Читать книгу Der geheime Pfad von Cholula - Michael Hamberger - Страница 15
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ОглавлениеIm Auto angekommen, untersuchte Layla erst einmal Daniels Wunde. Er hatte großes Glück gehabt, dass der Stein nicht voll getroffen hatte. Er hatte deshalb nur eine Beule und eine kleine Schürfwunde, die kaum blutete. Trotzdem war er natürlich stinksauer. Er schimpfte und schlug mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett.
Layla beschloss, dass es wohl besser wäre, wenn sie fuhr. Daniel war voll damit einverstanden. Er fühlte sich selbst im Moment nicht sonderlich fit dazu. Die beiden tauschten also in einer akrobatischen Aktion innerhalb des Autos die Plätze. Sie hatten heute schon genug Steine abbekommen und wollten deshalb das schützende Auto nicht mehr verlassen.
Layla startete den Motor und fuhr zum westlichen Ortsausgang.
Und dort fanden sie nichts!
Da war keine Kirche, nicht einmal eine Ruine, ja, noch nicht einmal ein paar herumliegende Steine, die einmal eine Ruine hätten sein können. Layla war verzweifelt. Ihre einzige Spur schien sich in Luft aufzulösen! Die beiden stiegen aus und wollten sich einmal genauer umsehen. Alles war wie beschrieben. Der Weg zum Popocatépetl war klar zu sehen und sogar beschildert. Aber eben halt keine Kirche.
Layla beschloss, sich die Gebäude etwas näher anzusehen. Es waren zum größten Teil alte, halb verfallene Gebäude im typisch ländlichen, mexikanischen Stil. Trotz des schlechten Zustands schienen alle diese Gebäude noch bewohnt zu sein. Eine Kirche, oder ein nur ansatzweise kirchenähnliches Gebäude war nicht auszumachen. Es waren aber auch keine Leute auf der Straße, die man hätte fragen könnte. Es war wie ausgestorben. Es war eine richtige Wildwest Idylle. Sogar die weitblättrigen, ausladenden Algavenpflanzen und die berühmten dreiarmigen Saguaro Kakteen waren zu sehen.
Daniel und Layla waren ratlos. Nichts, wirklich nichts. Was sollten sie jetzt tun? In Layla stieg wieder die Panik hoch. Wenn sie nur daran dachte, was diese Bestien mit Lupi genau in diesem Moment anstellen konnten.
Da fiel ihr Blick auf ein Gebäude, das in einem seltsam schiefen Winkel zu den anderen Gebäuden stand. Das Gebäude war wahrscheinlich das älteste hier an dieser Strasse. Die verblasste, ockergelb Farbe blätterte an vielen Stellen schon ab und speziell im Obergeschoss begann es schon zusammenzufallen. Dort waren die Fenster sind mit großen Brettern vernagelt. Nur das Erdgeschoss schien noch benützt zu werden. Über einer Stahltüre, die mit einem großen Schloss und einer Kette gesichert war, hing ein altes, teilweise schon verrostetes Schild, das darauf hinwies, dass hier ein Möbelgeschäft ansässig sei. Es war aber keine Auslage oder sogar eine Schaufensterscheibe zu sehen. Dies wäre aber wahrscheinlich in dieser Lage auch etwas gewagt. Diese Fensterscheibe würde wohl nicht lange überleben.
Layla näherte sich dem Gebäude. Es war tatsächlich uralt, schien aber robust gebaut zu sein. Hinter dem hässlichen ockergelben Verputz waren eigentlich ganz brauchbare Steine. Es wäre nach Laylas Meinung besser gewesen, bei diesem Gebäude gar keinen Verputz zu benützen. Oder sollte der Verputz nur Tarnung sein? Layla begann plötzlich ganz hektisch die Wand zu untersuchen und tatsächlich. Ziemlich genau in der Mitte der Wand fand Layla riesige Befestigungsanker. Es waren genau vier und wenn man eine Linie von dem oberen zum unteren, und vom linken zum rechten zog, erhielt man ein Kreuz.
