Читать книгу Der geheime Pfad von Cholula - Michael Hamberger - Страница 17
Aus den Aufzeichnungen von Ocelotl, verstoßener Jaguarkrieger ohne Volk Weiterer Verlauf der Aufzeichnung: Im Jahre des Herrn 1525, wobei dieses Datum später aus dem Aztekischen Kalender umgerechnet wurde.
ОглавлениеSeit ich verstoßen worden war, waren fünf Xihuitl, also Sonnenjahre vergangen, die ich alleine in der Wildnis verbringen müsste. Es waren harte Jahre der Entbehrungen gewesen.
Mittlerweile konnte ich meine zweite Natur gut kontrollieren und sogar zu meinen Gunsten einsetzen. Anfänglich war ich dem ständigen Wechsel hilflos ausgeliefert. Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Alle drei bis vier Tage verlor ich die Kontrolle über mich selbst und wachte dann immer blutüberströmt wieder auf, meistens ein totes, schrecklich zerfleischtes Tier neben mir. Zweimal waren es sogar tote Menschen gewesen. Niemals von meinem eigenen Volk, sondern immer von den verräterischen Tlaxcalteken, die, wie ich erfuhr mit den Bleichgesichtern, den Spaniern gemeinsame Sache gemacht hatten, die wiederum leider niemals mehr unter meinen Opfern waren.
Dann aber lernte ich diese zweite Natur zu zügeln. Ich verlor nicht mehr die Kontrolle über mich selbst in diesen Nächten. Nach einiger Zeit konnte ich es sogar bewusst steuern. So sehr ich diese zweite Natur zu Anfang hasste, so sehr liebte ich sie mit der besseren Kontrolle immer mehr. Es war atemberaubend, was diese zweite Natur aus mir machte. Auch wenn ich es mir anfänglich nicht vorstellen konnte, war ich durch sie noch stärker, noch schneller und damit noch tödlicher geworden. Langsam begann ich zu verstehen, dass der winzige Spanier auch über solch eine zweite Natur verfügt haben musste, dass er mich auf diese Weise hatte besiegen können. Diese Erkenntnis brachte mir auch mein Selbstbewusstsein zurück, das mir diese bittere Niederlage geraubt hatte.
Mein Volk schien dagegen meine Gräueltaten vergessen zu haben. Dies war auch kein Wunder, da sie unter den Spaniern sehr zu leiden hatten, deren Gräueltaten fast noch schlimmer waren, als die meinen. Außerdem hatte außer den Gräueltaten auch diese Pocken Krankheit, die die Bleichgesichter mitgebracht hatten, mein Volk fast komplett ausgelöscht.
Dann traf ich einen alten Kriegskameraden, der mir zwei Dinge berichtete. Erstens hatten die Spanier, Cuauhtémoc, den letzten Huey Tlatoani, hinrichten lassen. Es gab das mächtige Volk der Mexica also nicht mehr. Sie waren nur noch die Sklaven der Bleichgesichter. Auf jeden Fall diejenigen, die die Kriege und die Pocken überlebt hatte, was offensichtlich nicht sehr viele waren. Das zweite was ich erfuhr und das brachte mich noch viel mehr in Rage, war die Tatsache, dass der Winzling, der mich besiegt und getötet hatte, meine heiß geliebte Tochter nicht nur entführt hatte, sondern sie auch offensichtlich nach Spanien verschleppt hatte.
Dies war dann der Funke, der mich aus meiner Lethargie riss. Ich beschloss, ich würde ihn finden und meine Tochter zurückholen. Dann würde ich ihn töten. Diesmal würde ich mich nicht von ihm überraschen lassen. Das Leben in der Natur hatte mich eher noch stärker gemacht, nicht zu vergessen der Kraft, die mir meine zweite Natur gab.
Nachdem ich meinen ehemaligen Kriegskameraden getötet hatte, nahm ich seine Stelle ein. Er hatte den Auftrag zu der Stadt der schwimmenden Häuser, die die Spanier Veracruz nannten, zu gehen. Das machte dann ich an seiner Stelle. Der Auftrag, den er zu erledigen hatte, war dann auch sehr schnell erledigt, und so ließ ich mich als Sklave auf eines ihrer schwimmenden Häuser, die sie Schiffe nannten, bringen, das bald in ihre Heimat zurückkehren sollte.
Die lange Reise auf diesem Schiff machte es natürlich für mich sehr schwierig, fast sogar unmöglich, meine zweite Natur zu kontrollieren. Zum Glück waren die Spanier von dem Gold und den Frauen meines Volkes so berauscht, dass es ihnen gar nicht auffiel, dass jede dritte Nacht einer ihrer Sklaven fehlte. An den Spaniern selbst vergriff ich mich niemals. Da war das Risiko einfach zu hoch.
