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Kapitel 4

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Neredia war die Ma´ededat´than und somit die oberste Baumhüterin der Enoderi. Als solche genoss sie die besondere Gunst jenes Kegelbaums, in dem sich ihr Wohnbereich befand. Hoch oben, in der breiten Krone des Kegels, hütete der Baum seine Samenkapseln und hier wuchsen die Fangwurzeln, mit denen er sich und seine Bewohner beschützte. Kein Enoderi, nicht einmal Neredia, durfte die Krone betreten, doch der mächtige Baum hatte es zugelassen, dass Neredia ihre Räume direkt unterhalb der riesigen Plattform bezog. Bereitwillig hatte er ihr seine Kammern geöffnet und sie nach ihren Wünschen geformt und eingerichtet. Es war nur ein winziger Teil des obersten Kreissegments der Pflanze und die luftige Höhe war ebenso ungewöhnlich, wie der Ausblick auf einen Teil des Tals von Ayanteal.

Ursprünglich hatte Neredia hier alleine gelebt, doch seit sie Eolanee in ihre Obhut genommen hatte, war auch Bergos Ma´ara´than hinzugekommen und nach außen wirkten die Drei wie jede andere Familie der Enoderi. Dennoch war jeder von ihnen etwas Besonderes und das bewies schon die ungewöhnliche Ausgestaltung der Räume.

Normalerweise zeigten die Wände der Wohnbereiche die vielfältige Maserung des Baumes in verschiedenen zarten Brauntönen. Neredias Gabe ließ ihren Einfluss auf die riesige Pflanze deutlich werden. Die Böden der Räume waren von weichem Moos bedeckt und in dem hellen und dunklen Grün wiederholte sich das Muster von Blättern. Aus den Wänden waren Ranken gewachsen, deren zarte Ausläufer verschlungene Figuren bildeten.

Eolanee war inzwischen acht Jahre alt und noch immer fasziniert von der Gabe ihrer Ziehmutter. Schon oft hatte das Mädchen die Ranken berührt und es gelegentlich geschafft, sie nach seinen eigenen Wünschen umzuformen. Doch Neredia glaubte fest an die besonderen Fähigkeiten des Kindes und daran, dass Eolanee noch zu weit mehr fähig war.

„Versuch es noch einmal, Eolanee, ich weiß, dass du es kannst.“ Neredia strich sanft über das Haar Eolanees. „Es ist nicht leicht, Eo, aber du hast eine ganz besondere Gabe und Kraft. Du kannst dich mit dem Baum verbinden, ohne ihn mit der Hand zu berühren.“

In Eolanees Blick lag Zweifel und das war nur zu verständlich. Eine ausgebildete Baumhüterin konnte zwar Schädlinge oder Erkrankungen einer Pflanze mit ihren Sinnen erspüren, um sie jedoch nach ihrem Willen zu formen, musste sie diese, wie jeder Enoderi, direkt mit der Hand berühren. Neredia erwartete jedoch, dass Eolanee dies nur mit der Kraft ihrer Wünsche erreichte.

„Ich kann das nicht“, sagte sie kopfschüttelnd. „Keiner kann das. Auch du nicht.“

Neredia wusste, dass es keinen Sinn machte, das Mädchen zu drängen. Sie lächelte sanft, zog Eolanee mit sich und setzte sich auf eine Bank des Wohnraums. Der Baum spürte das erhöhte Gewicht, als Eolanee auf den Schoss ihrer Ziehmutter glitt und verstärkte das Polster. Die oberste Baumhüterin zog zwei Becher heran und schenkte Wasser ein. Während sie einen davon Eolanee reichte und selber trank, überlegte sie ihre Worte.

„Jeder Enoderi kann einem Kegelbaum seinen Wunsch übermitteln“, erklärte sie mit leiser Stimme. „Die Hand ist nur das Mittel, diesen Wunsch an den Baum zu leiten. So, wie unsere Worte unsere Wünsche an andere Enoderi leiten. Die Gabe einer Baumhüterin ist sehr viel stärker. Eine gute Baumhüterin kann auch andere Pflanzen spüren und, wenigstens teilweise, beeinflussen. So, wie ein Auraträger die Empfindungen lebender Wesen lenken kann.“

„Wo ist Bergos? Wann kommt er?“, fragte das Mädchen prompt.

