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Die deskriptive Klassifikation

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Die deskriptive Charakterisierung eines Syndroms ist in der Medizin selbstverständlich und gilt auch für die Psychotherapie und Psychosomatik. Im deutschsprachigen Bereich verwendet die deskriptive Diagnostik psychischer Störungen das internationale Klassifikationssystem ICD ( Kap. 5.3.1). Gegenwärtig gilt die 10. Revision (ICD-10)149, die kontinuierlich weiterentwickelt wird. Die ICD-11 wurde im Juni 2018 veröffentlicht und soll 2022 in Kraft treten150.

In der traditionellen psychoanalytischen Neurosenlehre wurden die deskriptiv-phänomenale und die psychodynamische Ebene der Diagnostik miteinander vermischt. Der Grund war die damals vorherrschende Auffassung, dass hinter einzelnen Krankheitsbildern stets die gleichen psychodynamischen Muster stünden. Man sprach deshalb von Angstneurose, Hysterie usw. und fasste dabei Syndrom und Psychodynamik wie selbstverständlich zusammen. So galt z. B. eine Zwangsneurose grundsätzlich als Folge der Fixierung anal-aggressiver Konflikte. Die Bedeutung des Strukturniveaus war damals noch nicht bekannt, eine Klärung war daher nicht Bestandteil des klinischen Denkens.

Diese Auffassung gilt seit Langem als überholt. Wir wissen, dass Syndrome wie z. B. depressive Störungen vor sehr unterschiedlichen psychodynamischen Hintergründen und auf verschiedenen Strukturniveaus vorkommen, sodass die Phänomenologie zunächst unabhängig von Dynamik und Struktur beschrieben werden muss.

Der Begriff »Neurose « der traditionellen Neurosenlehre wurde international durch »Störung« ersetzt, um theoretische (vor allem psychodynamische) Implikationen zu umgehen. Damit wurde die Orientierung an psychodynamischen ätiologischen Konzepten eingeschränkt und mehr und mehr zu Gunsten biologisch-deskriptiver Konzepte aufgegeben.151 In diesen kommt die individuelle Dimension neurotischer Erkrankungen nicht zum Ausdruck. Der »alte« Neurosebegriff zentrierte auf die traditionelle Konfliktpathologie und ist als solcher mit der Erweiterung des Behandlungsspektrums auf die Entwicklungspathologie nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Unter deskriptiven Gesichtspunkten ist bei den psychogenen Störungen zwischen Störungen psychischer bzw. psychosomatischer Funktionen (sog. Symptomneurosen), Persönlichkeitsstörungen und komorbiden Störungen zu unterscheiden.

• Bei Störungen psychischer bzw. psychosomatischer Funktionen handelt es sich um mehr oder weniger umschriebene klinische Syndrome, die durch ein einziges oder einen Komplex von Symptomen gekennzeichnet sind. Daher spricht man auch von Symptomneurosen, obwohl diese Störungen auch reaktiv oder posttraumatisch sein können. Mit »Symptom« sind dabei Funktionsstörungen im affektiven Bereich (z. B. Ängste), im Handlungsbereich (z. B. Zwänge), im körperlichen Bereich (z. B. Herzrasen) oder im Bereich des Verhaltens (Verhaltensstörungen) gemeint.

– Von psychischen Störungen152 spricht man bei vorherrschend seelischen Beschwerden ( Kap. 9),

– von somatoformen Störungen bei überwiegend körperlicher Symptomatik ( Kap. 10),

– von Verhaltensstörungen, wenn Störungen des Verhaltens im Vordergrund stehen ( Kap. 11).

• Persönlichkeitsstörungen (»Charakterneurosen«) sind durch wenig flexible neurotische Persönlichkeitszüge (z. B. Verletzlichkeit, Misstrauen), Einstellungen (z. B. eine Helferideologie) und Verhaltensmuster (z. B. Beziehungsabbrüche) geprägt, die die Beziehungen, die soziale Lebensbewältigung und den Lebensgenuss beeinträchtigen ( Kap. 8). Sie spielen in der Psychotherapie und Psychosomatik eine immer größere Rolle.

• Komorbide Störungen treten bei Persönlichkeitsstörungen unter besonderen Belastungen auf, die mit zusätzlichen Symptombildungen verbunden sind. Auf diese Weise entstehen vielfältige und einprägsame Krankheitsbilder. Sie kommen durch eine Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen und Symptomneurosen zustande. Für diese Störungen gibt es noch keine einheitliche Bezeichnung.

Psychotherapie und Psychosomatik

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