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Kapitel 2
ОглавлениеDas Land der Enoderi wurde von Wäldern beherrscht. Obwohl es weite Ebenen gab, waren es doch die ausgedehnten Waldgebiete, die das Bild der Landschaft bestimmten. Im Norden, in unmittelbarer Nähe zu Ayan, lag jenes Gebirge, welches die Enoderi vom Reich Menteva trennte und eine natürliche Grenze bildete. Im Osten erhob sich das Mittelgebirge, hinter dem das geheimnisvolle Volk der Berengar lebte und auch der Süden wurde von Bergen geschützt. Im Westen lag das große Meer, das nur wenige Enoderi zu Gesicht bekamen. Keinen von ihnen zog es an die Küste. Die unendlich erscheinende Weite des Meeres erschreckte sie in ihrer Grenzenlosigkeit. Sie liebten den Anblick lebendigen Grüns und den Schutz ihrer heimischen Wälder. Niemanden zog es in unbekannte Ferne, denn das Land der Enoderi war groß und bot allen Lebewesen genügend Raum.
Ayanteal war die größte Siedlung des Waldvolkes und lag nur zwei Täler von Ayan entfernt. Es war das Zentrum der Kultur und der Macht der friedlichen Waldmenschen. Hier lebte die Prophetin, eine Frau von großer Weisheit und magischen Kräften. Hier versammelte sich der Rat der Auraträger, um über die Geschicke der Enoderi zu beraten und ihr Schicksal zu bestimmen, soweit es nicht in der Hand der Göttin lag. Hier erhoben sich die Ratshalle der Auraträger und der Tempel der Weisen Prophetin.
Zwei Tage waren seit dem Massaker in Ayan vergangen und Bergos Ma´ara´than hatte den Rat der Auraträger einberufen. So waren die sechsunddreißig Männer zusammengekommen und hatten sich zur Halle begeben die nur von ihnen, den Baumhüterinnen und der Prophetin betreten werden durfte.
Im Gegensatz zu den Wohnbereichen, welche die Fähigkeiten der Pflanzen einbezogen, auf die Wünsche ihrer Bewohner zu reagieren, war die Halle des Rates aus gebranntem Lehm errichtet. Ein Boden aus massiven Steinplatten verhinderte die Verbindung der hölzernen Möbel mit dem Wurzelwerk des Waldes. Auraträger und Baumhüterinnen waren empfänglich für die feinen Ausstrahlungen des Lebens und die unmerklichen Impulse der Pflanzen sollten die Konzentration des Rates nicht beeinflussen. Die Hüterinnen der Bäume betraten diese Halle daher nur, wenn es unbedingt erforderlich war, denn die Anwesenheit toten Holzes beunruhigte sie, auch wenn sie sich dies nie anmerken ließen.
Die Halle wurde von den einzigen metallenen Türen verschlossen, die es im Reich der Enoderi gab. Zwei wundervolle Schmiedearbeiten in die zwei blaue Steine eingearbeitet waren. Zwar bestanden sie nicht aus dem kostbaren Kristall, von dem der Stirnreif eines Auraträgers geschmückt wurde, aber sie genügten als Symbol dessen, wofür die Halle stand. Feine Ziselierungen zeigten Szenen aus dem Leben des Volkes. Es gab keinen Riegel der den Zutritt verwehrt hätte. Der Respekt vor den Auraträgern reichte aus, dass niemand den Raum ohne ihren Willen betrat.
Bergos, als dem Führer der Auraträger, war es vorbehalten die Tür zu öffnen.
Während die beiden Flügel leise knarrend aufschwangen, fiel Licht in den Raum und riss die Konturen seiner Einrichtung aus dem Dunkel, welches ihn sonst einhüllte. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen über der steinernen Bank, die als hufeisenförmiger Ring im Raum stand. In der Mitte erhob sich die Feuerstelle, die nicht nur der Wärme im Winter diente, sondern auch den traditionellen Zeremonien der Auraträger. Mit leisem Hallen schlugen die Türflügel in ihre Bettungen. Sie würden nun offen bleiben. Auch wenn der Rat alleine tagte, so war es jedem Enoderi gestattet, der Beratung von draußen zuzuhören.
Was es heute zu beschließen galt war von besonderer Tragweite für die Menschen der Enoderi. Die Versammlung der Auraträger würde sich daher nicht damit begnügen, sich untereinander zu beraten, sondern die Hilfe der Weisen Prophetin in Anspruch nehmen. Man würde sie in ihrem Tempel aufsuchen, der auf besondere Weise geweiht war.
Bergos machte eine leichte, ausholende Bewegung mit der Hand. Von den Wänden begann sich ein sanfter Schimmer auszubreiten. Erst in einem wogenden Blau, dann im sanften Goldgelb der Sonne.
Die sorgfältig bemalten Wände wurden nun sichtbar und ein großer schwarzer Stein, auf dem sich die Namen der Auraträger in zartem Blau abhoben. Jeder Auraträger, von Anbeginn an, war hier verzeichnet. Eine lange Liste von Namen und mit jedem neuen Träger wuchs der Stein ein wenig weiter aus dem Boden. Auf ihm würden noch viele Namen ihren Platz finden, bevor er die Decke berührte und man die Halle vergrößern musste. Die Decke war in einem glasiert wirkenden Blau gehalten und zeigte ein getreues Abbild des Sternenhimmels. Ihre gewölbte Form ruhte ohne stützende Säulen auf den tragenden Wänden des Rundbaus.
Bergos zog fröstelnd die Schultern zusammen. Nach der Hitze des Tages empfand er die Kühle des abgeschirmten Raumes als unangenehm, aber bald wurde die Wärme von außen eindringen. Er schritt zu der Rundbank und die anderen folgten ihm schweigend. Als sie alle Platz genommen hatten, ergriff Bergos behutsam seinen Stirnreif, hob ihn über den Kopf an und wartete, bis die anderen es ihm gleich getan hatten.
