Читать книгу Eolanee - Michael H. Schenk - Страница 11

Kapitel 9

Оглавление

Wenn sich Paras zum Nordende des Tals von Ayan begab, war er meist von zwiespältigen Gefühlen erfüllt. Der junge Enoderi liebte das Tal und seine Bewohner, doch zugleich verspürte er Neugier auf das, was sich jenseits der unsichtbaren Grenze befinden mochte. Jener Grenze, welche das Gebiet der Enoderi von dem der anderen Menschen trennte. Das Unbekannte reizte ihn und wenn ein paar Angehörige des Volkes den fernen Handelsposten im Norden besucht hatten, lauschte er fasziniert ihren Erzählungen, wenn man am Abend auf dem Versammlungsplatz zusammen saß.

Dann hörte er Schilderungen von fremden Menschen und dem Reich Menteva, und von den seltsamen Gebräuchen, die sie dort pflegten. Er hörte von Pferden und anderen wunderlichen Tieren und fragte sich immer wieder, wie es sein mochte, sie leibhaftig vor sich zu sehen. Aber diese Wissbegier wurde gedämpft, wenn er zugleich von der Gewalttätigkeit der anderen Menschen hörte. Von den Waffen, die sie trugen und die sie bereitwillig benutzten. Nicht nur um Wild zu jagen, sondern auch um sich gegenseitig zu töten. So erfüllte das Land jenseits der Grenze Paras gleichermaßen mit Faszination und mit Schrecken und immer wenn er am Nordende des Tals anlangte, verharrte er und sah zweifelnd nach Norden, dorthin, wo die Straße zum Handelsposten und tiefer in das Reich Menteva hinein führte.

Paras war oft im Norden Ayans. Obwohl sich das Volk seine Arbeiten teilte, hatte jeder seine eigenen Vorlieben und die von Paras war es, nach Norden zu gehen und sich dort um die Bewässerungsgräben zu kümmern. Er liebte diese Gräben mit denen die Felder bewässert wurden. Nicht wegen der Arbeit, die es machte, sie frei zu halten. Nein, es war das Spiel des Wassers, wenn es an den Steinen vorbei strich. Manchmal warf Paras kleine Holzstückchen hinein und sah zu, wie sie mit dem Wasser dahin trieben. Dann dachte er an die Gerüchte, dass es große Holzstücke geben sollte, mit denen sogar Menschen auf dem Wasser fahren konnten. Natürlich waren das nur Legenden, aber Paras liebte solche Geschichten.

Auch an diesem Tag war Paras wieder in den Norden des Tals von Ayan gegangen. Aber er hatte sich nicht an den Bewässerungsgräben aufgehalten, sondern war den Hang hinauf gestiegen. Dort gab es einen Punkt, von dem man eine wundervolle Aussicht über das Tal und die Handelsstraße hatte. Man konnte weit bis nach Norden sehen, wenn auch nicht bis zum Handelsposten. Paras saß gerne hier und hing seinen Träumen nach. Fast so gerne, wie er Holzstücke im Bewässerungsgraben schwimmen ließ.

Wieder einmal glitt sein Blick nach Norden.

Die Handelsstraße war eigentlich nicht mehr als ein gut ausgebauter Pfad. Das Volk der Enoderi nutzte keine Handelswagen, die von Pferden oder Rindern gezogen wurden und die einzigen Reittiere waren die Hornlöwen der Auraträger. Die Menschen des Volkes handelten nur wenig mit den Menschen des Nordens. Es gab dort kaum Güter, die sie ernsthaft interessierten. Meist waren es Gebrauchsgegenstände aus Metall. Messer, Scheren und Nadeln, auch Töpfe oder Pfannen, obwohl die Enoderi solche bevorzugten, die aus Lehm gebrannt werden konnten. Sie tauschten die Waren des Handelspostens gegen Getreide, Feldfrüchte und Pflanzenfasern, welche die Menschen Mentevas benötigten. Doch alles nur in geringen Mengen, so dass ein paar Männer die Lasten bequem auf dem Rücken tragen oder mit einem kleinen Handkarren ziehen konnten. Kein Händler aus Menteva versuchte in die Täler der Enoderi vorzudringen. Es gab zu wenig zu handeln und der Weg war zu beschwerlich, als dass sich die Mühsal gelohnt hätte. So war die Handelsstraße nie mehr als ein breiter Pfad geworden, der stellenweise von den Pflanzen zurückerobert und wieder überwuchert wurde, bis die nächste Gruppe sich auf den Weg zum Handelsposten begab.

