden. »Die von außerhalb«, äffte sie ihren Vater nach und verzog das Gesicht. »Und wenn du mir mein Blondie-Shirt zerrissen hast, werde ich …«

Nichts werde ich … Er hat recht. Es geht die von außerhalb nichts an, wie die Leute hier ticken. Die würden das eh nicht verstehen.

Verstohlen zog sie den Schuhkarton unter dem Bett hervor und klappte ihn auf. Ihre Finger strichen behutsam über das zusammengerollte Bündel Dollarscheine. Die Zugfahrpläne von Sheldon nach Minneapolis von dort weiter nach New York kannte sie auswendig. »Ich werde von hier verschwinden.« Vivian hasste das Leben in dieser Einöde, in der man abgesehen von sich besaufen nichts unternehmen konnte. Sie sehnte sich dagegen nach Musik, nach jungen Leuten und einem Leben ohne Zwang. Sie zog ein zerfleddertes Magazin mit dem Titel PUNK aus dem Karton. »Eine von außerhalb werden.«

Vivian zog das Paket vom Bett und das Klappmesser aus der Gesäßtasche ihrer dunkelblauen Jeans, das sie bei sich trug, wenn sie im Laden arbeitete. Nervös zog sie sich den schwarzen Pferdeschwanz straff. »Mal sehen, was du mir Schönes geschickt hast, Mary-Ann.«

Sie setzte die Schnitte wie beim Auspacken der Ware, akribisch darauf bedacht, nicht zu tief zu schneiden. Andächtig klappte sie die Kartonage auseinander. »Hölle noch mal, ist das krass!« Der Inhalt verschlug ihr den Atem. Vivian zog die beiden T-Shirts, den Brief und die Musikkassette heraus und sprang aufs Bett. »Wow … einfach nur … wow!«

Vivian legte sich auf den Rücken und faltete das schwarze Ramones-Shirt auseinander. »YES! … der Baseballschläger-Adler!« Das andere Shirt war von Joy Division, einer Band, die sie nicht kannte. »Unknown Pleasures«, flüsterte sie ehrfürchtig und fand, dass es zu ihrer geplanten Flucht passte. Doch dazu fehlten ihr eine Menge Dollarnoten und die konnte sie nur unten im Laden verdienen. Das rief ihr die Zehnminuten-Frist ins Gedächtnis, die sie von ihrem Vater eingeräumt bekommen hatte.

»Fuck, der Laden!« Sie hatte die Frist überschritten. Vivian stopfte alles ins Paket, gab dem Schuhkarton einen Tritt, das er unter dem Bett verschwand, und lief in den Laden zurück. Sie passierte die Tür hinter der Theke und rannte direkt in ihren Vater hinein. Vivian keuchte. »Hab’s nicht vergessen, Dad.«

Sie rechnete mit einer weiteren Ohrfeige, doch Bob McCall lächelte zu ihr herab. »Ich weiß doch, bist ’n gutes Mädchen. Hilf mir mal mit den Kühlboxen, ja?«

Vivian atmete erleichtert auf. Der Inhalt der Kühlboxen war die Haupteinnahmequelle des Gemischtwarenladens ihrer Eltern. Der Eingang zum Kühlraum befand sich hinter der Fleischauslage, eine massive Stahltür mit zwei abgegriffenen Riegeln, die stets geschlossen sein musste, um die Kälte im Innern konstant zu halten.

Sie öffnete die Tür und schlüpfte in die angenehme Kälte des überraschend großen Raums. Mit dem Rücken schob sie die Tür zu und schloss für einen Moment die Augen, damit ihr erhitzter Körper abkühlen konnte. Es war jedes Mal ein kleiner Schock, die Kälte zu spüren. Gleichzeitig war es ein angenehm prickelndes Gefühl, wenn sich der Schweiß abkühlte und die kalte Luft in ihre Lunge strömte. Wenn sie danach in die Wärme zurückkehrte, fühlte sie sich wie ein Eis am Stil.

Vivian stieß sich ab und schlängelte sich zwischen dem von der Decke an Fleischerhaken hängenden Fleisch hindurch, um zur rückwärtigen Wand zu gelangen, wo Dad die Kühlboxen vorbereitete. Sie stieß mit der Schulter gegen eine der Hälften, die dadurch ins Schwingen geriet, eine andere anstieß und die wieder eine, bis schließlich alle schwankten und einen grotesken Tanz aus gehäuteten, fleischigen Torsi aufführten, dass Vivian kichern musste.

Bob McCall hatte das Metzgerhandwerk von seinem Vater erlernt. Er wusste, wo die Schnitte zu setzen waren, wie man die Häute abzog und die Knochen teilte. Auf seinem alten, von Narben überzogenen Arbeitstisch trennte er von dem Schlachtgut zuerst die Extremitäten ab, um sie auszubluten. Das Holz hatte deswegen im Laufe der Jahre eine dunkle, fast schwarze Farbe angenommen. Er zog ihnen die Haut ab und legte sie in einem speziellen Salz ein, das es nur in den Bergen South Dakotas gab. Das Pökelfleisch war einfach der Hammer.