„Ein Gleicher unter Gleichen“, sagte er feierlich. „Die Aura ist Eins, so wie wir Eins sind. Möge ihre Kraft uns leiten und dem Wohl des Volkes dienen.“
Die anderen wiederholten die rituelle Formel. Von den empor gehaltenen blauen Steinen breitete sich ein blaues Wallen aus, verdichtete sich in der Mitte zwischen den Auraträgern und wurde zu einem Gleißen, vor dem die Männer geblendet die Augen schlossen. Dann erlosch jeder Glanz und die Männer setzten die Stirnreifen wieder auf.
„Ein furchtbares Schicksal hat uns getroffen“, eröffnete Bergos und sah die anderen Männer der Reihe nach an. „Die Gemeinschaft von Ayan wurde nahezu ausgelöscht. Überfallen von mordgierigen Barbaren, die viele der unseren entführt haben. Sie sehen nun einem ungewissen Schicksal entgegen. Unsere Herzen sind von Trauer erfüllt.“
Die anderen nickten und Kender Ma´ara erwiderte Bergos Blick grimmig. „Von Trauer und von Zorn erfüllt.“
„Wut ist ein schlechter Ratgeber“, ermahnte Bergos. „Wut verführt zu unüberlegtem Handeln und sie verführt zu Gewalt. Die Enoderi sind ein Volk des Friedens, Brüder der Aura.“
Kender räusperte sich. „Kann ich frei sprechen?“
„Jeder Enoderi darf frei sprechen“, stimmte Bergos zu, „und das gilt besonders für ein Mitglied des Rates, der über die Zukunft des Volkes entscheidet.“
„Unsere Jäger haben die Spur der Mörder bis zur Grenze verfolgt. Sie haben unser Land verlassen, aber niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob sie nicht eines Tages zurückkehren werden.“
„Ich habe mit der verletzten Baumhüterin gesprochen, die nun wieder bei Sinnen ist“, meldete sich ein anderer zu Wort. „Es waren Krieger mit kupferfarbener Haut.“
„Berengar“, sagte Bergos mit tonloser Stimme. Einige der Männer sahen ihn ratlos an und der Führer der Auraträger zuckte die Schultern. „Krieger aus einem fernen Land im Osten. Es heißt sie seien keine Menschen, obwohl sie so aussehen. Ich hörte im Handelsposten an der Grenze zu Menteva von ihnen. Scheinbar fallen diese Barbaren öfter in die Gebiete des Reiches Menteva ein.“
„Jetzt fielen sie bei uns ein.“
„Aber was ist der Grund?“ Ein hagerer Mann blickte nachdenklich auf den Stein mit den vielen Namen. „Nie zuvor ist das geschehen. Eine ganze Gemeinschaft, einfach ausgelöscht. Diese Bemenkar…“
„Berengar“, korrigierte Bergos leise.
„Schön, also diese Berengar… Sie müssen ein Stück durch das Gebiet der Mentever bevor sie unser Land betreten, nicht wahr? Warum gehen sie so ein Risiko ein? Sie nahmen nichts mit, außer Frauen und Kindern, und die finden sie auch in den Dörfern Mentevas.“
„Es war eine sinnlose Bluttat“, stimmte ein Auraträger grimmig zu. „Welcher Sinn kann schon dahinter stehen, einem anderen Wesen das Leben zu nehmen? Nichts als der nackte Wahnsinn.“
„Es muss einen Sinn haben“, erwiderte Bergos. „Nichts geschieht im Kreislauf des Lebens, ohne dass es einen tieferen Sinn hat. Er ist uns nur verborgen.“
„Dann sollten wir die Prophetin fragen.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich und Bergos nickte. „Das sehe ich ebenso. Ich habe sie bereits darauf vorbereitet, das wir ihren Rat benötigen.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“ Kender erhob sich. „Dieses Gemetzel in Ayan bereitet mir großes Unbehagen. Ich fürchte diese Bestien werden eines Tages zurückkehren und wir müssen uns darauf vorbereiten.“
Einer der anderen Männer räusperte sich. „Was ist mit Ayan? Lebt es wieder?“
„Natürlich.“ Bergos erhob sich nun ebenfalls. „Wir können die Kegelbäume nicht alleine lassen. So, wie wir sie als Heimstatt benötigen, brauchen die Bäume unseren Beistand gegen die Käfer. Einige Familien sind schon nach Ayan umgesiedelt und andere werden bald folgen. Ich, äh, haben ihnen zugesichert, dass immer zwei von uns Auraträgern in der Nähe sein werden.“
„Dem stimme ich zu“, sagte Kender. „Und nun sollten wir zur Prophetin gehen.“
Bergos runzelte die Stirn und sah Kender mahnend an, als der zum Ausgang eilen wollte. Errötend hielt sich der jüngere Mann zurück und ließ Bergos den ihm zustehenden Vortritt.
Vor der Ratshalle hatte sich eine schweigende Menge versammelt. Der Respekt vor den Auraträgern verhinderte, dass man ihnen Fragen zurief, deren Antworten die Männer ohnehin noch nicht kannten. Als die Menge sah, wohin sich die Ratsmitglieder begaben, folgte sie ihnen in einigem Abstand. Der Weg zum Tempel war nicht weit. Die beiden Bauten lagen einige hundert Meter außerhalb des Waldes von Ayanteal, umgeben von Gras und Blumen. Insekten erhoben sich von den Blüten, aufgeschreckt von den Schritten der vielen Menschen. Schließlich erreichten die Enoderi den Ort, an dem die Weise Prophetin lebte und wirkte.