Von Paras Aussichtspunkt konnte man ein gutes Stück des Gebirges sehen, welches das Land der Enoderi von dem Mentevas trennte. Eigentlich war es kein wirkliches Gebirge und schon gar nicht mit dem mächtigen Ostgebirge zu vergleichen, welches das Land von Süden nach Norden teilte. Nein, die Nordberge bestanden eher aus einer Abfolge von kleineren und größeren Hügeln, dicht bewachsen mit Bäumen. Die Handelsstraße zog sich wie ein schmaler Faden hindurch und war an einigen Stellen so gut einzusehen, dass man jede Bewegung erkennen konnte. Zumindest, wenn man gute Augen hatte und Paras hatte sehr gute Augen. Meist gab es dort nichts zu sehen. Allenfalls ein paar wilde Tiere, die über den Pfad huschten.

An diesem Tag jedoch huschte weit mehr über den Pfad, als ein paar wilde Tiere.

Paras glaubte zunächst seine Sinne täuschten ihn. Dann schirmte er die Augen gegen das helle Sonnenlicht ab und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er die Bewegung gesehen hatte. Dort verbreiterte sich der Pfad der Handelsstraße zu einer kleinen Lichtung, auf der sich eine Wasserstelle befand. Paras hatte dort immer wieder Tiere beobachten können, welche die Tränke nutzten. Die Lichtung war recht weit entfernt, aber Paras gute Augen ermöglichten es ihm zu erkennen, was dort vor sich ging.

Jegliche Neugier auf ferne Länder erlosch schlagartig.

Dort bewegten sich Männer.

Sehr viele Männer.

Sie alle waren dunkel gekleidet und ihre Herkunft war schwer zu bestimmen. Was Paras jedoch unzweifelhaft erkannte, das waren die sechsbeinigen Kreaturen, die sich dort, tief im Schatten, zwischen den Bäumen bewegten. Paras hatte solche Wesen schon tot gesehen, nachdem ein Rudel von ihnen Ayan überfallen hatte. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Schattenwölfe handelte.

Bewaffnete Männer und Schattenwölfe hatten nichts Gutes zu bedeuten. Paras war sich sicher, dass die Auraträger hiervon erfahren mussten und so verließ er seinen Aussichtspunkt und rannte nach Ayan, so schnell er nur laufen konnte.

Seine Worte riefen mehr als nur Unruhe hervor.

Der Älteste, Osenas, verbot den Bewohnern Ayans, sich von den Bäumen zu entfernen und schickte nach Ayanteal, damit weitere Auraträger ins Tal kamen.

Noch am selben Abend trat der Rat der Auraträger zusammen.

Die Männer waren hastig benachrichtigt worden und konnten sich erst zu später Stunde versammeln. Acht von ihnen waren sofort nach Ayan geritten, so dass die dortige Gemeinschaft nun unter dem Schutz von zehn Auraträgern stand. Die Übrigen mussten ausreichen, um die notwendige Beratung durchzuführen. So waren es sechsundzwanzig Männer, die auf dem hufeisenförmigen Rund der steinernen Bank Platz nahmen. Unter ihnen befand sich auch Bergos.

Merius Ma´ara´than hatte den jungen Paras herein gerufen und so schilderte dieser den Auraträgern mit eigenen Worten, was er gesehen hatte. Keine Zwischenfrage unterbrach seine Schilderung und nachdem Paras endete, herrschte bedrücktes Schweigen.