„Er ist mit einigen Hornlöwenreitern im Westen und wird heute zurückkehren“, versicherte Neredia. Sie deutete auf die Wand. „Auch ich muss meine Hand auflegen, um meinen Willen zu bekunden.“

„Ja, das kann ich auch“, bekannte Eolanee bereitwillig.

„Möglicherweise kannst du noch weit mehr.“ Neredia lachte und strich Eolanee eine Locke aus dem Gesicht. „Weißt du, dass sich die Wand deiner Schlafkammer in der Nacht oft verändert hat, während du geschlafen hast?“

Eolanee zuckte die schmalen Schultern. „Das war ich nicht, Neredia, ganz ehrlich.“

Die oberste Baumhüterin machte eine beschwichtigende Geste. „Das war kein Vorwurf, Eo. Im Gegenteil, es ist schön, wenn ein Baum den Wünschen seiner Bewohner folgt. Weißt du, was ich glaube?“

„Nein.“ Eolanee ließ ihre Beine baumeln und blähte die Wangen. Das Gespräch wurde ihr unangenehm, denn sie spürte die unausgesprochenen Erwartungen Neredias.

„Ich glaube, dass du manchmal, wenn du sehr intensiv träumst, deine Gedanken an den Baum übermittelst. Dann versucht der Baum, sich anzupassen und so entstehen die Ranken und Blätter an den Wänden deiner Kammer.“

Einerseits war Neredia von der Aussicht fasziniert, dass Eolanee in der Lage war, dem Baum ihre Wünsche auf gedanklicher Ebene zu übermitteln, doch zugleich war sie zutiefst besorgt. Die verworrenen Muster an den Wänden der Schlafkammer zeigten, dass die Träume des Kindes von Finsternis erfüllt waren.

„Ich weiß nicht“, brummte das Mädchen.

„Ich fühle Kummer in dir“, bekannte Neredia.

„Du bist kein Auraträger“, erwiderte Eolanee und wirkte nun ein wenig verstockt und rutschte von Neredias Schoß herunter.

„Nein, mein Kind, aber ich kenne dich gut genug, um es dennoch zu fühlen.“ Die oberste Baumhüterin beugte sich ein wenig vor und ergriff Eolanees Hand. „Sag mir, was dich bedrückt.“

Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und zögerte. Doch dann platzte es förmlich aus ihr hervor. „Ich will nicht, dass sie tot sind.“

Neredia war sofort bewusst, wen das Kind damit meinte. Sie zog das leicht widerstrebende Mädchen an sich und strich tröstend über seinen Rücken. „Niemand will das, Eolanee.“

„Aber warum sind sie dann tot?“, fragte das Mädchen anklagend. Tränen begannen über seine Wangen zu laufen.

„Das kann niemand sagen“, seufzte Neredia. „Das Schicksal hat es so bestimmt und im Kreislauf des Lebens sind wir ihm alle unterworfen. Jedes Wesen hat seine Bestimmung.“

„Aber es kann nicht die Bestimmung sein, dass meine Eltern tot sind!“

„Es geschah und niemand kann dies noch ändern. Manchmal geschehen Dinge, die uns nicht gefallen und die wir nicht verstehen. Sie reißen Wunden in unsere Herzen, die nur schlecht verheilen. Manche heilen niemals.“ Eolanee lehnte sich an Neredias Schulter und diese spürte, wie die Tränen den Stoff ihres Kleides nässten. Die oberste Baumhüterin sprach mit sanfter Stimme, doch ihr war deutlich, wie schwer es war, ein Kind zu trösten, das um seine Eltern trauerte. „Sie sind nicht vergessen, Eolanee, und werden es niemals sein, solange du lebst. Sie begleiten dich auf deinem Weg und ich bin mir sicher, dass sie stolz auf dich sind.“

Eolanee schniefte. „Wie meinst du das?“

„Sie haben dich ebenso geliebt, wie du sie liebst. Sie haben an deine besondere Fähigkeit geglaubt und daran, dass du eine der besten Baumhüterinnen werden wirst.“

„Meinst du?“

Neredia nickte ernst. „Davon bin ich überzeigt, Eolanee, und auch ich glaube fest an deine Fähigkeiten.“

Eolanees Nase lief und die oberste Baumhüterin zog ein Tuch hervor und säuberte das Mädchen.