Endlich kamen wir dann in Spanien an. Mein Problem war jedoch, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht sehr viel Spanisch sprach und es mir deshalb unmöglich war, die Verfolgung des Winzlings sofort aufzunehmen. Ich wusste durch Unterhaltungen auf dem Schiff, dass in Spanien entlaufene Sklaven gnadenlos gejagt wurden. Ich beschloss daher zuerst weiter in der Sklaverei zu verbleiben, bis ich dieser Sprache mächtig sein würde. Ich hatte dabei Glück. Durch meine Größe und meine Kraft wurde ich in der Landwirtschaft eingesetzt. Dadurch war ich praktisch immer in der freien Natur, wodurch meine zweite Natur nicht auffiel. Trotzdem beeilte ich mich, die spanische Sprache zu lernen. Mein Fleiß fiel auch dem Plantagenbesitzer auf, der dies als eine Art Anpassung an die überlegene Kultur der Spanier sah und mich aufgrund dessen zum Vorarbeiter ernannte. Dies brachte mir einige für mich sehr wichtige Privilegien ein. So konnte ich mich innerhalb der Plantage fast komplett frei bewegen. Auch in der Nacht. So lief ich nicht in die Gefahr, dass meine zweite Natur entdeckt wurde. Vor meiner Ernennung zum Vorarbeiter war es oft sehr knapp gewesen, sodass es nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis ich entdeckt geworden wäre. Einmal hatte ich sogar einen Spanischen Aufseher, der mich entdeckt hatte, töten müssen. Zum Glück war seine Leiche niemals gefunden worden.
In weniger als einem Jahr war ich in der Spanischen Sprache fast perfekt, sodass ich mich meinem Ziel wieder zuwenden konnte, meine Tochter aus den Klauen des Winzlings zu befreien.
Ich musste aber erst wieder frei sein und zwar so, dass ich möglichst nicht gejagt werden würde. Da hatte ich eine Idee. Es gab in der Plantage einen weiteren Sklaven, der ähnlich groß war, wie ich. Er war jedoch aus Afrika und durch das war seine Hautfarbe wesentlich dunkler, als die meine. Seine Kleidung bestand nur aus Lumpen, während ich als Vorarbeiter wenigstens ein Hemd und eine Hose, sowie Schuhe besaß. Eines Abends bat ich deshalb diesen Sklaven zu mir. Er hieß Kudda, wobei ich aber nicht weiß, ob dies wirklich sein Name war. Er war des Spanischen überhaupt nicht mächtig und „Kudda“ war das einzige Wort, was man bei ihm verstehen konnte, weshalb wir ihn einfachheitshalber so nannten. Er kam also zu mir und versank vor Ehrfurcht fast in den Boden. Als ich ihm dann auch meine komplette Kleidung schenkte, war er ganz außer sich vor Freude. Er zog sie auch gleich an. Sie passte ihm, wie angegossen. Ich wartete, bis er wieder gegangen war, dann leitete ich die Verwandlung in meine zweite Natur ein. Kaum war ich damit fertig, nahm ich die Verfolgung von Kudda auf, den ich auch kurz später direkt vor mir gehen sah. Ich sprang ihn an und mit einem gezielten Biss trennte ich seinem Kopf von seinem Körper. Ich vergrub den Kopf tief in der Erde, wo man ihn wahrscheinlich nie mehr wieder finden würde. Dann begann ich Kudda in wilder Raserei zu zerfleischen, sodass er am Ende fast nicht mehr als menschliches Wesen zu erkennen war. Dabei achtete ich jedoch darauf, dass trotz aller Raserei meine Kleidung noch erkennbar blieb. Man sollte ihn ja für mich halten. Ich wäre dann tot. Tot und frei und Kudda würde als mein Mörder gejagt und niemals gefunden werden.
*
Nur mit einem Lendenschurz gekleidet, floh ich aus der Plantage. Ich rannte die ganze Nacht und brachte dadurch viele Kilometer zwischen die Plantage und mir. Dann am frühen Morgen sah ich ein Lager, an dem zwei Mönche schliefen. Keiner von beiden war auch nur annähernd so groß, wie ich, aber es war besser, als gar nichts, also überfiel ich die beiden und tötete auch sie. Dann nahm ich dem größeren der beiden die Kutte ab, mit der ich mich mühsam bekleidete. Zum Glück hatten diese Kutten einen weiten Schnitt, sonst hätte ich wohl unmöglich hineingepasst. Ich vergrub die beiden Leichen tief in der Erde, dann machte ich mich wieder auf den Weg.