Layla schrie auf. Sie war sich sicher, dass sie die ehemalige Kirche gefunden hatte. Sie rief Daniel zu sich. Der war sich nach einer eingehenden Untersuchung ebenfalls sicher, dass dies die ehemalige Kirche war, die sie suchten. Layla ging zum Tor und suchte nach einer Klingel oder wenigstens einem Klopfer. Nichts! „Wie machen die Kunden denn dann auf sich aufmerksam?“ fragte sich Layla. Daniel klopfte an die Türe. Keine Antwort, Na, dass musste ja ein sehr gut gehendes Geschäft sein.
Die beiden begannen um das Gebäude herumzugehen, fanden aber keinen weiteren Eingang, nicht einmal ein Fenster.
„Daniel, dass ist doch scheißegal. Wir müssen nicht ins Gebäude, wir müssen nur hinter dem Gebäude nach dem geheimen Pfad suchen!“
Gesagt, getan. Fast eilig gingen die beiden in Richtung Hinterhof. Dieser war aber mit einem Zaun umschlossen. Sogar Stacheldraht war oben auf dem Zaun abgebracht. Da würden sie niemals drüber hinweg kommen, ohne sich schwer zu verletzen. Plötzlich fing Daniel an zu lachen und deutete auf den Boden. Auch Layla hätte fast laut aufgelacht. Über dem Zaun war dicker unüberwindlicher Stacheldraht, aber unter dem Zaun, da war ein großes Loch, fast so als ob sich dort ein Hund hindurch gegraben hätte. Das Loch war groß genug für Layla und Daniel, die sich kurz umsahen und dann umgehend damit begannen, durch das Loch zu krabbeln. Daniel ließ sich dabei nicht nehmen, voran zu gehen.
Der Hinterhof oder Garten, oder was das auch immer hätte darstellen sollen, war nichts weiter, als eine Müllhalde. Kaputte Möbel, zerbrochene Bretter, Nägel und Schrauben in allen Größen. Aber mit Sicherheit nicht der Ausgangspunkt eines geheimen Pfades.
Daniel fand den Zeiger einer alten Turmuhr, der stolz an die Wand genagelt worden war. Die beiden sahen nach oben und fanden im teilweise zusammengefallenen Obergeschoss eine angedeutete Steinmauer, die zu einem Kirchturm gehört haben könnte.
„Wenn Du noch auf einen endgültigen Beweis gesucht hast, da hast Du ihn!“
„Ja, Daniel, aber den Pfad haben wir immer noch nicht gefunden.“
„Dann müssen wir eben doch in das Gebäude!“
Daniel zeigte auf eine verschlossene Türe, die recht stabil aussah. Die Türe war mit einem großen Vorhängeschloss gesichert. Daniel untersuchte das Schloss. So leicht würde sich dies nicht öffnen lassen.
„Brechen wir es auf?“
Layla nickte. Es war ihr auch egal, dass dann Spuren zu sehen sein würden. Lupi brauchte Hilfe und zwar sofort. Daniel nahm einen großen Stein und eine übergroße Schraube und begann damit das Schloss zu bearbeiten. Die Schläge hallten laut durch den Hinterhof. Layla bremste ihn.
„Lieber nicht. Wir wollen sie ja nicht mit Pauken und Trompeten darauf aufmerksam machen, dass wir hier sind!“
Layla suchte sich zwei kleinere Nägel, die sie ins Schloss schob und damit herumfuchtelte. Damit müsste sich der Schließmechanismus doch öffnen lassen. Und tatsächlich, Layla hatte noch keine Minute darin herumgefummelt, da ging das Schloss mit einem deutlich hörbaren Klicken auf. Daniel sah sie verwundert an. Dann lächelte er und hob den Daumen.
Layla öffnete die Tür und die beiden traten ein. Beide machten ein angewidertes Gesicht. Der Gestand war einfach unerträglich. Es roch, also ob hier vor längerer Zeit ein größeres Tier gestorben wäre, das jetzt irgendwo verweste. Layla musste den Brechreiz unterdrücken. Es war unglaublich dunkel in dem Raum. Nicht einmal die geöffnete Tür konnte für ausreichend Helligkeit sorgen. Layla hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie groß der Raum sein könnte. Für eine Kirche war er jedoch eindeutig viel zu klein. Von den Ausmaßen der Außenmauer ausgehend, musste der Raum viel größer sein. Die beiden Türen, die sie gesehen hatten, waren seitlich am hinteren Teil des Gebäudes angebracht. Es müssten also Seiteneingänge gewesen sein. Der Haupteingang musste sich demnach unzugänglich an der Hauswand befunden haben, die sie nicht hatten kontrollieren können. Er musste sich viel weiter rechts hinten befinden. Direkt rechts neben der Türe, durch die sie eingebrochen waren, war aber nur eine Wand. Wahrscheinlich waren also nachträglich Mauern eingezogen worden. Somit war dieser Raum von Layla aus gesehen, nur etwa zehn Meter lang und fünf Meter breit.