„Wie viele Schattenwölfe hast du gesehen, Paras?“, fragte einer der Männer schließlich. „Und bist du dir sicher, dass es diese Kreaturen waren?“

„Ich sah ihre Kadaver in Ayan. Ja, es waren Schattenwölfe. Zwei oder Drei. Nein, Drei. Ich sah sie nur kurz, da sie die Lichtung überquerten und schnell im Wald verschwanden.“

Der Fragesteller nickte. „Sie sollen das Licht scheuen. Es waren sicherlich mehr.“

„Hat noch jemand Fragen an Paras?“ Der weißhaarige Merius nickte dem jungen Enoderi zu. „Ich danke dir für deinen Bericht. Wir werden nun darüber beraten und du kannst dich erfrischen gehen. Du hast heute keine Rast gefunden und nun ist es an uns, erst zu ruhen, wenn wir über die nächsten Schritte entschieden haben.“

Paras zupfte verlegen an seiner Toga und wandte sich schließlich zum gehen. Merius wartete, bis er die Ratshalle verlassen hatte. Die vor der Halle wartende Menge nahm Paras schweigend in sich auf. Die Sorge der Menschen war zu spüren und die gleiche Sorge erfüllte auch die Auraträger.

„Ihr habt die Worte von Paras gehört“, meldete sich Rolos zu Wort. „Es müssen Berengar sein. Jene Bestien, die einst Ayan überfielen. Die Beschreibung der kupfernen Haut und dunklen Kleidung lässt keinen Zweifel.“

Merius nickte. „Was mir weit mehr Sorgen bereitet, sind die Schattenwölfe. Erneut stoßen sie nach Süden vor, diesmal im Bund mit den Berengar. Eine Bestie vereint mit der anderen. Das bereitet mir große Sorgen, Träger der Aura.“

Rolos meldete sich zu Wort. „Mit einer Gruppe Berengar werden wir fertig. Wir wissen, dass sie auf die Aura reagieren. Und die Schattenwölfe tun dies ebenso. Wenn wir wachsam sind, haben wir nicht viel zu befürchten.“

„Ich fürchte, das stimmt nicht.“ Nador Ma´ara seufzte schwer. „Ich war in Ayan, als das Rudel die Siedlung angriff. Sie reagierten auf die Aura, das ist wahr. Aber sehr viel schwächer, als ich dies erwartet hätte.“ Er erhob sich und sah die Versammelten eindringlich an. „Normalerweise können wir ein Lebewesen auf große Entfernung beeinflussen. Die Ausstrahlung der Aura wirkt über weite Distanz. Bei den Schattenwölfen war das anders. Wir mussten sie ansehen und alle Kraft auf sie konzentrieren.“ Er seufzte abermals. „Offen gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob sie wegen unserer Aura flohen oder weil die Bäume einige von ihnen ergriffen.“

„Wir sollten die Weise Prophetin fragen, was das gemeinsame Erscheinen der Berengar und der Schattenwölfe zu bedeuten hat.“ Bergos Ma´ara sprach mit leiser Stimme. Seit er die Führerschaft verloren hatte und ihm der Kontakt zu Eolanee verboten war, hatte er sich zunehmend zurückgezogen. Er suchte nur noch selten die Gesellschaft der anderen und wirkte schwermütig.

„Was soll es schon bedeuten?“ Es war die Stimme Kender Ma´aras, der Bergos spöttisch ansah. „Es bedeutet Gefahr. Also werden wir unsere Präsenz in Ayan verstärken und den Feind abhalten. So, wie wir es immer getan haben um das Volk zu schützen.“

„Verdammter Narr.“ Bergos Stimme war nun kraftvoll. „Hast du vergessen, dass es nur wenige Jahre zurückliegt, dass viele Menschen in Ayan starben? Zudem solltest du nicht vergessen, dass unsere Kräfte nicht unerschöpflich sind.“

„Das ist wahr.“ Merius Ma´ara´than strich sich eine Strähne seiner schlohweißen Haare aus dem Gesicht. „Unsere Kraft ist nicht unerschöpflich. Wir müssen uns konzentrieren und wir werden müde. Irgendwann brauchen wir Schlaf.“

„Wir können uns abwechseln“, erwiderte Kender.