Der Tempel war auf einem sanft ansteigenden Hügel erbaut worden. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg führte zu dem Gebäude, das in seiner Form an einen Kegelbaum erinnerte. Es war allerdings ungleich kleiner und bestand aus weißem Holz, von dem sich die tiefgrünen Blätter deutlich abhoben. Es war lebendes Holz und somit ein lebendes Gebäude. Nirgends sonst hatte man eine Pflanze gefunden, die aus weißem Holz wuchs. Die Blüten wiesen auch nicht die übliche ovale Form auf, sondern waren dreieckig und ihre stumpfen Enden wiesen nach außen. Es gab auch nicht die Fangwurzeln eines Kegelbaums und obwohl der Tempel der Prophetin lebte, gab es keine Baumhüterin, die ihn beeinflussen konnte. Er fügte sich nur dem Willen der Weisen Frau, so wie sich die Enoderi ihren Prophezeiungen fügten.
Die Platten des Steinweges waren nicht in Stufen verlegt. Einem gleichmäßigen weißen Band gleich, stieg er sanft zum Tempel empor. Selbst wenn im Winter Schnee und Eis das Land bedeckten, blieb dieser Weg immer frei. Bergos hatte sich einmal in einem, wie er hoffte, unbeobachtetem Augenblick gebückt und die Platten betastet. Sie waren warm gewesen. Wie ein lebendes Wesen, dabei bestanden sie aus totem Material. Kein Enoderi konnte toten Stein beherrschen, aber die Prophetin schien über diese Gabe zu verfügen.
„Wer begehrt Einlass?“
Es war eine wesenlose Stimme, die in ihren Köpfen zu schwingen schien.
Bergos hatte den Eingang des Tempels noch nicht ganz erreicht und nun verharrte er. „Der Rat der Auraträger sucht die Prophezeiung der Weisen Frau.“
„Dann tretet ein und fügt euch dem Willen der Göttin.“
Vor ihnen wichen die Wände des Tempels auseinander. Ein von Licht durchfluteter Raum wurde sichtbar. Er war beinahe so groß wie die Ratshalle und wirkte Ehrfurcht gebietend in seiner Bescheidenheit. Eine hohe Kuppel aus weißem Holz und grünen Blättern, ohne schmückendes Beiwerk. Im Hintergrund war eine Schlafstelle zu sehen, dazu ein paar einfache Möbel. Der Raum wurde von zwei Dingen beherrscht. Dem Altar der Prophezeiung und von der Prophetin selbst.
Die Prophetin hatte keinen Namen. Vielleicht hatte sie ihn einst besessen, aber die Jahre hatten ihn unwichtig werden lassen. Sie war eine schlanke Frau mit schlohweißem Haar und unbestimmbarem Alter. Sie war alt, sehr alt und doch zeigte ihr Antlitz jugendliche Züge. Nur die Augen verrieten die Last eines langen Lebens und zu vieler Sorgen um ihr Volk. Die Prophetin trug eine schlichte rote Robe, ohne jeden Schmuck oder ein Symbol, denn sie selbst war das Symbol der Prophezeiung.
„Tretet ein, ihr Träger der Aura. Teilt eure Gedanken mit mir und hört, was die Prophezeiung euch zu sagen hat.“ Dies war nun unzweifelhaft die Stimme der Prophetin. Sie war angenehm und leise, und doch erfüllte sie den Raum.
Die Männer verteilten sich entlang der Rundwand, schwiegen ehrfurchtsvoll und überließen es Bergos zu sprechen.
„Wir suchen deinen weisen Rat, denn die Gemeinschaft von Ayan fiel einem blutigen Überfall zum Opfer. Wir wissen, dass es Krieger des Volkes der Berengar waren und müssen nun erfahren, ob uns weitere Gefahr droht.“ Bergos räusperte sich. „Und ob die Kraft der Auraträger ausreichen wird, ihr zu begegnen.“
„Ich erfuhr davon.“ Die Prophetin wandte sich mit unbewegtem Gesicht dem Altar zu. „Und ihr werdet erfahren, was die Prophezeiung euch enthüllt.“
Der Altar. Ein schlichter Kegel aus weißem Stein, auf seiner breiten Basis ruhend. Er war glatt poliert und zwei Hände breit über der Spitze des Kegels loderte die ewige Flamme der Göttin. Ein weißes Licht, das trotz seiner Helligkeit nicht in den Augen schmerzte.
Die Weise Frau, Prophetin der Enoderi, wandte sich dem Altar zu, streckte ihre Arme aus und drehte die geöffneten Handflächen der Flamme entgegen. In dem weißen Flackern wurden rote Schlieren sichtbar, die sich ausdehnten und wieder zusammen zogen. „Flamme der Weissagung, deine Dienerin bittet um deine Kraft. Blut wurde vergossen und der Kreislauf des Lebens unterbrochen. Zeige uns den Weg, den dein Volk beschreiten soll.“
Das Glühen veränderte sich, nahm ein sanftes Grün an und dehnte sich weiter aus. Nebel schien um die Handflächen der Prophetin zu wallen, formte sich zu einem Ring, der, von den Händen der Weisen Frau ausgehend, um die ewige Flamme kreiste.
Einer der Auraträger hüstelte erregt und Bergos warf ihm rasch einen mahnenden Blick zu. Nichts durfte die Konzentration der Prophetin stören.