Ich hatte durch meinen Kriegskameraden erfahren, dass der Winzling in einer Stadt namens Salamanca lebte. Ich wusste, dass diese Stadt irgendwo westlich von meiner momentanen Position liegen musste, also beschloss ich nach Westen zu gehen. Trotz dass mir die Kutte des getöteten Mönchs natürlich viel zu klein war, brachte man mir auf dem Weg sehr viel Erfurcht entgegen. Niemand schien etwas zu spüren. Es schien ihnen auch nicht seltsam zu erscheinen, dass ein riesiger Mönch mit deutlich dunklerer Hautfarbe in einer viel zu kleinen Kutte durch das Land wanderte und nach dem Weg nach Salamanca fragte. Es schien öfters vorzukommen, dass Mönche in Kutten herumliefen, die ihnen so gar nicht passten. Die Verkleidung war also perfekt.
Nach drei Tagen wusste ich genau, wo Salamanca lag, und kam dem Ziel mit jedem weiteren Tag deutlich näher, bis ich endlich in dieser Stadt ankam. Meiner Meinung nach war Salamanca nicht so schön, wie Tenochtitlán, hatte aber doch seinen Reiz. Ich war beeindruckt, dass die Spanier so etwas fertig gebracht hatten.
Das Eindrucksvollste in Salamanca waren jedoch die Menschen selbst. Ich hatte noch niemals solch eine Vielfalt von verschiedenen Menschenrassen gesehen, nicht einmal in Tenochtitlán.
Ich machte mich auch gleich auf die Suche nach dem Winzling. Ich wusste lediglich, dass er ein Adliger war und hier in Salamanca lebte. Die Suche würde also wohl etwas länger brauchen. Ich musste also irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen, um hier überleben zu können. Also ging ich in Richtung des Zentrums von Salamanca und stand plötzlich vor der größten Baustelle, die ich jemals gesehen hatte. Nicht einmal diejenige der großen Pyramide von Tenochtitlán war ähnlich groß gewesen. Es wurde an dieser Baustelle eine große Kirche gebaut. Wie es sich später herausstellte, war es das Kloster San Esteban, dass dort gebaut wurde. Hier würde ich sicher Arbeit finden. Ich musste dazu aber erst einmal die Kutte loswerden, denn einem Mönch würde wohl keine körperliche Arbeit zugetraut werden.
Ich beobachtete die Kirche einen ganzen Tag lang. Da fiel mir ein großer, sehr kräftiger Arbeiter auf, der eine ähnliche Statur hatte, wie ich selbst, wenn er auch deutlich kleiner war, als ich. Der wäre perfekt für mein Vorhaben. Ich wartete also, bis er seine Arbeit beendete und die Baustelle verließ. Ich folgte ihm. Er ging in eine dreckige, übel riechende Bar. In einem Schatten circa 20 Meter von der Bar entfernt, leitete ich die Verwandlung in meine zweite Natur ein. Dann wartete ich.
Der Mann kam jedoch nicht mehr hinaus, auch Stunden später nicht. Also ging ich ihn suchen. Mit dem scharfen Blick der Augen meiner zweiten Natur sah ich in die Fenster der Bar und mir wurde bei dem Anblick speiübel. In jedem der dunklen Räumen war ein Mann mit einer Frau – in zwei Räumen sogar mit zwei Frauen – und paarten sich. Es war einfach nur widerwärtig und ich wäre am liebsten in alle Räume gegangen und hätte alle dort befindlichen Personen zerfleischt. Aber ich wollte nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen.
Kurz später fand ich den großen Arbeiter. Auch er paarte sich mit einer Frau, wobei er sie zwischendurch auch immer einmal schlug, was wiederum der Frau zu gefallen schien. In was für eine Welt war ich hier herein geraten? Ich fragte mich, wer denn nun die Barbaren waren.
Ich sprang also durch das Fenster direkt in das stinkende Zimmer, wo der Arbeiter seiner perversen Neigung nachging. Mit einem einzigen gezielten Biss tötete ich ihn. Die Frau sah mich mit schockgeweiteten Augen an und sagte immer wieder das Wort „Werwolf, Werwolf“. Ich hatte keine Ahnung, was dies bedeutete, war mir aber sicher, dass es mit mir zu tun hatte. Dann merkte ich, dass sie im Begriff war, zu schreien, also schlug ich mit meinen Krallen zu und tötete sie mit diesem Schlag. Ich nahm die Kleider des Arbeiters und ging von dannen. Kaum hatte ich das stinkende Haus wieder verlassen, da hörte ich es hinter mir schreien. Ich drehte mich um und sah eine weitere Frau, die offensichtlich die Leichen gefunden hatte. Schnell lief ich davon.