„Wenn uns viele Berengar und Schattenwölfe bedrohen, brauchen wir viele Auraträger um ihnen zu begegnen.“ Rolos blickte auf den Stein mit den Namen aller Auraträger, die dem Volk gedient hatten. „Dann fehlen uns die Reserven, um einander abzulösen.“

„Ich wiederhole, wir sollten die Weise Prophetin befragen.“ Bergos erhob sich, um seiner Stimme mehr Gewicht zu geben. „Die Situation erfordert es.“

„Ich stimme dem zu“, sagte Rolos leise. „Das Erscheinen der Berengar und der Schattenwölfe bedeutet Gefahr für unser Volk.“

„Dem stimme ich zu.“ Merius deutete zur Tür. „Gehen wir zur Prophetin.“

Es gab nicht einmal eine formelle Abstimmung. Die Männer schlossen sich Merius an und die Menge draußen machte bereitwillig Platz. Als die Auraträger den Weg zum Tempel der Prophetin nahmen, folgte sie. Erregtes Flüstern erhob sich, als die Prozession der Auraträger den mit Steinplatten ausgelegten Weg den Hügel hinauf nahm.

„Wer begehrt Einlass?“, ertönte die wesenlose Stimme. Keiner hatte jemals klären können, ob es die transferierte Stimme der Prophetin war oder ob der Tempel selbst diese Frage stellte.

Die Gruppe blieb vor dem weißen Kegel mit den tiefgrünen Blättern und bunten Blüten stehen. „Die Auraträger suchen den Rat der Weisen Prophetin“, erwiderte Merius.

„Dann tretet ein und fügt euch dem Willen der Göttin.“

Die geschlossene Wand, vor welcher der Weg endete, öffnete sich vor den Männern und sie traten in den Kuppelraum des Tempels. Die namenlose Prophetin stand in ihrer schlichten roten Robe vor dem Altar und hatte das Gesicht der Gruppe zugewandt. „Tretet ein, ihr Träger der Aura. Teilt eure Gedanken mit mir und hört, was die Prophezeiung euch zu sagen hat.“

Merius schilderte ohne Ausschmückung, was Paras im Norden von Ayan beobachtet hatte. Die Prophetin hörte mit unbewegtem Gesicht zu und als Merius geendet hatte, schwieg sie einen Moment. „Die Legende erfüllt sich“, sagte sie übergangslos und mit kaum hörbarer Stimme. Dann nickte sie und wandte sich dem Altar zu. „So sollt ihr nun erfahren, was die Prophezeiung euch enthüllt.“

Alle starrten gebannt auf die Weise Prophetin und den weißen Kegel des Altars. Die ewige Flamme der Göttin gleißte in blendendem Licht und nun, als die Prophetin ihre Arme ausstreckte, begannen sich rötliche Schlieren zu zeigen.

„Flamme der Weissagung, deine Dienerin bittet um deine Kraft. Fremde Wesen sind an den Grenzen des Volkes erschienen und der Kreislauf des Lebens scheint bedroht. Zeige uns den Weg, den dein Volk beschreiten soll.“

Die Flamme wurde Grün und dehnte sich weiter aus. Nebel wallte um die Handflächen der Prophetin, formte sich zu einem Ring, der um die ewige Flamme zu rotieren begann.

