Читать книгу Mudlake - Willkommen in der Hölle - M.H. Steinmetz - Страница 18
ОглавлениеThe White House Inn
Das Motorrad war auf dem Gepäckträger festgezurrt, der Bus strebte auf der staubigen Landstraße seinem abendlichen Ziel entgegen. Die Sonne stand bereits zur Hälfte hinter dem Horizont, die Schatten wurden länger. Selbst nach Sonnenuntergang lag die bleierne Hitze wie eine Last über dem Land. Im Bus war Ruhe eingekehrt. Wer nicht schlief, schwitzte an die Scheiben gelehnt vor sich hin. Sie hatten einen Schweinemastbetrieb mit riesigen Hallen passiert. Der Fahrtwind hatte den Güllegestank durch die offenen Fenster gepresst. Jetzt stand er wie zäher Brei im Bus und wollte nicht mehr weichen.
Hope schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf, weil Cherryl sie mit dem Ellbogen anstieß.
»Hast du die Typen gesehen?«
Hope rieb sich die Augen. »Hab geschlafen, verdammt … welche Typen? Und warum stinkt’s hier denn? Hast du …?«
»Quatsch, nichts hab ich!«, erwiderte Cherryl. »Sind an ’ner Schweinezucht vorbeigefahren. Deshalb stinkt das jetzt so.«
»Hast du mich geweckt, um mir das zu sagen? Dein Ernst?« Hope sah aus dem Fenster. Die Sonne versank gerade vollends hinter dem Horizont. Aus den Schatten wurde Dunkelheit. Die endlosen Maisfelder verwandelten sich in einen sich träge wiegenden Ozean, angefüllt mit Finsternis.
Cherryl schüttelte den Kopf. »Nee! Wegen der Kerle bei der Schweinefarm.«
»Hä?«
»Ja, da waren welche vor den Ställen …«
»Was war denn mit denen?«
»Die standen neben ’nem rostigen Truck, gafften uns nach. Echt gruselige Vogelscheuchen, sag ich dir.« Cherryl rieb sich fröstelnd die Arme. »Da war was in ihrem Blick …«
Hope rutschte nach oben, um sich aufrecht hinzusetzen. »Cherryl, das ist nicht witzig.«
»Wenn ich’s dir sage. Wie wilde Hunde … fast … animalisch.«
Hope rollte mit den Augen. »Klar. Und das hast du alles beim Vorbeifahren festgestellt. In ’ner Sekunde.« Hope wurde jetzt ebenfalls kühl. Sie dachte an das zurück, was sie im Maisfeld erlebt hatte. An die unsichtbare Präsenz. Wäre Cherryl doch nur ruhig gewesen. »Im Mais ist alles möglich …«
Cherryl sah sie erschrocken an. »Was? Hope? Alles klar mit dir?«
Hope fing an, diabolisch zu grinsen. »Ich sagte, im Mais ist alles möglich.«
»Jetzt machst du mir Angst.«
»Das war meine Absicht!«
Sie passierten ein Ortsschild, aber es war bereits zu dunkel, um zu erkennen, was auf ihm geschrieben stand. Kurz darauf schaltete Kindermann einen Gang nach unten und die ersten Häuser tauchten auf.
Häuser?
Eher Hütten …
Schwarze Vögel, die in den Bäumen sitzen … uns anstarren, weil sie uns erwarten … Wollen sie uns etwas zurufen, das wichtig ist?
Eine Warnung vielleicht?
In der Tat saßen Krähen in den Bäumen neben der Straße.
Wo sollen sie auch sonst sitzen? Sammeln sich auf ihren Schlafbäumen für die Nacht … nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.
Die Totenvögel, die ich rief … Sie sprechen zu mir, rufen mir zu, ihre Augen eine nervöse Warnung. Wir sollten nicht hier sein …
Ihre Gedanken spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen der Vögel. Doch die saßen viel zu weit entfernt und außerdem war es dunkel. Die Augen, die sie sah, waren in ihrem Kopf. Hope schüttelte die düsteren Gedanken ab.
Es war Zeit, sich von alldem zu befreien. Nach dem Ausflug nach South Dakota würde sie das Waisenhaus mit einem vorzeigbaren Schulabschluss verlassen und ein neues Leben beginnen, wenn es gut lief, sogar einen Psychiater aufsuchen, wenn sie das Geld dazu hatte. Ein Leben ohne die Schatten der alten Geister.
Nicht in dieser Nacht. Ich werde mich den Bildern nicht hingeben, ihnen keinen Glauben schenken.
Ich werde einfach nur ein Mädchen sein, lachen und albern …
Im gelben Licht der Straßenlaternen sahen die Holzhäuser schäbig und heruntergekommen aus. Fast wie in einer Geisterstadt, denn niemand befand sich auf der Straße. Keiner saß wie bei Städtchen üblich vor den Häusern, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten. Wie der Interstate bestanden die Straßen in der Ortschaft aus gewalztem Schotter. Durch das veränderte Fahrgeräusch waren jetzt alle aufgewacht und drückten sich die Nasen an den Scheiben platt, denn jeder wollte wissen, wo sie die Nacht verbringen würden.