Das ganze Gebäude strahlte eine ungute Aura aus. Layla lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Auch Daniel fühlte sich sichtlich unwohl.
„Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe dabei?“
Natürlich hatte weder Layla, noch Daniel eine dabei. Es blieb also nichts anderes übrig, als sich in dem wenigen Licht, das es gab, so gut wie möglich umzusehen. Layla begann mit den Händen an der Wand entlang zu tasten. Auf einmal hob sie Daniel am Arm und machte ihr ein Zeichen. Da hörte es Layla selbst. Jemand war an der Vordertüre. Sie hörte ein Kratzen, als ob jemand einen Schlüssel in ein Schloss steckte und umdrehte. Dann hörte sie eine lange Kette, die auf den Boden fiel. Daniel wollte zur Türe hinaus fliehen, aber Layla hielt ihn davon ab. Vielleicht konnten sie ja durch diese Person, die gerade dabei war, die Vordertüre aufzuschließen, etwas herausfinden. Er durfte dazu aber weder sie und Daniel, noch die geöffnete Hintertüre, sehen. Nur wie sollten sie so schnell ein Versteck finden? Layla sah sich um und entdeckte an der Wand rechts neben der offenen Türe einen Schatten. Sie zog Daniel hinter sich her. Tatsächlich. Es war eine winzig kleine Nische, gerade mal groß genug, eine zierliche Person zu verbergen, die sich dazu aber mächtig verbiegen musste. Da Layla wesentlich kleiner und viel flexibler war, als Daniel, machte sie ihm ein Zeichen, dass es sich im Hinterhof verbergen solle, während sie sich in der Nische verstecken wollte. Daniel rannte so leise wie möglich aus Tür hinaus, während Layla versuchte, sich in die Nische zu quetschen. Daniel schloss gerade die Hintertüre, als die Vordertüre mit einem lauten Quietschen begann, aufzugehen. Layla war immer noch nicht voll in der Nische verschwunden. War sie doch zu optimistisch gewesen und nicht mal sie, der abgebrochene Meter, wie sie Peter oft nannte, passte in diese Miniaturnische. Ihr rechter Fuß war immer noch draußen und sie versuchte sich möglichst weit zu verrenken, um den Fuß endlich hineinziehen zu können. Das Tor war mittlerweile zur Hälfte geöffnet und sie konnte ihren weißen Sportschuh im einfallenden Licht immer noch deutlich sehen. „Mist“, dachte sie „warum muss ich auch diese bescheuerten weißen Schuhe anziehen?“ Es war zu spät, Daniel noch zu folgen und es fehlten noch mindestens zehn Zentimeter, bis sie den Fuß hineinziehen konnte. Layla verstärkte ihre Anstrengungen, aber als die Türe ganz geöffnet wurde, fehlten ihr noch immer fünf Zentimeter. Die Person trat jedoch noch nicht sofort ein, sondern begann fürchterlich zu schimpfen. Hatte er sie schon entdeckt? Layla brach der Schweiß aus allen Poren. Layla konnte den Mann an der Türe schon erkennen, aber er machte weiterhin keine Anzeichen, einzutreten. Er blickte nicht einmal hinein. Also hatte er sie doch noch nicht gesehen. Er war offensichtlich mit irgendetwas beschäftigt, dass nicht so klappte, wie er es sich vorstellte. Layla begann wieder wie wild herumzuhampeln, um den Fuß endgültig nachziehen zu können. Letztendlich gelang es Layla dann doch noch, aber dafür saß sie jetzt in einer furchtbar ungemütlichen Haltung in ihrem Versteck. Na, das konnte ja heiter werden. Lange würde sie diese Position nicht durchhalten können. Sie bekam ja jetzt schon fast einen Krampf in ihrem Hintern. Der Mann trat ein und zog etwas hinter sich her. Layla hörte das Meckern einer Ziege. Das war es also, was den Mann aufgehalten hatte, und dass sie damit letztendlich gerettet hatte. Der Mann band die störrische Ziege an einen Pfahl in der Mitte des Raumes, dann ging er zurück zur Türe. Licht ging an. Layla konnte an einem langen, unbefestigten Kabel eine Halterung mit einer nackten Glühbirne sehen. Sie zuckte