„Der Kreislauf des Lebens ist bedroht“, sagte die Prophetin mit tonloser Stimme. „Die Einheit der drei Steine und der Säule des Lichtes muss hergestellt werden. Nur so wird der Kreislauf bestehen.“

Nebel und Wallen wichen dem gleichmäßigen Gleißen der ewigen Flamme. Die Prophetin erwachte aus ihrer Starre und ließ die Arme sinken. „Dies sind die Worte der Prophezeiung. Die Worte der Weisheit und der Flamme des Lebens.“

Merius Ma´ara´than verneigte sich und die anderen folgten seinem Beispiel. „Wir danken dir, Prophetin und werden über deine Worte beraten.“

Zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten flüsterten die Auraträger erregt miteinander, während sie zur Ratshalle zurück gingen und darüber rätselten, was die Prophezeiung zu bedeuten hatte. Als sie wieder im Rund der Halle saßen, hob Merius die Arme. „Ihr habt die Prophezeiung gehört. Nun müssen wir übereinkommen, was sie zu bedeuten hat. Sie sprach von drei Steinen und der Säule des Lichtes. Ich glaube mich an eine sehr alte Legende erinnern zu können, in der von drei Steinen die Rede ist. Aber ich kann mich nicht genau entsinnen.“

„Ich hörte von dieser Legende“, meldete sich Bergos Ma´ara zu Wort. „Die Führerin der Baumhüterinnen kennt sie. Neredia erwähnte das einmal.“

„Dann sollten wir ihren Rat suchen“, bestimmte Merius.

„Eine Baumhüterin im Kreis des Rates der Auraträger?“ Kender schüttelte den Kopf. „Das ist gegen jeden Brauch.“

Bergos lächelte sanft. „Es ist auch gegen jeden Brauch, dass wir von Berengar und Schattenwölfen bedroht sind.“

Merius nickte und hob beschwichtigend die Hände. „Die oberste Baumhüterin, die Ma´ededat´than, wird in unseren Kreis gerufen werden.“

Sie warteten, bis Neredia Ma´ededat´than die Versammlung erreicht hatte. Sie warf Bergos einen raschen und wehmütig wirkenden Blick zu, bevor sie auf die Frage von Merius antwortete.

„Es ist eine sehr alte Legende, ihr Träger der Aura. Sie stammt aus lange vergangener Zeit.“ Neredia konzentrierte sich und versuchte sich zu erinnern. „Einst beherrschte die Göttin den Himmel und sah wohlwollend auf ihre Kinder herab. Sie hatte deren Drei. Drei Völker der Menschen. Jedem ihrer Völker schenkte sie einen blauen Stein von besonderer magischer Kraft. Wenn ihre Kinder einst in große Not gerieten, so sollten diese Steine zur Säule des Lichtes gebracht und dort vereint werden. Dann werde die Göttin vom Himmel herab steigen und ihren Kindern beistehen.“ Neredia nickte nachdenklich. „Das besagt die Legende.“

„Ich habe noch nie davon gehört“, brummte Rolos. „Und ich kenne keine blauen Steine oder eine Säule des Lichtes.“

„Es gibt sie“, versicherte Neredia. „Zumindest die blauen Steine gibt es, denn einen von ihnen kenne ich. Oder wenigstens, wo er sich befindet.“ Sie sah die überraschten Blicke der Auraträger und nickte. „In einem Tal, weit im Norden, steht ein besonderer Kegelbaum. Nur die jeweilige Ma´ededat´than kennt seinen Standort. Er wird von ihr an die Nachfolgerin weitergegeben und ist ein gut gehütetes Geheimnis.“

„Warum ist er ein Geheimnis?“ Merius runzelte die Stirn. „Die Träger der Aura sind die Beschützer des Volkes. Wenn der Baum und dieser Stein zu seinem Schutz beitragen können, so müssen die Auraträger das wissen.“

„Kein gewöhnlicher Enoderi darf diesen Kegelbaum berührten.“ Neredia biss sich auf die Unterlippe, denn sie war sich der Bedeutung der folgenden Worte bewusst. „Der Baum hütet den blauen Stein der Göttin und er fügt sich nur dem, der Aura und Baumgabe in sich vereinigt.“

„Der Aura und Baumgabe in sich vereint?“ Ensar Ma´ara lachte auf. „Einen solchen Mann gibt es nicht.“