»Ganz sicher in ’ner beschissenen Turnhalle«, motzte Lissy und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»In ’ner Kirche«, mutmaßte Cherryl. Sie hatte sich einen Schminkspiegel an den Vordersitz gehängt, damit sie sich ihr Make-up nachziehen konnte.
Hope kicherte und warf Lissy einen vielsagenden Blick zu. »Ich sag Gemeindehaus. Hundertprozentig!«
»Ihr liegt alle drei so was von falsch«, tönte Brady und schaute über die Rückenlehne. »Wir werden in ’nem horrormäßigen halb zerfallenen Haus übernachten, so sieht’s aus, Mädels. Der Slasher schärft schon sein Beil!«
Hope schlug gegen die Rückenlehne. »Du bist so ein Idiot, Brady Banner!«
»Hey, verdammt!« Cherryl warf Hope einen wütenden Blick zu. Der Lippenstift auf ihrem Mund war verschmiert, als hätte sie mit einem der Jungs wild geknutscht. »Wegen dir kann ich’s jetzt noch mal machen!«
Lissy gluckste und wedelte mit der Hand. »Für unsere Beauty-Queen ist der Abend somit gelaufen!«
Cherryl fauchte genervt. »Ihr seid so was von blöd …«
Der Bus bremste und bog nach links in die Main Street ab, um gleich darauf nach rechts auf den Parkplatz einer eindrucksvollen viktorianischen Villa zu fahren.
Hope klappte der Unterkiefer nach unten. »Nee, oder?«
»Manchmal hasse ich es, wenn ich recht habe«, ertönte von vorne Bradys Stimme.
Das viktorianische Haus mit seinen Erkern und Türmchen wirkte nur auf den ersten Blick wie eine noble Villa. Aus der Nähe fügte es sich in das marode Gesamtbild der Stadt nahtlos ein. Die Farbe war abgeblättert, das Holz darunter spröde und grau. Die Fenster wirkten stumpf und die Gardinen dahinter grau wie altes Leinen. »Dann doch lieber die Turnhalle«, stöhnte Cherryl und steckte ihre Schminksachen in die Umhängetasche zurück.
»Na, vielleicht ist es drinnen ja ganz nett.« Hope klang nicht gerade überzeugt.
»Willkommen in Purgatory, Iowa!«, verkündete Schwester O’Hara von vorne. »Alles aussteigen und vor der Veranda aufstellen. Wir übernachten im besten Hotel am Platz, dem White House Inn.«
»Da will ich gar nicht erst die anderen Hotels sehen«, höhnte Brady.
Jamie lachte, denn der Witz war wirklich gut.
»Quatscht nicht rum, packte eure Sachen und lasst nichts im Bus liegen«, schnauzte Schwester O’Hara sie an und wedelte hektisch mit der Hand Richtung Ausstieg, um sie anzutreiben.
»Boah …« Cherryl stöhnte. Sie stieg hinter Lissy aus dem Bus. »Hier draußen ist die Luft ja noch schlimmer als in der Blechkiste.«
Hope hob ihre geknotete Bluse an, um sich Luft zuzufächeln, was wegen der breiigen Hitze ihr keine lüsternen Blicke der Jungs einbrachte.
»Kann dir helfen, wenn du willst«, tönte Brady neben ihr.
»Ach, verpiss dich doch einfach, kann dein Gelaber jetzt echt nicht ertragen.« Hope war genervt und sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, doch sie bezweifelte, dass dieses Haus einen solchen Luxus zu bieten hatte. Zur Not würde ein nasses Tuch helfen, ihre Haut vom klebrigen Schweiß zu befreien, damit sie sich wieder menschlich fühlte.
Lissy stieß Hope an. »Schau mal, das Fenster.«
Hope folgte ihrem Nicken und sah, dass die Gardine hinter dem Fenster neben der Fliegentür zur Veranda wackelte. Sie bekam eine Gänsehaut, während sie sich vorstellte, von drinnen beobachtet zu werden. Kurz darauf öffnete sich quietschend die innere Tür und die Fliegentür schwang nach außen. Eine Frau mittleren Alters trat auf die Veranda. Sie war groß und schlank und sah in dem schwarzen, mit roten Rosen bedruckten Kleid gut genug aus, dass einer der Jungs durch die Zähne pfiff. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, hatte sie die Vierzig bereits hinter sich. Ein harter Zug umspielte ihre Mundwinkel, ihre Augen wirkten klar, aber streng. Das blonde Haar fiel in leichten Locken über ihre Schultern und hatte einen dezenten grauen Schimmer.