„Gefahr droht den Menschenvölkern.“ Es war die Prophetin, die diese Worte aussprach, aber es war gewiss nicht ihre Stimme. „Ein fernes Volk wird das Land mit Blut überziehen. Nichts wird verschont und nichts bleibt bestehen. Finsternis liegt über den Kindern der Göttin. Der Kreislauf des Lebens droht zu zerbrechen. Aber in der Finsternis wird ein Licht erstrahlen. Eine Aura, so mächtig, wie sie nie zuvor entstanden ist. Diese Aura wird Leben nehmen, um Leben zu gewähren.“
Der Ring aus Nebel löste sich auf und das Wallen begann dem steten Licht der ewigen Flamme zu weichen. Durch die Prophetin schien ein unmerklicher Ruck zu gehen und sie stöhnte leise auf. Dann drehte sie sich den Auraträgern zu und ließ ihre Arme sinken. „Dies sind die Worte der Prophezeiung. Die Worte der Weisheit und der Flamme des Lebens.“
Bergos Ma´ara´than verneigte sich und die anderen folgten seinem Beispiel. „Wir danken dir, Prophetin und werden über deine Worte beraten.“
Die Auraträger verließen den Tempel und Bergos war sich nicht sicher, ob er nun mehr wusste, als zuvor. Wie üblich waren die Worte der Prophetin schwer zu deuten. Der Führer der Auraträger versuchte, seine Gedanken zu sammeln, während sie zur Ratshalle zurückgingen. Ein wenig verwirrt stellte er fest, dass sich die Abenddämmerung über das Tal senkte. Sie mussten Stunden im Tempel verbracht haben, obwohl es ihm und den anderen nur wie wenige Minuten erschienen war.
Noch immer wurden sie von Neugierigen begleitet, aber ihre Zahl war deutlich kleiner geworden. An den Kegelbäumen brannten die ersten Lampen und auf dem großen Platz inmitten der Baumkreise bereiteten sich die Bewohner von Ayanteal auf eine abendliche Versammlung vor. Man traf sich oft, um miteinander zu reden, Meinungsverschiedenheiten beizulegen oder um zu musizieren und zu tanzen. An diesem Abend würde man sich versammeln um zu erfahren was der Rat beschloss.
Bergos setzte sich an seinen Platz und sie sprachen die rituelle Formel des Rates. Nachdem sie die Stirnreifen wieder aufgesetzt hatten, räusperte sich der alte Anführer. „Überdenken wir die Worte der Prophetin und wägen wir ab, was sie zu bedeuten haben. Ein fernes Volk wird das Land mit Blut überziehen. Nichts wird verschont und nichts bleibt bestehen. Finsternis liegt über den Kindern der Göttin. Der Kreislauf des Lebens droht zu zerbrechen. Aber in der Finsternis wird ein Licht erstrahlen. Eine Aura, so mächtig, wie sie nie zuvor entstanden ist. Diese Aura wird Leben nehmen, um Leben zu gewähren.“
„Ein Teil der Worte ist mir begreiflich.“ Kender Ma´ara sah die anderen nachdenklich an. „Es können nur die Berengar gemeint sein. Sie werden Krieg führen und uns angreifen. Wir sind vom Tode bedroht. Der Kreislauf des Lebens…“
„Ja, ja, das sind schlichte Worte, die wir alle verstehen“, knurrte ein anderer Mann. „Dass diese Bestien eine Bedrohung sind, ist uns allen klar. Ayan steht für den Blutrausch dieser Berengar. Viel schwerwiegender erscheint mir, was die Prophezeiung über die Aura aussagte. Eine mächtige Aura soll entstehen. Eine Aura, die Leben nimmt, um Leben zu gewähren.“
„Ja, das ist völliger Unsinn“, stimmte Kender zu. „Kein Auraträger kann Leben nehmen. Die Macht der Aura liegt darin, Leben zu bewahren. Wir können Furcht einflößen, aber kein Blut vergießen. Allein der Versuch zu töten, würde uns die Kraft der Aura nehmen.“
Bergos nickte. „Nur wer reinen Herzens ist und den Kreislauf des Lebens hütet, dem dient die Aura. Dennoch, meine Freunde, die Prophetin hat sich noch nie geirrt.“
„Ihre Worte klingen klar, aber ihre Bedeutung kann im Dunkel verborgen sein“, gab ein Auraträger zu bedenken. „Denkt an die Prophezeiung, die das Volk vor über hundert Jahren erhielt. Von sieben fruchtbaren Jahren war die Rede. Und, was geschah? Sieben Jahre blieb der Regen aus, viele Felder verdorrten und zugleich hatten wir ungeheuer viele Geburten. Damals gerieten wir Enoderi an den Rand einer Hungersnot.“
„Die Prophetin irrte nicht. Soweit es die Familien und den Segen unserer Nachkommen betraf, waren es fruchtbare Jahre.“
„Genau das meine ich.“ Der hagere Auraträger strich sich nervös über das Gesicht. „Damals hörte man nur von den sieben fruchtbaren Jahren und wusste die Worte nicht zu deuten. Die Prophetin sprach von den Geburten, aber sie warnte uns nicht vor der Dürre.“
„Was soll das heißen?“ Einer der Männer sprang erregt auf. „Zweifelst du an der Prophezeiung?“
„Natürlich nicht.“ Der Hagere machte eine beschwichtigende Geste. „Ich sage nur, wir müssen die Worte gut abwägen. Ihre Bedeutung scheint auf der Hand zu liegen und kann uns doch verborgen sein.“
„Wir sind uns sicher einig, dass vom Volk der Berengar Gefahr ausgeht.“ Bergos sah das zustimmende Nicken der anderen. „Die Prophetin sprach von einer mächtigen Aura. Ich denke, damit ist das Zusammenwirken unserer Kräfte gemeint. Wenn wir sie vereinen, so bilden wir eine sehr machtvolle Aura.“
Erneut nickten die anderen, bis auf den Hageren. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Die Prophetin kennt unsere Kraft. Sie sprach vom Entstehen einer mächtigen Aura und ich glaube nicht, dass sie damit die Bündelung unserer Kräfte meinte. Zudem, und das müssen wir alle bedenken, sprach sie von einer Aura, die Leben nehmen könne. Keiner von uns vermag etwas derart Ungeheuerliches zu tun.“
„Das ist wahr.“