zusammen. Trotz ihrer Bemühungen war es ihr nicht ganz gelungen, komplett in der Nische zu verschwinden. Im Licht der provisorischen Lampe konnte sie ganz deutlich ihr Knie sehen. Zum Glück war die Hose durch ihre Turnübungen beim Betreten ihres Verstecks ziemlich dreckig geworden, aber wenn der Mann genau hierher sah, dann musste er sie einfach sehen. Layla begann wieder herum zu ruckeln, aber das verstärkte nur den Krampf in ihrem Hintern. Deshalb ließ sie es lieber bleiben und vertraute auf ihr Glück. Der Mann schloss die Türe und wendete sich wieder der Ziege zu, die ganz aufgeregt zu schreien begann und mit den Hörnern in Richtung des Mannes stieß. Ganz offensichtlich hatte das Tier Angst. Dass diese Angst auch begründet war, zeigte sich auch einen Augenblick später, als der Mann ein großes Messer aus einer Scheide, die er an seinem Gürtel befestigt hatte, zog. Layla konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. In ihrem engen Versteck konnte sie dabei nicht einmal die Hand vor den Mund drücken. Das Tier, ganz offensichtlich ein prächtiger Ziegenbock begann an dem Seil, dass ihn an den Pfahl fesselte, zu ziehen. Als es ihm nicht gelang, sich zu befreien, begann es wieder mit den Hörnern nach dem Mann zu stoßen. Der Mann lachte auf und versetzte dem armen Tier einen mächtigen Faustschlag, dass das Tier halb betäubte, dann ging er um den Ziegenbock herum und schnitt ihm mit einer geschickten Bewegung die Hoden ab. Das arme Tier schrie vor Schmerzen und Panik auf. Layla stieg wieder der Brechreiz hoch. Der Mann nahm die abgetrennten Hoden und legte sie in eine Schüssel. Dann hob er beide Arme und begann einen Singsang in einer Layla unbekannten Sprache. Dabei begann er zu tanzen, wobei der Tanz sehr ungelenk und unkoordiniert erschien. Der Ziegenbock schrie herzerweichend. Layla hatte Mitleid mit ihm. Das Tier musste unter unerträglichen Schmerzen leiden. Der Mann drehte sich wieder um. Dabei fiel sein Blick auf Laylas Knie. Layla zuckte zusammen, aber der Mann reagierte nicht. Sein Singsang und der Tanz hatten ihn in eine Art Trance befördert. Er nahm anscheinend gar nichts mehr war, außer dem Ziegenbock, seinem Messer und dem Gesang. Abrupt beendete er diesen Gesang und murmelte einige Worte in dieser gutturalen Sprache. Dabei begann er erst sehr leise, wurde aber mit jedem Schritt, den er auf den Ziegenbock zuging, immer lauter. Das Tier begann wieder mit seinen Hörnern nach ihm zu stoßen, fing sich aber nur einen weiteren Faustschlag ein, bevor der Mann das Messer schwang und ihm mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchtrennte. Blut spritze aus der Wunde. Der Mann wurde davon getroffen, es schien ihn aber nicht zu kümmern. Ganz im Gegenteil. Entzückt lachte er auf und stürzte sich auf den sterbenden Ziegenbock. Es verbiss sich regelrecht in der immer noch heftig blutenden Kehle. Das Tier versuchte nochmals, sich aufzubäumen, war dazu aber zu schwach. Es verendete, während der Mann ihn immer noch in einer pervers anmutenden Umarmung umschlang. Als sie letzten Zuckungen des gequälten Tieres abklangen, ließ der Mann los. Er war von unten bis oben blutbesudelt. Wie im Gebet mit feierlich erhobenen Armen, stand er vor dem Kadaver. Layla spürte den Krampf in ihrem Hintern wieder, den sie bei der grausamen Zeremonie ganz vergessen hatte. Sie würde es nur noch Sekunden aushalten können. Plötzlich drehte der Mann den Kopf und sah Layla direkt an. Er begann zu lachen und hob wieder sein Messer hoch. Klaustrophobisch versuchte Layla sich zu befreien, aber ihre Muskeln verweigerten ihr den Dienst. Der Mann kam schnell näher. Layla schrie in Panik auf, während es ihr immer noch nicht gelingen wollte, ihren verdrehten, steifen