»Das ist Mrs. Iversson, Kinder«, stellte Schwester O’Hara die Frau vor.
»Dann müssten Sie Schwester O’Hara vom New Yorker Waisenhaus sein«, stellte die Frau fest, überquerte die überdachte Veranda und stieg die drei Stufen zu der Ordensfrau herunter, um ihr die Hand zu geben. Dann drehte sie sich zu den versammelten Jugendlichen um. »Und ihr seid die Gören, die mal Landluft schnuppern wollen, ja?«
Mrs. Iverssons Stimme hatte diesen rauen Klang von zu vielen Zigaretten und einer Menge Alkohol und wollte nicht zu ihrem adretten Äußeren passen. Hope warf Lissy einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Selbst die Dumpfbacke Brady hielt für den Moment die Klappe.
»Das White House Inn ist mein Haus«, begann Mrs. Iversson ihre Ansprache. »Es steht auf meinem Grund und Boden. Die Regeln sind einfach.« Ihr Blick wanderte über die verschwitzte, müde Schar und blieb an Jason haften, der sich die letzte Zeit über unauffällig verhalten hatte. In einer Weise, dass Hope ihn fast vergessen hätte.
»Es gibt Dreierzimmer für die Jungs und ebenso für die Mädchen. Auf jeder Etage gibt es ein Badezimmer mit heißem und kaltem Wasser. Dort findet ihr auch die Toiletten«, erklärte die Iversson.
»Die Mädchen schlafen oben, die Jungs im Erdgeschoss. Wer sich mit wem ein Zimmer teilt, liegt ganz bei euch … Seid alt genug, um das selbst auf die Reihe zu bekommen«, ergänzte Schwester O’Hara. Die Frauen standen jetzt nebeneinander und Hope stellte fest, dass beide dieselben verkniffenen Fältchen um die Augen hatten.
»Zweihundert Meter die Straße runter gibt’s ’nen kleinen Laden, wenn ihr was braucht«, erklärte Mrs. Iversson.
Brady und Jamie stießen sich mit den Fäusten an und grinsten.
»Das ist das Stadtzentrum, dort spielt sich unser Leben ab. Es gibt das Hawkeye und das JD’s, wo man essen und trinken kann.« Mrs. Iversson nickte, als wären es lohnenswerte Ziele. »Und wir haben ein Kino. Es ist klein und hat ’nen schlechten Sound, aber es ist ’ne nette Abwechslung …«
Brady hob die Hand und schnippte mit den Fingern. »Hab da mal ’ne Frage, Ma’am!«
Schwester O’Hara nickte, bedachte ihn aber mit einem warnenden Blick. »Nur zu, Brady.«
»Okay … was läuft’n für’n Programm?«
»Wir werden nicht lange genug hier sein, um das herauszufinden«, stellte Schwester O’Hara mit wissendem Unterton fest.
Mrs. Iversson lächelte verschmitzt. »Heute ist Nachtvorstellung. Star Wars!«
Brady stieß Jamie an und grinste. »Bingo!«
Cherryl setzte ihr Unschuldslächeln auf und hob die Hand. »Schwester O’Hara?«
»Ja, Kindchen?«
Cherryl seufzte bedrückt. »Das ist doch sozusagen unsere Abschlussfahrt, nicht wahr?«
»So kann man es sagen, ja.«
»Wäre es da nicht nett, wenn Sie uns, na ja … mehr Freiraum gönnen würden? Ich meine, wir sind alt genug, um zu wissen, was …«
Schwester O’Hara hob die Hand und unterbrach sie in ihrem Redefluss. »Brauchst nicht weiterzureden, Cherryl, ich habe verstanden.« Ihr strenger Blick streifte über die erwartungsvollen Gesichter. Und es war tatsächlich ein Zwinkern, mit dem sie ihren nächsten Satz ankündigte. »Dann will ich mal Gnade vor Recht walten lassen und gewähre euch Ausgang bis elf Uhr.«
Brady sprang in die Luft. »Yeah, wie geil ist das denn?«
Cherryl stieß Hope in die Rippen. »Höre und lerne von der Meisterin, Baby!«
Lissy kicherte albern und Jamie grinste wie ein Honigkuchenpferd. Die anderen stießen einander an und lachten.
Hope war darüber erleichtert, weniger Zeit in dem unheimlichen Haus verbringen zu müssen.
Taschen hochbringen, frisch machen und sehen, was geht …
Beunruhigend war allerdings der Blick, den Schwester O’Hara mit Mrs. Iversson wechselte. Die beiden Frauen schien etwas zu verbinden, eine Bekanntschaft vielleicht, obgleich dies recht unwahrscheinlich war. Dann war der Moment vorbei und Hope schlüpfte hinter den anderen Mädchen in die muffige Düsternis jenseits der Fliegentür. Sie tauchte in etwas Weiches ein, das sie vollends in sich aufnahm. Das White House Inn atmete sie ein.