Ich verwandelte mich im Schatten eines großen Baumes wieder in meine erste Natur. Dann probierte ich die Kleidung des Mannes, die mir sehr gut passte, auch wenn sie etwas zu kurz geraten war. Komisch, dass es ihn Spanien auch Männer meiner Statur gab und nicht nur Winzlinge.
Gleich am nächsten Morgen begab ich mich zu der Baustelle des Klosters und fragte nach Arbeit. Natürlich gab es bei einem solch großen Projekt genug zu tun, also wurde auch mir eine Arbeit zugeteilt. Durch meine allüberragende Statur bekam ich die Aufgabe, die schweren Steine an die Plätze zu bringen, wo sie gebraucht wurden. Natürlich machte mir die körperliche Arbeit nichts aus, ich genoss sie sogar.
Bei jeder sich gebenden Gelegenheit fragte ich nach dem Winzling und schon kurz später wusste ich seinen Namen. Marqués Carlos Alavaréz del Rosário! Ich wurde aber eindrücklich gewarnt, dass es ein sehr gefährlicher Mann sei. Auch das Wort „Werwolf“, das die Frau in der ekelhaften Bar gerufen hatte, fiel wieder. Um nicht für dumm gehalten zu werden, fragte ich da aber nicht genau nach.
Nach der Arbeit begann ich dann mit meinen Nachforschungen über den Marqués Carlos Alavaréz del Rosário. Da er sehr bekannt in Salamanca war, fand ich sehr schnell raus, wo er wohnte. Aber es war auch offensichtlich, dass die Leute Angst vor ihm hatten. Mehrere Leute machten sogar das Zeichen des Kreuzes auf ihrer Brust, wenn ich sie auf ihn ansprach.
Am späten Abend machte ich mich auf die Suche nach dem Marqués. Als ich dann vor dem Palast des Winzlings stand, war ich doch sehr beeindruckt. In Tenochtitlán hatte nur der Huey Tlatoani einen solchen Palast.
Ich leitete die Verwandlung in meine zweite Natur ein und beobachtete den Palast. Kurz später kam tatsächlich der Winzling. Ich konnte gerade noch solange meinen Hass bändigen, bis er die Türe geöffnet hatte, dann sprang ich vor. Er bemerkte mein Kommen erst, als ich schon direkt hinter ihm war. Er drehte sich blitzschnell um, aber ich war schon zu Nah und schlug ihn mit all meiner Kraft und all meiner Wut auf die Brust. Der Winzling wurde quer durch seine komplette Eingangshalle geschleudert. Ich sprang ihm nach, doch auch der Winzling zeigte seine überragende Kraft, die in seiner zweiten Natur entsprang. Er sprang aus dem Liegen hoch, drehte sich und griff mich an. Nur ich war nicht mehr dieser schwache, überhebliche Jaguarkrieger, den er so leicht hatte besiegen können. Die zweite Natur, mit der er mich angesteckt hatte, die war auch in mir, nur dass sie bei mir in einem gewaltigen, kräftigen Körper steckte, und nicht in einer Knabenstatur. Ich fing also den Winzling mit nur einer Hand auf und schmiss ihn wieder zu Boden. Dann sprang ich ihm nach. Aber auch diesmal war er sehr schnell. Bevor ich auf ihm landen konnte, sprang er auf die Beine und mit zwei weiteren Sprüngen die Treppen hoch zum zweiten Stock. Ich folgte ihm genauso schnell, konnte aber nicht verhindern, dass er in ein Zimmer eindrang und eine schwere Gittertüre schloss, die ich nicht öffnen konnte. Dort hinter dieser Gittertüre, für mich im Moment unerreichbar, sah er mich hasserfüllt an. Dann sprach er, wobei man diese knurrende Laute in Verbindung mit Bewegungen der Arme, des Kopfes und teilweise auch des kompletten Körpers wohl kaum als „Sprache“ definieren konnte. Trotzdem verstand ich ihn perfekt. Überrascht war ich, dass ich ihm sogar auf die gleiche Art antworten konnte. Mir fiel zu diesem Zeitpunkt auf, dass ich in meiner zweiten Natur noch niemals gesprochen hatte. War dies also die Sprache der Monster dieser zweiten Natur? Er sagte:
„Du bist der Indio aus Neuspanien, den ich nicht töten konnte!“
„Ja, der bin ich und jetzt ist die Zeit meiner Rache gekommen!“
„Du bist also auch ein Werwolf geworden. Das ist köstlich! Wie hast Du es geschafft, Dich zu verbergen, damit Du bis hierher vordringen konntest?“
Ich antwortete nicht sofort. Das war also der Name der zweiten Natur. „Werwolf“. Das erklärte natürlich alles. Er sah mich an, dann fuhr er in Plauderton fort. Es schien ihn offensichtlich sehr zu amüsieren, einen weiteren Werwolf gefunden zu haben, woraus ich schloss, dass es sehr wenige Menschen mit dieser zweiten Natur zu geben schien.