Bergos seufzte. „Es wäre mir recht, wenn wir die Prophetin erneut befragen könnten, aber ihr kennt sie. Für jedes Ereignis gibt sich ihre Weisheit nur in einer einzigen Prophezeiung zu erkennen.“
„Deren Deutung uns obliegt. Jedenfalls wird es Ärger mit den Berengar geben, das steht wohl fest.“ Kender zuckte die Schultern. „Wir wissen nicht, wann dies geschehen wird, aber wir sollten uns darauf vorbereiten. Wenn es sehr viele Berengar gibt, so werden wir viele Auraträger benötigen um unser Volk zu schützen. Wir sollten darauf achten, ob wir nicht zusätzliche Knaben finden, welche über die Gabe verfügen. Sie sollten rasch ausgebildet werden.“
Bergos Ma´ara´than nickte und erhob sich. „Dem stimme ich zu und zugleich bringt mich dies zu einem Punkt, der mich sehr beschäftigt. Als die Bestien vor zwei Tagen Ayan überfielen gab es dort nur zwei Überlebende. Die Baumhüterin Neredia und ein kleines Mädchen mit Namen Eolanee.“
„Das ist wahr“, brummte der Hagere. „Worauf willst du hinaus? Die Baumhüterin vermag uns nicht zu helfen. Ihre Kräfte stehen außer Frage, doch wir benötigen Männer welche die Aura anwenden können. Keine Frau vermag das zu tun. Die Aura ist nicht ihre Gabe, so wie das Baumhüten nicht die Gabe der Männer ist.“
„Dem hätte ich vor zwei Tagen noch zugestimmt.“ Bergos sah die anderen nachdenklich an. „Doch nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Kender, Rolos, Ensar und du, Nador, ihr wart dabei, als wir Ayan erreichten. Ihr wisst, dass außer uns kein Auraträger im Tal war und dennoch floh eine Gruppe der Bestien in wilder Flucht.“
„Weil sie uns kommen hörten“, brummte Kender.
„Sie wendeten sich zur Flucht, noch bevor die Hornlöwen in ihrer Trauer brüllten“, entgegnete Bergos. „Etwas anderes hat sie so erschreckt, dass sie flohen. Es waren nicht die Bäume, das wisst ihr. Die Baumhüterin war zu diesem Zeitpunkt bewusstlos und konnte sie nicht um Beistand bitten.“
Rolos schürzte die Lippen. „Du glaubst, dieses Mädchen hat das bewirkt?“
„Ja, das glaube ich. Es kann nicht anders sein.“
„Niemand hat Angst vor einem fünfjährigen Mädchen“, erwiderte Kender verächtlich.
„So ist es.“ Bergos sah den jüngeren Mann ernst an.
Kender stutzte, dann begriff er, was der Führer andeuten wollte und schüttelte den Kopf. „Unsinn. Verzeih, Bergos, aber was du andeutest, ist unmöglich.“
„Ist es das?“ Bergos erhob sich und schritt nachdenklich umher. „Ich denke an die Umstände, unter denen wir Eolanee fanden. Schützend umgeben von einem Dornengebüsch und feindliche Krieger in wilder Flucht.“
„Das eine spricht für eine Baumhüterin, das andere für einen Auraträger.“ Rolos kratzte sich unbehaglich im Nacken. „Es war aber nur das Mädchen da.“
„Nun, immerhin, es wäre möglich“, seufzte ein anderer, „dass sie die Gabe einer Baumhüterin hat.“
Kender nickte. „Das will ich ihr zugestehen. Aber nicht die Gabe der Aura. Nur Männer verfügen über diese Macht und diese Eolanee ist ja nun unzweifelhaft ein Mädchen.“
„Aber wenn, und ich sage nur wenn, Eolanee über beide Kräfte verfügt?“ Bergos sah die Auraträger eindringlich an. „Könnten wir ermessen, welche Macht das in einem einzelnen Wesen vereinen würde? Die Kräfte der Aura sind stark. Aber sie sind nicht unerschöpflich. Wir werden müde, müssen uns erholen. Wenn der Feind in großer Zahl kommt und uns lange angreift, dann wird unsere Kraft schwinden. Bis sie schließlich versagt. Je mehr Aura-Kräfte wir aufbieten können, desto besser sind wir vorbereitet.“
Ensar erhob sich nun ebenfalls und er war ungewöhnlich blass. „Eine Aura, die Leben nimmt, um Leben zu gewähren… Bergos, wenn es stimmt, dass dieses Kind über solche Kräfte verfügt, dann darf Eolanee niemals einer Schulung ihrer Macht unterzogen werden.“
„Nicht nur das“, ächzte ein anderer. „Dann sollten wir sie aus der Gemeinschaft verbannen. Wir können kein Wesen unter uns dulden, das fähig wäre, ein anderes zu töten.“
Bergos machte eine beschwichtigende Geste. „Eine Aura, die Leben nimmt, um Leben zu gewähren… Das hört sich für mich nicht nach einem blutrünstigen Wesen an.“
„Leben zu nehmen heißt, den Kreislauf des Lebens zu unterbrechen“, protestierte Kender und einige der anderen Männer stimmten erregt zu.
„Dennoch wird es diese Aura geben“, mahnte Bergos. „Ihr alle habt die Prophezeiung gehört und sie steht außer Zweifel.“ Er sah Kender auffordernd an. „Gleichgültig, wie wir uns entscheiden, die Weissagung wird sich erfüllen und diese mächtige Aura wird es geben.“
Der nickte widerwillig. „Nein, daran besteht kein Zweifel.“
„Wir wissen nicht, ob Eolanee die Kräfte beider Gaben in sich birgt“, räumte Bergos in versöhnlichem Tonfall ein. „Aber wir sollten weise genug sein, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Wenn ein solch machtvolles Aurawesen entsteht, so wäre es besser, wir würden es schulen und seine Schritte lenken. Vielleicht hat das Kind wirklich die Gabe. Es gibt nur einen Weg, Gewissheit zu erlangen.“
„Niemals.“ Kender stampfte entschlossen mit seinem Fuß auf. „Du kannst, du darfst dieses Kind nicht unterweisen!“
Ensar erhob sich und trat neben Kender. „Ihr wisst, ich bin nicht immer einer Meinung mit Kender, doch in diesem Fall muss ich ihm zustimmen. Es ist ein Mädchen!“
„Auch Baumhüterinnen sind Frauen“, warf der Hagere ein. „Und sie sind wertvoll für das Volk.“
„Das ist etwas vollkommen anderes“, zischte Kender.