Körper aus der viel zu engen Nische herauszuwinden. Gerade als er mit der freien Hand Layla greifen wollte, öffnete sich explosionsartig die Hintertüre. Die Türe knallte dem Mann mit voller Wucht an den Kopf und warf ihn zurück. Mit einem Sprung war Daniel über ihm und schlug ihm ein großes, massives Holzbrett an den Kopf. Layla konnte hören, wie dabei der Schädelknochen brach. Der Mann blieb bewegungslos liegen. Daniel schaute ihn geschockt an und warf das Holzbrett von sich, das mit einem lauten Knallen zu Boden fiel. Dann übergab sich Daniel. Mittlerweile war es Layla letztendlich doch gelungen, aus ihrem Versteck heraus zu kriechen. Sie war immer noch am ganzen Körper taub, nur in ihrem Hintern, da schienen einhundert Messer von der Größe, wie sie der Mann benützt hatte, zu wüten. Sie legte Daniel die Hand auf die Schulter. Der zuckte zusammen und schluchzte.
„Ich habe ihn umgebracht!“
„Nur lass uns doch erstmal kontrollieren, ob er wirklich tot ist und wenn es so ist, dann war es ganz klar Notwehr. Der Kerl hätte mich in Scheiben geschnitten!“
Layla ging zu dem Mann und suchte an der Halsschlagader einen Puls. Tatsächlich. Sie konnte einen schwachen Puls spüren. Ob er jedoch auch wirklich überleben würde, dass wusste Layla natürlich nicht.
Daniel zitterte immer noch unkontrolliert und sah Layla mit schockgeweiteten Augen an. Um ihn zu beruhigen, sagte Layla.
„Er lebt. Mann, muss der eine harte Birne haben!“
Daniel sah sie immer noch ungläubig an, sah aber schon wesentlich ruhiger aus. Layla sah sich im Raum um. Tatsächlich. Der hintere Teil der Kirche war durch eine nachträgliche eingebaute Wand von der kleinen Kammer, in der sie standen, abgetrennt. Die Kammer war bis auf den Pfahl, vor dem der bedauernswerte Ziegenbock in seinem Blut lag, total leer. Laylas Versteck war gar keine Nische gewesen, sondern war ein einfach ein Teil der nachtäglich eingezogenen Wand, der zu bröckeln begann und bei dem einige Steine fehlten. Der hintere Teil ihrer Nische war dann auch keine Mauer, sondern wie sich später herausstellte ein massiver Holzschrank.
Layla ging an der Wand entlang, besorgt darauf achtend, weder dem verletzten Mann, noch den toten Ziegenbock anzusehen. Genau am anderen äußersten Ende der Wand, neben dem Eingang, zu welchem der Mann die Kammer betreten hatte, war eine Tür.
Die Türe war sehr niedrig. Selbst Layla musste sich bücken, um einzutreten. „So stellt man sicher, dass die Leute nur mit gebeugtem Haupt eintreten“ dachte Layla. Ihr war schon lange klar geworden, dass dies keine Holz- oder Möbelgeschäft, sondern der getarnte Tempel einer Sekte war, die hier blasphemischen Rituale durchführte. Layla betrat den Hauptraum und blieb wie angewurzelt stehen. Geschockt rief sie nach Daniel.
Der Raum war hell erleuchtet. Wahrscheinlich hatte der Mann, als er den Schalter für das Licht im Nebenraum umlegte, auch hier im Hauptraum die Lampen erleuchtet. Layla stand von einem Altar aus geschliffenem Onyx. Der musste ein Vermögen gekostet haben. Auf dem Altar lagen ein toter Hund und ein totes Schaf. Beiden war die Kehle durchschnitten worden. Layla weigerte sich nachzusehen, ob auch diesen armen Kreaturen ebenfalls die Hoden abgeschnitten worden waren. Daher kam also der bestialische Gestank nach Verwesung! Die Wände des Raumes waren in einer rostroten Farbe gestaltet, wobei sich Layla der Gedanke aufdrängte, es könnte auch etwas andere, als Farbe sein, mit der die Wände gestrichen worden waren. Seltsam war, dass trotz des Gestankes der verwesenden Tiere nicht eine einzige Fliege im Raum zu sehen war. Normalerweise müssten doch Millionen dieser lästigen Insekten im Raum herumschwirren. Warum ließen sie sich solch ein Fastmahl entgehen?