„Wann kommt Bergos?“, fragte die Achtjährige erneut und noch immer von Trauer erfüllt.

Neredia blickte zum offenen Fenster auf den Rundgang hinaus und prüfte den Stand der Sonne. „Es wird wohl spät werden, fürchte ich. Zu spät für kleine Mädchen, die dann schon längst schlafen müssen.“

„Ich bin nicht müde.“

„Ich auch nicht“, lachte Neredia. „Lass uns etwas spielen, bis es Zeit zum Abendessen ist. Das vertreibt uns die Zeit.“

Sie nutzten geschnitzte Holzfiguren und spielten eine der alten Legenden der Enoderi nach. Die erste Begegnung des Volkes mit einem Kegelbaum. Neredia wählte diese Geschichte mit Bedacht, denn sie wusste, dass sie Eolanee gefiel und zudem gab es ihr die Gelegenheit, die Fähigkeiten des Kindes auf spielerische Weise zu schulen. Inzwischen gelang es dem Mädchen mühelos, aus der Platte des Tisches einen kleinen Kegelbaum wachsen zu lassen. Anfangs war es nur ein grober Kegel gewesen, der auf seiner Spitze stand, doch inzwischen formte Eolanees Willen sogar das grüne Blätterdach und die langen Fangwurzeln, auch wenn diese sich nicht bewegen konnten. Für Neredia war es der Beweis für die außergewöhnliche Veranlagung ihrer Ziehtochter.

Über das Spiel vergaß Eolanee ihren Kummer und verdrängte ihn. Schließlich war sie tatsächlich so müde, dass sie bereitwillig zu Bett ging und Neredia trat hinaus auf den Rundgang und blickte in die sternenklare Nacht. In die Siedlung von Ayanteal war Ruhe eingekehrt und Neredia genoss diese zeit, in der nur das Summen von Insekten, die Stimmen der Vögel und Tiere und das leise Schwingen der Bäume zu hören war. Blätter rauschten im sanften Wind, der den Geruch von Regen mit sich brachte.

Am Rand des Waldes war ein leichtes Stampfen zu hören und Neredia wusste, dass dies nur Bergos mit seinen Begleitern sein konnte. Er war mehrere Tage unterwegs gewesen und würde müde sein.

Nachdenklich strich sie über das Geländer des Rundgangs. In den Jahren, seit sie nun mit Eolanee und Bergos zusammen lebte, hatte sie sich immer wieder gefragt, wie sich ihre Beziehung zu Bergos wohl gestaltet hätte, wenn sie keine Baumhüterin und er kein Auraträger geworden wäre. Ihre Herzen waren einander verbunden und vielleicht hätten sie als Paar zueinander gefunden und inzwischen selbst eine Tochter wie Eolanee. Nein, sicher nicht wie Eolanee.

Sie spürte die Schwingung einer Fangwurzel und Augenblicke später schwang sich Bergos auf den Rundgang. Beide blickten sich an und umarmten einander.

„Ich habe euch vermisst“, bekannte der oberste Auraträger.

„Nun, wir haben dich ebenfalls vermisst.“ Neredia lächelte und zog ihn mit sich in den Wohnbereich. „Vor allem Eo. Sie hat ein besonderes Zutrauen zu dir gefasst.“

Sternenlicht fiel durch Tür und Fenster ein und auf dem Tisch, auf dem noch immer ein paar Spielfiguren lagen, stand ein Gefäß mit Glühkäfern, die ein mildes Licht auf die nähere Umgebung warfen.

