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Mit dem Zug durch Europa
ОглавлениеWir hatten Abitur gemacht, Fabian und ich. Schon wenige Tage später starteten wir unsere Reise. Unser Sponsor war der Baron, nicht Fabians Vater, nein, dessen Vater, der alte Baron.
Unterwegs blieb uns gar keine Zeit zum Besinnen, darüber nachzudenken, was morgen sein würde, geschweige denn was in der gerade eben vorübergeflogenen Vergangenheit geschehen war. Für Fabian und mich zählte zu dieser Zeit allein der Augenblick, im Heute nur diese Stunde, sogar der nächste Abend kam uns am Morgen vor wie ferne Zukunft. Wir waren frei wie die Vögel, verstanden und nahmen das wörtlich.
Beide hatten wir schon unsere Einberufungsschreiben bekommen. In zwei Monaten mussten wir zur Bundeswehr, ich zur Grundausbildung bei der Luftwaffe nach Holland, Fabian beim Heer nach Hessen. Doch erfolgreich schoben wir diesen Termin aus unserem Kopf hinaus, wir dachten einfach nicht mehr daran.
Jetzt waren wir mit dem Zug in Europa unterwegs, kreuz und quer. Amsterdam, London, Paris, Rom, Athen, Barcelona, Madrid. Nach einer Ankunft suchten wir zunächst unsere einfache Unterkunft auf, die wir aus einem Verzeichnis hatten, das Fabians Mutter uns besorgt hatte. Nachdem wir unser nächstes Ziel ausgemacht hatten, meldeten wir uns dort über Telefon an. Erst nachdem wir unser Bett sicher hatten, stromerten wir ohne jegliches Limit durch die jeweilige Stadt, schauten uns satt, saugten das Leben ein, bis ein Atemholen anstand, wir uns wieder in den Zug setzten und der nächsten Metropole entgegenfuhren. Während der Fahrt nutzte ich die kleine Freiheit, um eine Art Schnelltagebuch zu schreiben.
Es war in Lissabon, am Ufer des Tejo, als wir innehielten, den ersten Versuch unternahmen, uns für eine kurze Zeit einzufangen. Es war schon späterer Abend, wir saßen vor einem winzigen Lokal in der Altstadt, hatten einfach, aber gut gegessen, tranken roten Wein, rauchten von den billigen dunklen Zigarillos, da erzählte mir Fabian zum ersten Mal von Sibil. Und es kam mir so vor, als schütte er mit einem Stoß einen bis zum Rand vollen Wassereimer aus. Ich brauchte nur meine Ohren aufzumachen, um seine sprudelnden Wortkaskaden zu empfangen.
Wie eine strahlende Göttin oder hinreißende Märchenfee war die schöne Frau, die fast acht Jahre älter war als er, in seinem Leben erschienen, hatte alles völlig auf den Kopf gestellt. Sein Vater war es gewesen, der durch Vermittlung der Universität die Studentin auf Lehramt verpflichtete, um Fabian doch noch auf Kurs zu bringen, damit das fest eingeplante Abitur nicht wirklich ernsthaft in Gefahr geriet.
Mit zwölf Jahren war Fabian Klassensprecher, mit sechszehn Jahren Schulsprecher geworden. Mit Sicherheit war er der faulste Schülersprecher, den unsere Schule je gehabt hatte oder haben wird. Mit nur etwas weniger Intelligenz, einer weniger schnellen Auffassungsgabe wäre der Schüler Fabian von Fernau längst gescheitert. So bekam er jedes Jahr, wenn auch mit Unterstützung, zum Beispiel auch von mir, gerade noch so die Kurve.