„Die Bedrohung durch die Berengar ist neu für uns.“ Ein Auraträger, der fast das Alter von Bergos erreicht hatte, erhob sich. Merius Ma´ara war ein hoch geachteter Mann im Volk und das nicht nur wegen seiner Fähigkeiten als Auraträger. Sein dichter grauer Bart war von weißen Strähnen durchzogen und er hinkte ein wenig, als Folge eines Reitunfalls. „Nie zuvor wurde eine Gemeinde des Volkes auf solche Weise abgeschlachtet. Es ist etwas Neues und vielleicht müssen wir neue Wege gehen, um dem zu begegnen. Ich stimme Bergos zu, dass wir alles versuchen müssen, den Kreislauf des Lebens zu erhalten.“ Er sah die Anwesenden eindringlich an. „Auch wenn dies bedeutet, ein weibliches Wesen in der Aura auszubilden. Sofern diese Eolanee überhaupt über die entsprechenden Veranlagungen verfügt.“
Seine Worte machten viele Nachdenklich, aber Kender stapfte erneut mit dem Fuß auf. „Es ist verboten. Es ist gegen die Tradition. Es ist…“
„Unsinn.“ Merius lachte spöttisch. „Es ist nur noch niemals vorgekommen.“
Kender erwiderte den Blick des Alten wütend. Der Respekt vor einem anderen Auraträger verbot eine beleidigende Erwiderung, die dem Jüngeren auf der Zunge lag. „Ich, Kender Ma´ara, Träger der Aura, verweigere in jedem Fall die Zustimmung.“
„Und ich, Bergos Ma´ara´than, Träger und Führer der Aura, sage, dass wir es tun müssen.“
Aufgeregte Stimmen schwirrten durcheinander. Ensar trat neben Kender. „Ich, Ensar Ma´ara, verweigere ebenfalls meine Zustimmung.“
Merius trat nun neben Bergos. „Und ich, Merius Ma´ara, gebe sie.“
Bergos hob beschwichtigend die Hände. „Lasst keinen Streit aufkommen, Träger der Aura. Wir sollten Eolanee prüfen und beobachten. Behutsam erkunden, ob sie die Fähigkeit überhaupt in sich trägt.“
Rolos erhob sich. „Und Bergos sollte dies tun. Er ist unser Anführer und hat die größte Erfahrung. Seinem Urteil kann man vertrauen.“
Kender leckte sich über die Lippen. Neben Bergos verfügte er über die größten Kräfte der Auraträger und der Führer hatte bislang keinen Zweifel aufkommen lassen, dass Kender sein Nachfolger werden könnte. Der jüngere Mann hatte durchaus den Ehrgeiz, einmal den Stirnreif mit dem größten Kristall zu tragen. Aber Bergos konnte seinen Nachfolger nur vorschlagen, er konnte ihn nicht bestimmen. Kender brauchte die Mehrheit im Rat, wenn es so weit war. Der Rat schätzte überlegtes und abwägendes Handeln. Es mochte angemessen sein, jetzt einzulenken und seine Befürchtungen für sich zu behalten. „Ich, Kender Ma´ara, stimme dem zu.“
Bergos nickte sichtlich erleichtert. „Damit ist es beschlossen.“
Merius seufzte leise. „Dann lasst uns nun überlegen, was weiter zu tun ist. Ayan muss neu belebt werden. Dann müssen wir Späher an den Grenzen postieren, die uns vor einem erneuten Überfall der Bestien warnen. In jeder unserer Gemeinschaften sollten sich Auraträger bereithalten. Das ist meine Meinung. Nun, Brüder der Aura, was sagt ihr dazu?“
Es dauerte noch Stunden, bis Bergos endlich die Lichter mit einer sanften Handbewegung löschen konnte und er als letzter die Ratshalle verließ. Er war müde und erschöpft, aber er konnte sich noch nicht zur Ruhe begeben.
Auch auf dem Versammlungsplatz inmitten der Kegelbäume war es ruhiger geworden. Es war spät in der Nacht, eher früher Morgen und auch in Ayanteal musste geerntet werden. Trotz ihrer Neugier hatten sich die meisten Bewohner zur Nachtruhe begeben. Einige Lampen mit Glühkäfern spendeten ihr sanftes Licht, aber Bergos war diese Wege so oft gegangen, dass er sie auch in völliger Dunkelheit gefunden hätte.
Sein Ziel war ein Kegelbaum im zweiten Ring. Hier brannte noch Licht in einem der Häuser. Bergos berührte eine Fangwurzel, strich sanft mit dem Finger an ihr entlang und sie formte die Sitzschlinge und trug ihn nach oben. In der dritten Ebene spürte eine Frau die Schwingungen und trat auf den Rundgang vor dem Haus. Neredia fühlte sich noch schwach und ihr Kopf schmerzte noch immer von dem gewaltigen Hieb, den sie erhalten hatte. Aber sie lebte und das war weit mehr, als es den meisten Menschen von Ayan vergönnt gewesen war.
Sie stützte sich auf das zierliche Geländer und lächelte, als sie Bergos erkannte. So wie Bergos Ma´ara´than der Führer der Auraträger war, so war Neredia Ma´ededat´than die Führerin der Baumhüterinnen.