„Einst hat es sie gegeben“, sagte Neredia leise. „Die Legende besagt es.“

„Schön, selbst wenn das einst der Fall gewesen ist, so nützt uns das heute wohl nur wenig.“

Bergos räusperte sich. „Dennoch gibt es ein Wesen unter uns, welches die Gabe der Aura und die Gabe des Hütens gleichermaßen in sich trägt. Eolanee Ma´ededat.“

„So ein Unsinn.“ Kender sprang erregt auf. „Niemand vereint die Gabe. Und kein weibliches Wesen verfügt über die Fähigkeit der Aura.“

„Wir sprachen schon darüber“, wandte Rolos ein. „Und ich denke, Nador ist anderer Meinung. Nicht wahr, Nador?“

Nador Ma´ara errötete verlegen. Nervös strich er über sein Kinn und nickte zögernd. „Ich sah, wie die Schattenwölfe Ayan angriffen. Und ich sah, wie Eolanee den Wölfen widerstand. Wenigstens einen von ihnen bezwang sie mit der Aura.“

„Niemals!“ Kender stampfte mit einem Fuß auf. „Sie verfügt nicht über die Gabe.“

„Ich habe gesehen, was ich gesehen habe“, entgegnete Nador erregt. „Ich kann es bezeugen und mein Begleiter kann dies ebenfalls. Wenigstens ein Schattenwolf wich vor ihrer Aura, noch bevor wir Auraträger heran wahren.“

Bergos nickte zufrieden. „Sie hat die Gabe. Eolanee verfügt über beide Gaben.“

Nador nickte. „Davon bin ich überzeugt.“

„Selbst wenn sie darüber verfügt“, stieß Kender heiser hervor, „dann bedenkt die Prophezeiung, die wir einst hörten. Von einer Aura, die Leben gibt und Leben nimmt. Dann kann diese Weissagung nur für Eolanee gelten und dann hat sie die Gabe zu töten. Sie wird töten! Das dürfen wir nicht zulassen. Wir sind die Hüter des…“

„…die Hüter des Volkes“, donnerte Bergos. „Und unsere Aufgabe ist es, das Volk zu schützen! Du sprichst von der Weissagung der Prophetin? Na schön, Kender Ma´ara, dann bedenke die Worte, die sie heute zu uns sprach. Die drei blauen Steine müssen in der Säule des Lichtes vereint werden! Wenn die Ma´ededat´than sagt, dass nur Eolanee den Stein aus dem Baum holen kann, dann ist es so. Willst du ihr Wort oder das von Nador bezweifeln? Willst du dich den Worten der Prophezeiung verweigern?“

Kender errötete und sah sich um. „Ihr seid Narren, wenn ihr euch einem Weib anvertraut.“

Rolos seufzte unbehaglich. „Auch wenn Eolanee in der Lage sein sollte, den Stein zu holen, so bringt uns das nicht weiter. Wir kennen die Säule des Lichtes nicht und es müssen DREI Steine sein, die dort vereint werden. Die oberste Baumhüterin kennt jedoch nur den Ort des Einen.“

„Dem stimme ich zu“, knurrte Kender. „Es macht keinen Sinn, Eolanee auszuschicken.“

„Ich glaube, dass du eine heftige Abneigung gegen Eolanee hast“, brüllte Bergos auf. „Ich weiß nicht, warum das so ist, aber seit Jahren versuchst du schon, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Was treibt dich dazu? Verfluchter Kerl, hast du Angst vor ihr?“

Für einen Moment schien es, als wollten Bergos und Kender sich aufeinander stürzen, aber andere Männer erhoben sich und traten zwischen sie.

