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Die Suche nach mir

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Auf dem schmalen Wanderweg in den Bergen der Insel bin ich seit der Ewigkeit einer gefühlten Stunde keinem Menschen mehr begegnet. An einem flachen Abschnitt bleibe ich für ein kurzes Verschnaufen stehen, blicke versonnen in die Weite. Noch ein Stück bergauf, am Gipfel, ich weiß es, wird das Panorama über die Insel und das Meer grandios sein. Schon hier geht mir das Herz weit auf. Die dunklen Wolken in meinem Inneren lösen sich wie in einem tiefen Seufzer auf.

Ein breiter Felsvorsprung, ein Daumensprung seitlich im Bild, versperrt die Sicht auf den kleinen Bergort, an dessen Rand mein Haus steht. Ich befinde mich auf der Suche nach mir selbst, nicht nur auf dieser Wanderung, nein, seit ich wieder auf der Insel bin.

Vorgestern, am Nachmittag, die Sonne durchflutete das Zimmer mit strahlender Helle, fiel mir dieses bestimmte, in unserem Zirkel damals auf dem Index stehende Buch in die Hand. Ich zögerte, und das Zögern war eine Mischung aus einem Hauch schlechten Gewissens und aufsteigender Vorfreude auf den Text. Schlage ich das Buch auf, wird es mich auch heute noch in Schwingungen versetzen mit seiner Sprache und dem hohen Niveau?, fragte ich mich. Ein Grinsen beendete die temporäre Sperre, ich folgte meinem Gefühl, sagte mir, ein Sonnenstrahl sei es gewesen, deren goldener Finger Die Bereinigung aus der Regalwand pickte.

Erst am Abend, auf dem kleinen Tisch neben mir ein Glas Rotwein – auf der Insel war ich ein Rotweintrinker! – nahm ich Eustachius’ Buch, das es seinerzeit über Nacht zum Bestseller brachte, schlug es auf und begann nach schnellem, fast aufgeregtem Blättern zu lesen.

Ich las den Text, der gerade mal knapp über zweihundert Seiten umfasste, nicht zum ersten Mal, war also vorbereitet auf die harte Kost, die bedrückenden Szenen und Bilder, die einem sofort unter die Haut schlüpften. Die Bereinigung war das erste Buch von Eustachius, den FvF persönlich als MH Wagatha, ich beim Erscheinen des Romans nur vom Hörensagen kannte. Eustachius, der nicht nur mit diesem Buch, sondern auch mit seinen nachfolgenden Büchern für Furore sorgte, mit ihnen ein neues Genre begründete, das bald Future Fiction benannt wurde. Obwohl wir davon ausgingen, dass MHW aus Zorn schrieb, wir seine plötzliche, wie aus dem Nichts kommende Popularität überhaupt nicht gern sahen, sogar richtig fürchteten, seine Texte als vage, aber gleichwohl deutliche Anspielungen, sie darum als Fehdehandschuh betrachten durften, wurde das glücklicherweise allein nur in unserer Wagenburg so gesehen. Es war uns alles andere als eine Freude, dass MHW für beinahe jedes seiner Bücher mit irgendeinem Preis ausgezeichnet wurde.

Was haben die, die den Text eines fiktiven Romans besser zu verstehen glauben als der Autor selbst, alles über Die Bereinigung geschrieben? Die wichtigsten Kritiken, die seriösen Besprechungen in den großen Zeitungen, habe ich alle gelesen, nur wenige, die unverfänglichen, an Fabian weitergegeben. Wer, so wie ich, das Buch mit dem richtigen Hintergrundwissen las, meinte trotz des Nebels der vielen Worte das eigentliche Wollen zu erkennen. Und ich konnte nachvollziehen, weshalb FvF die latente Beunruhigung durch den ehemaligen Kollegen und Freund fürchtete. Seine nächsten Bücher kamen für uns jedes Mal als ein Beweis dieser bösen Ahnung.

In der unmittelbaren Folge der Bereinigung ließ ich mir von einem IT-Mitarbeiter bei FinCon, einem Inder, einen anonymen Blog einrichten, das heißt, ich wollte möglichst verhindern, dass ich erkannt wurde. Fabian wusste davon und ließ mich gewähren. Ich weiß, meine kurzen Aphorismen im Stil eines niveauvollen Colloquiums zu genau ausgewählten Textstellen der Bereinigung amüsierten Fabian. Sibil hat es mir erzählt.

Wenn ich am späteren Abend im gedämpften Licht am Laptop saß, ein Glas Whisky auf dem Tisch, dann machte mir das Schreiben richtig viel Spaß. Der Whisky beruhigte meine Dämonen und regte mich zu geistigen Sprüngen an. Ein zweites Glas war aber schon zu viel, fand ich heraus. Übrigens, dieser Blog sollte uns später noch von gutem Nutzen sein.

Ebenfalls nicht auf ein Wort von FvF hin, aber mit seiner Zustimmung, vor allem aus dem ernsten Bewusstsein heraus, der unterschwelligen Gegnerschaft von MHW entgegenzutreten, schrieb ich das erste Buch im Namen von Fabian. Es hatte den kaum erhofften Erfolg, Fabian auch in den intellektuellen Kreisen zu einem ernsthaften Thema werden zu lassen.

Mein Freund Sisyphos

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