Als Kinder waren sie im selben Dorf aufgewachsen und hatten sich angefreundet. Dann, als man bei ihnen die möglichen Fähigkeiten der Aura und des Baumhütens erkannt hatte, waren sie getrennt worden. Sie erfuhren intensive Schulungen, die ihre Anlagen förderten und sie auf ihre verantwortungsvollen Aufgaben vorbereiteten. So blieb nur wenig Zeit für eine unbeschwerte Kindheit und noch weniger Raum für persönliche Beziehungen. Kein persönliches Empfinden sollte die Heranwachsenden von der Konzentration auf ihre Unterweisung ablenken. So wurden Bergos und Neredia jene Gefühle vorenthalten, die Mann und Frau zueinander führten und zu einem glücklichen Paar werden ließen. Das Wohl der Gemeinschaft stand über dem persönlichen Glück. Es war ein Opfer, welches den Kindern auferlegt wurde und doch war es für das Überleben der Enoderi erforderlich. Als Bergos und Neredia sich nach vielen Jahren erneut begegneten, da hatte sich ihre einstige Freundschaft verändert. Ihre gegenseitige Zuneigung ging noch tiefer als zuvor und sie brauchten nicht viele Worte, um einander zu verstehen. Die körperliche Liebe blieb ihnen versagt, um ihre Fähigkeiten nicht zu gefährden, doch ihre geistige Bindung war stärker, als je zuvor.
Der hölzerne Rundgang knarrte leise, als Bergos sich auf ihn schwang und die Fangwurzel entließ. Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Hände, mehr an Vertrautheit war ihnen nicht gestattet. Vor Jahren mochten sie sich nach mehr als einer flüchtigen Berührung gesehnt haben, aber sie hätten ihre Kräfte niemals für ein kurzes Vergnügen aufs Spiel gesetzt. Nun war für sie beide die Zeit des körperlichen Verlangens vorbei, denn sie hatten die Phase des Begehrens überwunden.
„Wie geht es deinem Kopf?“ Bergos betrachtete den Verband mit kritischen Augen. „Die Binde wurde erneuert. Was sagen die Heilkundigen?“
Neredia lächelte erneut. „Sie sind zufrieden und meinen, die Beule werde sich bald zurückbilden. Aber sie müssen meine Kopfschmerzen auch nicht aushalten.“
„Es ist kein Wunder, dass du Schmerzen hast. Nach so einem Schlag solltest du ruhen und im Halbdunkel liegen, denn das Licht schmerzt deinen Augen.“
„Dieser Schmerz ist nur körperlich und wird vergehen.“
„Ich verstehe.“ Er deutete in das Dunkel der Nacht und über den schwach beleuchteten Rundgang. „Lass uns ein paar Schritte gehen. Wir haben lange beraten und dabei zu viel gesessen. Etwas Bewegung tut mir gut.“
Neredia nickte. „Wenn du es wünschst.“
Sie strich mit der Hand über das Geländer des Rundgangs und der Kegelbaum spürte ihren Wunsch. Er schickte seine Säfte und der Gang verbreiterte sich und wurde fester. Zweige verschoben sich und ließen mehr Sternenlicht einfallen, so dass der Weg ausreichend beleuchtet lag.
Bergos nahm dies kaum wahr. Es gehörte zu den Fähigkeiten der Baumhüterinnen und Neredia war die Beste von ihnen allen. Schweigend gingen sie nebeneinander, spürten ihre Nähe. Die Enoderi wusste, dass Bergos in diesen Minuten etwas Ruhe brauchte. Er musste seine Gedanken ordnen und die Anspannung verlieren, die ihn bei jeder Ratsversammlung der Auraträger begleitete.
„Es ist ein gemeinsamer Schmerz“, sagte er unvermittelt. Er verharrte und Neredia tat dies ebenso und erwiderte seinen Blick. Bergos Augen waren voller Trauer. „Du erleidest Schmerz, weil du den Menschen in Ayan mit deiner Gabe nicht helfen konntest. Keiner von ihnen erreichte den Schutz eines Baums und auch jenen, die doch in ihre Reichweite gelangten, konntest du nicht helfen, denn du warst durch den Schlag betäubt.“ Sie schwieg und der Auraträger seufzte schwer. „Ich hingegen erleide Schmerz, weil wir Auraträger zu spät kamen und Ayan nicht schützen konnten.“
„Wir haben beide keine Schuld.“ Ihre Stimme war sanft und verständnisvoll.
Bergos legte eine Hand auf das Geländer und sah zwischen den Zweigen zum nächtlichen Sternenhimmel empor. „Das weiß ich. Aber das macht es nicht leichter.“
„Nein, das tut es nicht.“ Ihre Hand legte sich über die seine und für einen Moment ließ er die Berührung zu, bevor er sie ihr sanft, aber bestimmt, entzog.
Bergos wich ihrem Blick aus. „Es gab eine Prophezeiung. Und es gab einen Entschluss im Rat.“
„Welches war die Weissagung?“
Er nannte sie ihr, Wort für Wort. Neredia schwieg und nun war es Bergos, der ihr Zeit zum Nachdenken gab. Aus einem Eingang trat eine junge Frau und sah sich um. Sie hatte wohl die leisen Schritte und Stimmen vernommen. Als sie die beiden erkannte, verneigte sie sich kurz und zog sich rasch wieder zurück.