Im nächsten Arbeitsschritt schnitt er die Köpfe ab, achtete aber darauf, dass der Hals am Torso verblieb. Die ließ er, wie sie waren, und steckte sie in gläserne Kästen, die Vivian an Aquarien erinnerten, weil er sie mit einer Art Sirup ausgoss. Wenn er Fleisch in den Kühlboxen verschickte, ging jedes Mal der dazugehörige Kopf mit auf die Reise, denn darauf legte die Kundschaft in der großen Stadt besonderen Wert.

Er brach den Körpertorso auf und nahm ihn aus, wie es ein Metzger machte. Hier wurde nichts in den Abfall geworfen. Selbst die Haut verarbeitete er zu Hundekauknochen. Für Großstädter mochte der Arbeitsbereich im Kühlhaus nicht hygienisch, die Beile, Hackklingen und Messer antiquiert wirken, doch McCall interessierte das nicht. Hier in Purgatory tickten die Uhren anders, auf Meinungen von außerhalb gab man einen feuchten Dreck.

Unabhängig davon, wie sehr sie das Leben in Purgatory hasste, arbeitete Vivian gerne im Laden ihrer Eltern. Sie half im Kühlhaus, gab dem Mastvieh in der Scheune hinter dem Haus Futter und hätte wahrscheinlich einen der Jungs aus dem Ort geheiratet, wenn da nicht diese Brieffreundschaft wäre. Mary-Ann schenkte ihr mit ihren ausschweifenden Briefen einen Blick über den Horizont hinaus, vermittelte ihr neues Wissen und verdammt coole Musik. Sie hatte in Vivians Kopf mit ihren Zeilen einen Keim gesetzt, der sie dazu trieb, mehr vom Leben zu erwarten als die langweilige, ländliche Einöde.

Heute waren es fünf Kühlboxen, die ihr Vater vorbereitet hatte. Sie lud die mit Eis und Fleisch gefüllten Boxen auf eine Sackkarre, rollte sie aus dem Kühlhaus und durch den Laden zu Chuck, der sie rauchend neben dem Postlieferwagen erwartete. »Verdammt, Mädchen, hast mich in der Hitze ganz schön warten lassen.« Er warf einen schrägen Blick auf die Boxen und öffnete die Hecktüren des Wagens. »Wer frisst nur diesen ganzen Mist?«

Das Geschäft mit dem Fleisch lief inoffiziell. Chuck sah Vivian dabei zu, wie sie die schweren Boxen verstaute, half ihr aber nicht. Lieber gaffte er Vivian auf den Hintern und versuchte, einen Blick in ihr vom Schweiß feuchtes Shirt zu erhaschen, wenn sie sich nach vorne beugte. Ihre Haut dampfte, weil sie kalt war.

»Mein Gott, Chuck, noch nie ’n weibliches Wesen gesehen?«, schnauzte sie ihn leicht säuerlich an und riss von der letzten Box einen Zettel ab, auf dem die Empfängeradresse vermerkt war.

Chuck schnaufte schwer, machte aber keine Anstalten, seinen Blick abzuwenden. »Sorry, Mädchen, is’ nur, dass du zu ’ner verdammt schönen Frau heranwächst.«

Es gab über die Lieferungen keinen Einlieferungsbescheid oder eine Aufsplittung in Warenpreis und Steuer. Die einzige Buchführung bestand aus einem abgegriffenen Heft, das Bob McCall in der Gesäßtasche trug, und dem Zettel mit dem Adressaten, der dem Postboten mit jeder Lieferung übergeben wurde.

Vivian funkelte ihn genervt an. »Geh dich erst mal waschen und besorg dir ’nen vernünftigen Haarschnitt, du stinkst zum Himmel, Mann. Jeder würd sonst meinen, dass du ’n Problem mit Wasser hast.« Chuck war ein Schwein, aber eins, das auf seine eigene Art liebenswert war. Der dürre Kerl tat keiner Fliege was zuleide. Einmal hatte er eine Katze angefahren. Die brachte er mit in den Laden und weinte wie ein Schoßhund. Bob brach dem armen Tier kurzerhand das Genick, um es von seinem Leiden zu erlösen. Ja, auf diese Weise machte man das in Purgatory.

»35 Pine Street, Yonkers. New York also … feiert Sam Carr mal wieder ’ne Party, hm?« Grunzend steckte er das Papier in die Hosentasche. »Na meinetwegen … sollen die in der Stadt ihren Spaß haben, während wir hier schuften und schwitzen wie die Schweine.« Chuck nickte Vivian zu und schwang sich hinters Steuer. »Grüße an Bob und deine Mum, seh’n uns nächste Woche …«

Vivian sah dem Postwagen sehnsüchtig hinterher, bis er nach Süden auf den Interstate bog und dort eine Staubwolke hinter sich herziehend verschwand. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als im Fond des Lieferwagens zu sitzen und der ländlichen Einöde sofort zu entfliehen, andererseits hielt sie hier ein nahezu unzertrennliches Band, das weit über das der Familie hinausging. Der Spruch Keiner geht für immer von hier weg kam nicht von ungefähr.