Nador sah Kender forschend an. „Vielleicht fürchtet er sie wirklich. Wenn Eolanee über beide Gaben verfügt, wird sie zu einer großen Macht.“ Er lächelte hintergründig. „Vielleicht wird sie eines Tages die Auraträger führen und nicht Kender, der doch sehr danach zu streben scheint.“

„Ruhe, Träger der Aura.“ Merius schüttelte erbost den Kopf. „Euer Verhalten ist dem eines Auraträgers nicht würdig. Beruhigt euch, ihr Männer. Wir haben zu beraten, wie wir unser Volk beschützen können und die Prophezeiung ist eindeutig. Die drei blauen Steine müssen in der Säule des Lichtes vereint werden. Wagt es einer von euch, die Prophezeiung anzuzweifeln? Schön, dann sollten wir nun darüber beraten, wie das zu bewerkstelligen ist.“

Bergos und Kender starrten sich wütend an, aber dann setzten sie sich wieder. Merius zupfte an seiner Toga und sah Neredia an, die betroffen neben ihm stand. „Weißt du etwas über den Verbleib der anderen beiden Steine und wo sich die Säule des Lichtes befindet?“

„Drei Kinder gebar die Göttin“, sagte die Führerin der Baumhüterinnen nachdenklich. „Drei Völker. Die Enoderi, die Mentever und ein weiteres Volk, das hoch im Norden leben soll. Dort, so sagt die Legende, befindet sich auch die Säule des Lichtes. Sie soll sehr weit entfernt sein. Die Legende besagt, sie erhebe sich an der Grenze des Eises.“

„Das ist wirklich weit“, murmelte Rolos. „Auch auf dem schnellsten Hornlöwen bräuchte man viele Wochen, um die Grenzen des Eises zu erreichen.“

„Selbst wenn Eolanee in den Besitz unseres blauen Steins gelangt, so müssten auch die beiden anderen Völker ihre Steine zur Säule des Lichtes bringen. Davon abgesehen, ist der Weg nach Norden sehr gefährlich. Eolanee würde durch das Land der Mentever reisen und noch weiter nach Norden gehen. Unterwegs lauern viele Gefahren. Gefährliche Räuber. Solche mit vier Beinen und solche mit zwei Beinen.“

„Und zuvor lauern schon jene mit sechs Beinen“, warf Bergos ein. „Vergesst nicht, dass sich Berengar und Schattenwölfe zwischen uns und dem Reich Menteva befinden. Ich denke nicht, dass sie Eolanee einfach passieren lassen würden.“

„Es gibt Pfade durch die Wälder, welche die Berengar nicht kennen“, meinte Neredia. „Zumindest glaube ich, dass sie nicht jeden Weg erkundet haben.“ Sie seufzte. „Wir müssen es wenigstens versuchen.“

Merius wies zur offen stehenden Tür der Ratshalle. „Die Prophezeiung lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die Kräfte der Auraträger nicht ausreichen werden, der Bedrohung durch die Berengar und die Schattenwölfe zu begegnen. Also, müssen wir versuchen die Prophezeiung zu erfüllen.“ Er leckte sich über die Lippen und zuckte dann die Schultern. „Eolanee scheint über beide Gaben zu verfügen. Ich weiß nicht, wie weit ihre Fähigkeit der Aura ausgebildet ist und es bleibt auch keine Zeit, diese zu vervollkommnen. Wir müssen nehmen, was uns zur Verfügung steht. Ich bin dafür, dass Eolanee nach Norden geht, den blauen Stein holt und ihn zur Säule des Lichtes bringt.“

„Aber nicht alleine.“ Bergos erhob sich. „Der Weg ist zu gefährlich. Jemand muss ihr beistehen und sie schützen.“

„Ah, sie schützen? Willst du ein Schwert nehmen und dich für sie schlagen? Dürstet es dich nach Blut?“, fragte Kender ironisch.

Auch wenn Bergos nicht mehr der Jüngste war, sein Sprung war eines jungen Mannes würdig. Kender wurde nach hinten geworfen und beide Männer begannen miteinander zu ringen, bis andere sie auseinander rissen.