Im Raum waren keine Bänke, nicht einmal ein einsamer Stuhl. Die Zeremonien wurden also im Stehen durchgeführt. Oder die Leute tanzten sich dabei in Trance, wie der Mann, der jetzt röchelnd im Nebenraum lag.
Trotz des Ekels, der ihr fast die Fähigkeit nahm, zu atmen, trat Layla ein, dicht gefolgt von Daniel, der ebenfalls scharf einatmete, als er sich umschauen konnte.
Im Raum war ansonsten nicht eine einzige Verzierung zu sehen, keine Statue, kein Symbol des Glaubens. Layla drehte sich um, um sich den Altar genauer zu betrachten und als sie die Wand hinter dem Altar erblickte, zog es ihr fast die Füße unter dem Hintern weg. Zentral genau hinter dem Altar war genau dasselbe Abbild, das ihr Peter vor einigen Stunden per MMS auf ihr Handy gesandt hatte, nur natürlich wesentlich größer. Es schien fast die gesamte freie Fläche der Wand einzunehmen. Die Bestie! In dieser Größe war das Bild noch viel eindrücklicher und Furcht einflößender. Fast schien es lebendig. Layla hatte das Gefühl, die Bestie würde sie durch das Bild hindurch ansehen und müsste jeden Moment aus dem Rahmen springen, um sie anzufallen. Daniel hatte das Bild ebenfalls bemerkt und fragte mit angewiderter Stimme:
„Um Gottes Willen, was ist denn das? Es sieht aus, als wäre das Bild direkt in der Hölle gemalt worden!“
„Es ist ein Werwolf!“
Daniels Augen weiteten sich. Er setzte zu einer Antwort an, schien aber dann doch nicht die richtigen Worte zu finden. Deshalb sagte er erst einmal gar nichts. Ihm als Vollblutmexikaner schien es leichter zu fallen, diese Erklärung zu akzeptieren, als es bei Layla anfänglich der Fall gewesen war. Im Grunde genommen waren die Mexikaner nicht nur sehr gläubig, sondern oft auch etwas abergläubig.
Layla riss ihren Blick von der Bestie los und sah sich weiter im Raum um. Der Raum schien ansonsten wirklich völlig leer zu sein, nur eben vor ihrer Nische, da war dieser massive Schrank. Layla ging hin, öffnete die Türen und hätte sich fast übergeben. Wenn es schon in dem ganzen Gebäude – Layla weigert sich, es „Kirche“ zu nennen –, wenn es hier schon stank, dass einem der Atem verging, dann war das gar nichts gegen die Pest, die Layla aus dem Schrank entgegenwehte. Dort waren in drei regalähnlichen Unterteilungen kleinen Schälchen ausgestellt, jedes gefüllt mit einem blutigen Fleischbrocken. Aus dem Biologieunterricht meinte Layla sich zu erinnern, dass es sich dabei um Herzen handeln musste.
Das wollte Layla jetzt doch genauer wissen. Sie ging zu den geopferten Tieren. Die Hoden waren denen zwar erwartungsgemäß tatsächlich abgeschnitten worden, aber die Brust schien unberührt. Wem gehörten dann diese Herzen? Layla ging zurück zum Schrank und was ihr dann als erstes auffiel, war, dass alle Herzen in etwa die gleiche Größe und die gleiche Form aufwiesen. Konnte es sein, nein, dass wäre dann doch zu grausam und sprengte Laylas Vorstellungsvermögen, aber konnte es nicht doch sein, dass es sich dabei um menschliche Herzen handelte? Jetzt konnte Layla ihren Mageninhalt doch nicht mehr bei sich halten und übergab sich genau vor dem Schrank. Voller Wut schlug sie den Schrank wieder zu. Sie wollte diesen Raum, dieses Gebäude nur noch verlassen. So schnell, als möglich.