Nur für ’ne Weile wär toll, ein oder zwei Jahre …

»Die Jugend ist ’n verdammter Fluch, Vivian«, krächzte es hinter ihr.

Vivian erschrak, obgleich sie wegen der Stimme wusste, wer da stand. Sie drehte sich um und rang sich ein schräges Lächeln ab. Es war die alte Ruth Dickson, die sich einmal mehr an sie herangeschlichen hatte. Ihr wächsernes Gesicht glich einer faltigen Kraterlandschaft, ihr Hals, der aus dem abgetragenen schwarzen Kleid herausragte, dem einer Schildkröte. Sie stützte sich gebückt auf einen Stock, den sie im Wald gefunden haben musste.

Was will diese gottverdammte Hexe von mir?

»Ruth, verdammt, hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst dich nicht an mich ranschleichen!«

»Ich weiß, was in dir vorgeht«, sprach Ruth unbeeindruckt weiter. »Hör auf meine Worte, behalt’s für dich, und wenn dir das Glück hold ist, zieh’s durch.« Vivian schluckte. Ihr war die Frau unbehaglich. In ihren Erinnerungen war sie schon immer alt gewesen. Selbst Dad wusste nicht, wie alt sie wirklich war. Dazu der penetrante Gestank nach Mottenkugeln und etwas Süßlichem, eben so, wie alte Leute manchmal rochen. Fröstelnd rieb sie sich die Arme. »Keine Ahnung, was du mir damit sagen willst, Ruth …«

Die Alte kam ihr nah, unterschritt deutlich Vivians Wohlfühldistanz, was ihr unangenehm vorkam. Ihr Ärmchen kam nach oben, ihr dürrer Finger tippte gegen Vivians Brust. »Die Hitze der Jugend, Kindchen, die Hitze der Jugend …« Sie räusperte sich, fing an zu würgen und schluckte einen Brocken hinunter. Um was es sich handelte, wollte sich Vivian auf keinen Fall vorstellen. Ihr Finger drückte weiterhin in Vivians Oberkörper. Sie war erstaunt darüber, wie hart und lang ihre Fingernägel waren. Und spitz genug, um sie an Krallen zu erinnern. »Ich war ein blutjunges und naives Ding wie du, als sie nach dem Krieg zu uns kamen …« Ruth lachte krächzend. »Hab meine Unschuld an die Dämonen des Südens verloren …«

Vivian dachte an ihren Vater und Vietnam. Diesen Krieg konnte sie unmöglich meinen, denn nach Vietnam waren kaum Leute hierher gekommen. Ruth sprach oft von den Dämonen des Südens, die Purgatory heimgesucht und alles ins Schlechte verkehrt hatten. Sie behauptete sogar, dass der Boden nur deswegen schwarz sei, weil er vom Bösen verdorben sei. Was sollte man sagen, Ruth war eben verrückt.

»Sie haben ihre Verderbtheit in uns eingepflanzt wie missgestaltete Föten … und wir sind dumm genug gewesen, sie auszutragen.« Die alte Ruth berührte Vivians Wange. »Du bist anders, Kindchen, erinnerst mich an deine Mutter … Lass dich nicht von ihnen benutzen, wie sie es mit uns taten …« Ruth ließ von ihr ab und schlurfte weiter ihres Weges, drehte sich aber nach einigen Schritte noch einmal zu ihr um. »Wenn du reden willst, sprich nur mit mir und niemandem sonst … nur mit mir, hörst du, Kindchen?«

Damit ließ die alte Frau Vivian stehen, die ihr entgeistert nachstarrte. Sie war froh, dass Ruth weiterging. Dennoch hätte sie gerne gewusst, was diese Anspielung zu bedeuten hatte. Ruth Dickson war eine Außenseiterin, die am Stadtrand in einem Wäldchen eine heruntergekommene Hütte bewohnte. Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmerte, und kam nur selten in die Stadt.

Ist sie wegen mir gekommen? Um mir das zu sagen?

Vivian dachte mit Schaudern an den letzten Sonntag zurück. Der Prediger hatte die alte Frau während der Messe vor der versammelten Gemeinde gedemütigt. »Ungläubige Hexe« hatte er sie genannt und dafür eine Menge Zustimmung geerntet. Es war wirklich besser, sich von ihr fernzuhalten, um nicht in ihr schlechtes Licht gerückt zu werden.

Trotz der Sommerhitze war ihr plötzlich kalt. »Verrückte Alte«, murmelte sie und ging in den Laden zurück, um ihrer Arbeit nachzugehen.

Mudlake - Willkommen in der Hölle

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