Читать книгу Mein Freund Sisyphos - Michael Bohm - Страница 8
Im weißen Raum
ОглавлениеWir befanden uns in einem Warteraum der Klinik. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, in sich versunken.
Irgendetwas, ich weiß nicht, was, beendete meine Versunkenheit abrupt. Da stand jemand mitten im Raum. Ich schaute zu ihm hoch, meine Augen blieben für eine Winzigkeit an dem Button hängen, den er an der Jacke trug, wie jeder von uns. Dieser Button war auch eine Idee von mir gewesen. Bei einem Cartoonisten hatten wir uns die Rechte an einer Strichzeichnung besorgt, die FvF zeigt. Die Buttons mit dem Zeichen wurden an alle abgegeben, die mit der Bewegung Helles Morgen sympathisierten. Auch für Fabians unmittelbare Umgebung war der Anstecker Pflicht.
Es brauchte eine kleine Weile, bis ich fähig war, meine Trägheit im Kopf abzuschütteln und zu mir zu kommen. In der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit war der Grund zu suchen, warum ich mich so schwertat, ohne zu viel Emotion klar zu denken.
Nicht willentlich, vielmehr unbewusst, suchte ich die wirren Bruchstücke der Erinnerung zusammen, um mir selbst sagen zu können, wo ich mich überhaupt befand. Genau: Ich hatte mich auf ein altes Sofa gesetzt, neben mir saß Sibil, deren eiskalte Hand ich hielt. Zwei in Eis verwandelte Menschen. Eine junge Ärztin hatte unsere Gruppe – wir waren, glaube ich, sieben – in einen unwirklichen weißen Raum gebracht, scheinbar in eine andere Welt, wo wir vor der Medienmeute sicher auf Nachricht aus dem OP warten sollten. Alle, wie auf eine stille Verabredung, schwiegen wir, niemand wollte oder konnte etwas sagen. Was hätten das auch für Worte sein können? Wir standen unter Schock, wie es so schön heißt, wie unter eine von der übrigen Welt abgeschottete Käseglocke gestellt, das gerade vor kurzer Zeit Geschehene konnte sich doch nicht anders als erst einmal traumatisch auf uns auswirken.
Auf dem Sofa sitzend gelang es mir einfach nicht, das wirre Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Alle Versuche in diese Richtung wurden von den unglaublichen Bildern, die ich mir so nicht vorgestellt hatte, die direkt neben mir passierten, und sich darum tief in meine Erinnerung brannten, überlagert.
Sibil hatte meine Hand losgelassen, so, als wäre sie plötzlich nicht mehr kalt, sondern ein heißes Eisen, war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Gedankenverloren sah ich mir ihren geraden Rücken an, erhob mich ebenfalls vom Sofa, ging zu jedem Einzelnen unseres Teams, außer Sibil und mir drei Männer und zwei Frauen, legte meine Hand kurz an den Oberarm, suchte mit Aufbietung meiner ganzen Kraft Augenkontakt, den mir nur zwei von ihnen gestatteten. Nein, so redete ich mir ein, es war nicht dieser Schrecken, den wir gemeinsam erlebt hatten, der uns lähmte, es war vielmehr dieses Gefühl des freien Falls aus der rauschenden, abundanten Euphorie in eine bodenlose dunkle Traurigkeit, das uns jetzt zu leblosen Puppen machte.
Als wir am frühen Abend aus den weißen Kleinbussen gestiegen waren, die beide an den Seiten Fabians lächelndes Konterfei zeigten, und über den Augustiner-Platz auf die Stadthalle zugingen, spannte sich der Himmel in einem kristallenen Blau, geschmückt mit einigen leichten hohen Federwolken, über die Stadt.
Doch jetzt stecken wir in diesem finsteren undurchdringlich scheinenden Nebel fest, wie gefangen in einer babylonischen Verwirrung. Wer von uns kann denn sagen, wie es weitergehen soll, wer hat den Kopf für solche Gedanken überhaupt frei? Kann man in solch einer Situation überhaupt vorausdenken? Die zähe Spannung ist mit Händen zu greifen. Wann wird die Tür aufgehen, eine weiß gekleidete Gestalt hereinkommen und uns die Nachricht kundtun, auf die wir so dringend warten und die wir noch mehr fürchten?