„Das ist ja unglaublich!“
sagte Daniel, der sich die Wand um das abstoßende Bild der Bestie herum genau betrachtete. Layla trat zu ihm. Zuerst sah sie nur Linien, aber dann erkannte auch sie denn Sinn hinter den Linien. Sie konnte die Pyramide erkennen, die Plaza Mayor, das Gebäude hier und auch eine dunkelrote Linie, die sich in gewundenen Kurven nach oben wandte. Es war offensichtlich eine Landkarte!
Sie hatten den geheimen Pfad von Cholula gefunden!
Daniel zückte sein Handy und machte mehrere Fotos von der Karte, aus allen erdenklichen Winkeln.
Plötzlich schrie Layla gequält auf. Das Silberamulett an ihrer Brust wurde plötzlich glühend heiß, dass sie es nicht mehr auf der Haut aushielt und hervor nehmen musste. Es leuchtete tiefblau. Da fiel Layla auf einem Mal eines auf. Das Amulett war schon deutlich wärmer geworden, als sie das Gebäude betreten hatten und es war regelrecht heiß geworden, als sie diesen Altarraum betreten hatte. Sie hatte dies aber nur ihren überforderten Nerven zugeschrieben und nicht als real angesehen. Jetzt war es aber nicht mehr abzustreiten. Das Amulett wollte ihnen irgendetwas mitteilen, fast so, wie es sie zur Pyramide gesandt hatte, um die arme alte Frau und den Priester zu treffen.
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es drohte Gefahr. Dies bedeutete wohl, dass jemand kam. Sie schrie Daniel zu
„Raus hier, schnell!“
Zum Glück reagierte Daniel unverzüglich und rannte zur Tür. Layla war noch schneller. Mit großen Sprüngen hetzte sie zum offenen Hintereingang. Daniel war nur Zentimeter hinter ihr. So schnell sie konnten, kletterten sie unter dem Zaun hindurch und hasteten zum Auto. Schon aus fünf Meter Entfernung öffnete Daniel die Türe. Beide waren fast gleichzeitig am Auto, öffneten die Türe und hechteten ins Innere.
Das Amulett war mittlerweile so heiß geworden, dass es Layla fast ein Loch in die Bluse brannte. Sie musste es abnehmen und tat es in ihre Handtasche. In der Zwischenzeit startete Daniel den Motor und fuhr an.
Im selben Moment, als Daniel auf die Strasse fuhr und den Wagen beschleunigte, sprang ein untersetzter Mann aus der offenen Tür des verfluchten Gebäudes. Trotz seiner Fülle bewegte er sich elegant und anmutig. Er schaffte es sogar fast, das Auto noch zu erreichen, bevor Daniel das Gaspedal voll durchtrat und der Wagen einen Sprung nach vorne machte. Trotzdem bekam das Fahrzeug noch einen Schlag von der Person ab, der das Fahrzeug zum Schlingern brachte. Wie konnte ein menschliches Wesen nur so hart zuschlagen und vor allen Dingen, wie konnte es sich so unverstellbar schnell bewegen?
Angsterfüllt drehte sich Layla um. Daniel hatte den Wagen wieder in Beherrschung bekommen und trat das Gaspedal wieder bis zum Boden durch.
Zum Glück brach der Mann den Angriff ab und setzte dem Auto nicht weiter nach. Er lächelte sogar und winkte dem Fahrzeug hinterher, dann drehte er sich um und ging zum Gebäude zurück.
Layla nahm vorsichtig das Amulett wieder aus der Tasche und betrachtete es. Es war immer noch warm. Was war dies nur? Es schien sie zu führen und vor Gefahr zu warnen. Nur leider wurde es dabei unerträglich heiß. Und warum hatte es sie nicht davor gewarnt, dass Lupi entführt wurde. Es hatte sie ebenfalls nicht von Antonio Gonzales López bei der Polizeistation gewarnt. Warum nur? Warum führte es sie manchmal, die meiste Zeit jedoch nicht, warum warnte es sie manchmal, manchmal jedoch nicht? Warum bereitete es ihr dabei solche unerträgliche Schmerzen? Layla wurde klar, dass sie noch so vieles nicht wusste. Auch Dinge, die überlebenswichtig für sie waren. Nachdenklich zog Layla die Kette wieder über den Kopf. Jetzt war das Amulett wieder kühl. Es fühlte sich sogar angenehm auf der sich bildenden Brandblase auf ihrer Brust an.