„Es droht Gefahr von dem Volk mit der kupferfarbenen Haut und wir müssen uns darauf vorbereiten“, sagte Neredia schließlich. „Aber die Prophezeiung von einer Aura die Leben nimmt, bereitet mir Sorge.“
„Die Leben nimmt und Leben gewährt“, ergänzte Bergos. „Auch der Rat hat darüber gerätselt und ist keineswegs einig, was das zu bedeuten hat.“
Sie sah ihn forschend an. „Aber du, Bergos Ma´ara´than, du hast eine Vorstellung davon, was es zu bedeuten hat, nicht wahr?“
„Nur eine Vermutung. Eine flüchtige Ahnung, nicht mehr“, schränkte er ein. Er erwiderte ihren Blick. „Ich glaube, die Prophezeiung hängt mit dem Mädchen zusammen. Mit Eolanee.“
Neredias Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. „Was vermutest du?“
„Ich vermute, dass Eolanee über die Kräfte einer Baumhüterin verfügt und zugleich über die Kräfte eines Auraträgers.“
Ihr Gesicht verriet ein wenig Überraschung, aber keinen Widerspruch. „Es wäre möglich. So unwahrscheinlich es auch klingt, es wäre möglich.“
Bergos schilderte ihr zögernd, was sich zugetragen hatte, als er und die anderen Auraträger Ayan erreichten. Was ihm aufgefallen war, als er Eolanee fand. Er versuchte, nur die Fakten zu schildern und keine Bedeutung hineinzulegen, die er sich vielleicht wünschen mochte. Die Baumhüterin hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen und als er endete, schwiegen sie beide für eine lange Zeit.
„Es wäre möglich“, sagte Neredia erneut. „Eine Frau mit der Kraft der Aura hat es niemals zuvor gegeben. So wie es niemals einen Mann gab, der über die Fähigkeit einer Baumhüterin verfügt. Wenn es wahr wäre, so könnte Eolanee zu einer großen Macht heranwachsen.“
„Davor haben einige der anderen Angst“, räumte Bergos ein. „Aber noch ist Eolanee ein kleines Mädchen und sich ihrer Fähigkeiten nicht bewusst.“
„Wenn sie denn wirklich vorhanden sind.“
„Für mich gibt es keinen Zweifel.“
„Ja, ich kenne dich, Bergos.“ Erneut sah sie ihn forschend an. „Was erwartest du von mir? Und, was viel wichtiger ist, was erwarten du oder der Rat von Eolanee?“
„Ich glaube, dass dieses Kind über beide Fähigkeiten verfügt. Aber sie ist sich dessen nicht bewusst und die Kraft ist noch nicht ausgeprägt. Wir hätten die Macht, dafür zu sorgen, dass sie sich niemals entwickeln kann. Aber ich glaube, dass dies falsch wäre. Noch nie gab es einen Menschen, der beide Gaben in sich trug. Eolanee könnte zu einer gewaltigen Kraft werden. Zu einer Prophetin des Lichts oder zu einem Dämon der Finsternis. Wenn wir sie auf ihrem Weg begleiten und sie behutsam führen, liegt es in unseren Händen, ob sie zur Hoffnung oder zum Fluch für uns Menschen wird.“
„Also willst du sie schulen?“
Bergos nickte entschlossen. „Mit deiner Hilfe. Ich vermag ihr das Wesen der Aura zu vermitteln, aber du musst dies bei den Fähigkeiten einer Baumhüterin tun. So können wir sie gemeinsam auf dem richtigen Weg halten, wenn sich ihre Kräfte entwickeln.“
„Eolanee ist ein kleines Mädchen. Sie hat grausames erlebt. Ihre Eltern sind tot, ebenso ihre Freunde und jene Menschen, die sie kannte. Diese Last ist groß und kann ihre Seele in Finsternis stürzen.“ Neredia wandte sich dem Geländer zu und blickte zu den nächsten Kegelbäumen hinüber. In diesen Stunden der Nacht wirkte das Tal besonders friedvoll. „Sie sollte bei einem Paar aufwachsen, das sie liebevoll umsorgt und ihre kleine Seele vor weiterem Schaden bewahrt.“
„Das wird sie.“
„Ich meine nicht dich und mich, Bergos Ma´ara´than, und das weißt du genau.“
„Dennoch können wir sie mit unserer Liebe umsorgen.“
„Ich weiß, dass viel Liebe zu den Menschen in deinem Herzen ist, Bergos.“ Neredia seufzte vernehmlich. „Aber Eolanee sollte nicht die Kräfte der Macht erlernen, sondern ein unbeschwertes Kind sein, dass wieder Lachen kann.“
„Du hast Recht, Neredia, Hüterin der Bäume.“
„Es ist nicht richtig, ihr ein glückliches und unbeschwertes Leben zu verweigern.“
„Auch darin stimme ich dir zu.“
„Und dennoch willst du Eolanee schulen?“
„Dennoch will ich es tun.“
Dieses Mal klang Neredias Seufzer besonders schwer. „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dich mit meinen Kräften zu unterstützen. Vielleicht vermag ich als Frau ein wenig von dem Schaden zu mildern, den du als Mann sicher bei dem armen Kind anrichten wirst.“
„Dann ist es beschlossen?“
Die Baumhüterin nickte.
Bergos atmete erleichtert auf. „Dafür danke ich dir.“
„Lass mich nun zu Eolanee gehen. Sie ist im Haus einer guten Familie, im Schutz eines starken Baums, aber sie hat sich völlig in sich zurückgezogen. Meist kauert sie in einer Ecke und zittert. Nur mir gegenüber öffnet sie sich ein wenig und lässt sich von mir füttern. Vielleicht, weil ich ebenfalls aus Ayan bin und sie mich gut kennt. Sie hat nicht einmal die Kraft zu weinen, Bergos. Ich weiß nicht, ob Eolanee jemals wieder zu sich finden wird. Sie wird alle Liebe brauchen, die man ihr geben kann.“
„Die wird sie bekommen. Lass uns zu ihr gehen, ich werde dich begleiten. Es war meine Hand, die sie im Dornbusch ergriffen hat. Vielleicht vermag ich auch ihr Herz zu ergreifen.“ Bergos leckte sich über die Lippen und sah Neredia zögernd an. „Doch bevor wir nun zu Eolanee gehen, will ich dich warnen. Nicht jeder Enoderi wird darüber glücklich sein, dass Eolanee einmal etwas ganz besonderes sein wird.“