Ich gehe auf die Tür zu, noch ohne tatsächliche Absicht, den Raum zu verlassen, bleibe stehen, entscheide mich endlich, doch nach draußen zu gehen. Um dort was zu machen? Auf dem Gang auf und ab zu spazieren? Eine zufällige Begegnung zu suchen? Mit wem denn? In der schon geöffneten Tür stehend blicke ich zurück. Stumme Gesichter, fast wie leblose Masken, starren irgendwohin, keiner beachtet mich. Sibil steht noch immer abgewandt am Fenster.
Draußen auf dem Flur steht einer der Bodyguards, Eddy, vor mir. Ich nicke ihm zu. Wir kennen uns seit einer kleinen Ewigkeit, seit der Zeit bei der Bundeswehr. Der leere Klinikflur ist lang. Meine Augen nehmen die modernen, bunten Gemälde an der weißen Wand wahr. Sie hängen in ungleichmäßigem Abstand. Ich betrachte jedes einzelne, kann im Moment nichts mit ihnen anfangen, aber es ist eine kleine Ablenkung, immerhin. Der Flur endet weit vorn an einem Fenster, dahinter die Nacht. Wie davon angezogen, wende ich mich von den Bildern ab und steuere auf das dunkle Rechteck vor mir zu. Ich fühle mich allein, und das ist im Augenblick auch gut so. Mein Denkapparat ist wieder angesprungen. Mein erster Entschluss ist, alles auszublenden, um zur unbedingt notwendigen Vernunft zurückzufinden. Einer von uns, also ich, muss den Kokon des Entsetzens, der Panik durchbrechen, und klare Strukturen vorgeben, wie es zumindest für den aufdämmernden Tag weitergehen soll. Habe ich denn nicht alles im Voraus längst bedacht, muss doch nur meinem Plan folgen?
Meine Augen haben sich an dem Fenster festgesaugt, sodass ich die Person im grünen Bademantel, die aus dem Gang von links in meinen Weg tritt, erst wahrnehme, als wir uns schon gegenüberstehen. Es ist ein untersetzter Mann undefinierbaren Alters, mit rundem Gesicht, dessen helle grüne Augen mich freundlich anlächeln. Er hat das Down-Syndrom, das heute Trisomie 21 genannt wird, wie ich mich erinnere. Wir stellen uns nebeneinander ans Fenster, sehen die unzähligen blinkenden Lichter der Stadt und unterhalten uns. Er spricht langsam, bedächtig, ist ohne Weiteres fähig zu vernünftigen Gedankenverbindungen und vermag sie klar in Worte zu fassen. Zusammen hier am Fenster zu stehen findet er richtig gemütlich. Unsere Plauderei lenkt mich ab, nimmt mir den dumpfen Druck einer unbestimmten, konturlosen Angst, in der im Hintergrund die Panik lauert. Als wir uns nach einer ziemlichen Weile trennen, geben wir uns die Hand, wünschen uns gegenseitig eine gute Zeit.
Eddy steht an die Wand gelehnt, nur wenige Schritte hinter mir.
Ich kehre in unseren Warteraum zurück und nichts scheint sich verändert zu haben, alle stehen wie lebende Statuen herum. Die Abwesenheit und auch meine Rückkehr sind wohl keinem wirklich bewusst geworden. Ich setze mich wieder in die Sofaecke und spekuliere erneut mit der Frage, wohin dieser Mensch, der für mich nicht gesichtslose Schütze, verschwunden ist, Ich denke nicht, dass, wer auch immer die Frage stellen wird, wie der Attentäter den genau richtigen Moment am richtigen Ort hat finden können, um auf FvF zu schießen, den wahren Adressaten dafür ermitteln wird. Hatten wir doch nach dem erfolgreichen Wahlkampfauftritt offenbar spontan beschlossen, in der nahen kleinen Privatbrauerei, die einer der Fahrer entdeckt hatte, noch zusammen ein Bier zu trinken. Wer hatte das vorgeschlagen? War ich es gewesen? Der Schütze hatte, als ich den letzten Anruf mit dem Prepaid-Handy machte, das ich gleich darauf in den Fluss neben der Stadthalle warf, irgendwo als Passant in der Nähe, jedenfalls in Sichtweite, gestanden. Später war er uns von der Stadthalle aus gefolgt. Hatten die Bodyguards von ihm nichts bemerkt? Ich sah uns entspannt an der Theke, hatten ein Glas Bier gerade mal angetrunken, als der Schatten herantrat und das für alle Ungeheuerliche geschah.
Wieder mit dieser Szene vor Augen, die erst einmal für alle voller Rätsel bleiben wird, die ich approximativ wahrgenommen hatte, bin ich plötzlich auf dem Sofa eingeschlafen, weggesackt wie ein Stein im Wasser.