Merius war, wie auch die anderen, entsetzt. „Ihr Wahnsinnigen! Wenn das Volk nicht bedroht wäre, würde ich euch beide des Kreises verweisen. Wie könnt ihr es wagen, Gewalt auszuüben? Vor allem du, Bergos, der bereits gewarnt wurde!“

„Kender hat ihn zutiefst beleidigt“, warf Rolos ein. „Eine solche Beleidigung hat es nie zuvor gegeben.“

„Dem stimme ich zu“, rief Nador.

Kender zupfte seine Toga glatt und schob den verrutschten Stirnreif des Auraträgers gerade. „Schön, wenn Bergos sich so sehr um Eolanee sorgt, dann soll er sie begleiten.“ Er lächelte, aber an seinem Lächeln war keine Freundlichkeit. „Er hat Recht. Der Weg ist gefährlich.“ Er wandte sich mit einer entschuldigenden Geste zu Bergos. „Ich wollte dich nicht beleidigen, Bergos Ma´ara. Nimmst du meine Entschuldigung an?“

Der alte Auraträger atmete mehrmals tief durch, bevor er zögernd nickte. „Ich nehme deine Entschuldigung an.“

„Schön“, sagte Merius hastig, „nachdem das nun geklärt ist, lasst uns entschließen, Bergos und Eolanee damit zu beauftragen, den blauen Stein zur Säule des Lichts zu bringen.“

„Bevor ich dem zustimme“, meldete sich Kender abermals zu Wort, „sollten wir noch etwas anderes bedenken. Wir wissen, dass Bergos ein guter Auraträger ist, doch wir kennen Eolanees Stärke nicht. Es könnte sein, dass sie in große Gefahr geraten, aus der sie sich nicht befreien können.“ Kender sah die anderen an. „Wir brauchen die übrigen Auraträger jedoch hier, um einen Angriff der Bestien zu begegnen.“

„Was schlägst du also vor?“

Kender schürzte nachdenklich die Lippen. „Ich war einige Male im Handelsposten. Dort gibt es Männer, die ihre Dienste für Gold anbieten.“

„Diener?“

„Söldner.“

Merius sah den jüngeren Auraträger schockiert an. „Du meinst Mörder, die sich kaufen lassen?“

„Ich meine Kämpfer, die ihre Waffen mieten lassen.“ Kender machte eine beschwörende Geste. „Wir wissen nicht, welche Gefahren auf Eolanee und Bergos warten. Aber wir können uns ein Scheitern nicht erlauben. Auch wenn mir Gewalt zutiefst zuwider ist, könnte es sehr hilfreich sein, wenn die beiden von ein paar Männern begleitet werden, die notfalls nicht vor ihrer Anwendung zurückschrecken.“

„Dem stimme ich zu“, sagte Rolos leise. „Auch wenn es mir nicht gefällt, aber ich stimme dem zu.“

Ein anderer nickte zögernd, dann gaben weitere Auraträger ihre Zustimmung. Bergos sah Kender lange forschend an, bevor er sich anschloss.

Kender lächelte unmerklich. „Ich kenne einige der geeigneten Männer. Ich werde Bergos und Eolanee ein Schreiben mitgeben. Das wird es leichter machen, dass sich ihnen die Söldner anschließen.“

„Gut, setze das Schreiben auf“, bestimmte Merius. „Gold haben wir genug. Zwar nicht als Münzen, da wir nichts damit anfangen könnten, aber wir haben viel Schmuck.“

„Den werden die Söldner nehmen“, versicherte Kender. „Die Form ist nicht so wichtig, Hauptsache, es ist Gold.“

„Schön.“ Merius sah Bergos und Neredia an. „Dann lasst Eolanee rufen. In der Zwischenzeit wollen wir festlegen, was sie und Bergos mit sich führen sollen, damit sie für die Reise vorbereitet sind. Es wird ein langer Weg und sie können nur mit sich führen, was sie selber tragen können. Und du, Neredia, wirst uns in der Zwischenzeit nochmals von der Legende berichten. Jede Kleinigkeit, die dir in Erinnerung ist.“

Eolanee

Подняться наверх