Bergos sah abgespannt und müde aus und nahm dankbar einen Becher mit Wasser entgegen. „Wir sind bis Ayanaraat geritten. Dort streift ein Pelzbeißer durch die Wälder und der dortige Auraträger spürte die Angriffslust des Bären. Wir haben das Tier aufgespürt.“

„Und?“

Bergos gähnte herzhaft. „Wir haben den Burschen ausfindig gemacht und mit vereinten Kräften beruhigt. Dann haben wir nachgesehen, warum er so aggressiv geworden ist. Er hatte einen vereiterten Zahn“, erklärte der oberste Auraträger. „Wir haben ihn aufgeschnitten und den Eiter abfließen lassen. So ist er seine Schmerzen los und wir haben keinen Kummer mit ihm. Du weißt, normalerweise greifen die Pelzbeißer keinen der unseren an, solange wir ihre Reviere respektieren. Aber der arme Kerl konnte kaum noch jagen. Da suchte er leichte Beute, um nicht zu verhungern.“

Neredia nickte lächelnd. „So blieb der arme Kerl dem Kreislauf des Lebens erhalten.“

„Das ist die Aufgabe der Auraträger“, bestätigte Bergos. „Hätten wir ihn vertreiben müssen, um die Menschen zu schützen, dann wäre er sicherlich verhungert.“ Er zog Neredia neben sich und legte den Arm um ihre Schulter. „Doch nun sag, was gibt es Neues von unserer Eo?“

„Sie hat die stärkste Gabe, die ich jemals erlebte.“ Die oberste Baumhüterin berichtete Bergos von den nächtlichen Veränderungen, die sich gelegentlich in der Schlafkammer des Mädchens ereigneten.

Er hörte aufmerksam zu und nickte nachdenklich. „Ja, ich glaube ebenso, dass ihre Gabe ungewöhnlich stark ist. Und nicht nur die einer Baumhüterin, Neredia. Ich habe Eolanee oft beobachtet, wenn sie mit anderen Menschen zusammen ist. Sie strahlt etwas Besänftigendes auf ihre Umgebung aus. Es ist ein unbewusster und nicht kontrollierter Vorgang, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie über die Aura verfügt.“

„Die Gabe der Baumhüterin kann sie schon jetzt einsetzen. Allerdings muss sie zur Übertragung ihres Willens die Pflanzen berühren. Ihre Fähigkeit ist unglaublich stark, Bergos.“

„Das will ich wohl meinen“, brummte er. „Doch sie kann sie noch nicht richtig kontrollieren.“

Neredia lachte leise. „Was erwartest du? Sie ist ein Mädchen von gerade Mal acht Jahren. Wenn sie älter wird, dann wachsen auch ihre Fertigkeiten.“

„Ja, sicherlich. Doch ihr Kummer macht mir Sorgen“, gestand er ein. „Du solltest sie öfter mit den anderen Kindern spielen lassen. Ihr ein mehr unbeschwertes Leben gönnen. Das ist wichtig für ihre Entwicklung.“

Neredia sah ihn strafend an. „Du warst es, der Wert darauf legte, dass ihre Fähigkeiten früh geschult werden.“

Er räusperte sich verlegen. „Hm, ja, das will ich wohl zugeben.“

„Ihre wundervollen Gaben bedürfen der Schulung und unserer Begleitung“, fügte die oberste Baumhüterin leise hinzu. „Es ist ein schweres Opfer, welches die arme Eolanee da für unser Volk erbringen muss.“

Bergos sah sie ernst an. „Ja, es ist viel verlangt. Dennoch ist es der richtige Weg. Denk an die Prophezeiung der Weisen Prophetin.“

„Ich denke eher an Eolanee“, bekannte Neredia.

„Weiber“, brummelte der oberste Auraträger.

Sie strich ihm über den Bart und lächelte. „Du hast selbst ein weiches Herz, Bergos Ma´ara´than. Du magst es vor anderen verbergen, aber nicht vor mir.“

Trotz des dämmerigen Lichtes war zu erkennen, wie er verlegen errötete. „Mag sein.“

„Komm, Bergos, lass uns nach ihr sehen“, schlug sie vor.

Er folgte ihr bereitwillig zur Schlafkammer des Mädchens, wo Eolanee friedlich schlief.

Neredia ergriff Bergos Hand und deutete zu einer der Wände. „Dort. Kannst du es sehen?“

Erneut hatte sich das Muster der Ranken und Blätter gewandelt. Die zuvor verwirrenden Formen flossen nun sanft ineinander.

„Ich glaube, sie hat einen schönen Traum“, flüsterte Neredia erleichtert.

Bergos legte erneut den Arm um ihre Schultern. „Mit unserer Hilfe mag sie den rechten Weg finden. Die kommenden Jahre werden offenbaren, ob Eolanee sich für unser Volk als Segen oder Fluch erweist.“

Eolanee

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