„Nach mir bist Du der zweite Werwolf, den ich je gesehen habe. Ich scheine Dich irgendwie angesteckt zu haben. Also ich bin schon seit Geburt ein Werwolf.“
Ich musste ein ungläubiges Gesicht gemacht haben, denn er begann laut an zu lachen. Dann fuhr er fort:
„Lass mich dir erzählen, wie es dazu kam: Als meine Mutter hochschwanger zu mir war, erkrankte ihre Schwester, die in Córdoba, einer Stadt im Süden von Spanien, wohnte. Sie bat meine Mutter um ihren Beistand. Da meine Mutter ihre Schwester sehr liebte, reiste sie trotz ihres Zustands dorthin, um ihrer Schwester zu helfen. Sie kam jedoch dort niemals an. Ziemlich genau in der Mitte des Weges kam sie mit ihrer Kutsche und ihrem Hofstaat in einen finsteren Wald. Plötzlich hörten sie ein seltsames Heulen. Wölfe gab es zu der Zeit sehr viele in den Wäldern von Spanien, aber dieses Heulen jagte meiner Mutter und ihren Begleitern einen gewaltigen Schrecken ein. Den Pferden der Kutsche offensichtlich auch, denn sie gingen durch. Trotzdem kam das Heulen immer näher, bis plötzlich auf einem Hügel direkt vor ihnen ein gigantischer schwarzer Wolf mit grell leuchtenden Augen stand. Die Pferde scheuten. Dadurch wurde der Wagen umgeworfen. Meine Mutter wurde aus dem Wagen geschleudert. Noch bevor die Soldaten, die meine Mutter zu bewachen hatten, reagieren konnten, sprang der Wolf meine Mutter an und biss sie direkt in den Bauch. Dadurch platzte die Bauchdecke auf, was mehr oder weniger meine Geburtsstunde war. Meine Mutter starb natürlich augenblicklich an dieser gewaltigen Verletzung. Der Wolf hatte es aber offensichtlich auf mich abgesehen und wollte gerade nach mir schnappen, als er von Speer des Hauptmannes getroffen wurde. Der Speer schien in nicht zu beeindrucken, er verletzte ihn nicht einmal, aber als die anderen Soldaten auch noch mit gezogenen Waffen ankamen, dann gab er sein Vorhaben auf und floh.
Natürlich gab man mir keine Chance zu überleben. Zu früh und auf diese Weise geboren, ohne Mutter. Aber trotzdem überlebte ich. Ich war jedoch anders, als alle anderen Kinder. Ich war viel kleiner, als Knaben meines Alters, trotzdem waren sie mir an Körperkraft weit unterlegen. Sie hatte sogar Angst vor mir, was ich natürlich sehr genoss. Ich war ein Marqués, weshalb es sich niemand wagte, gegen mich zu stellen. Die Kinder mussten also mit mir spielen, auch wenn es mir die größte Freude bereitete, sie zu quälen. Ich kam auch nicht in eine normale Schule, sondern bekam einen Privatlehrer, aber weil mich seine Lektionen nur langweilten, tötete ich ihn. Mein Vater, der ganz im Gegenteil zu mir ein herzensguter Mensch war, war durch meine aggressive Wesensart zwar geschockt, aber da ich der einzige Sohn seiner geliebten Frau war, akzeptierte er mich trotzdem. Und als ich 14 Jahre alt war, gab er mich in eine Militärschule. Dort war ich dann erst voll in meinem Element. Ich konnte kämpfen, quälen und töten, ganz so, wie ich wollte. Den Rest kennst Du ja.“
„Was bedeutet ‚Werwolf’?“
„Woher der Begriff Werwolf stammt, weiß ich nicht. Er kommt irgendwo aus dem Norden von Europa. Dort scheint es weitere Werwölfe zu geben, aber gesehen habe ich noch keinen, obwohl ich zweimal dorthin gereist bin. Es gibt zwar Legenden über Wölfe mit unvergleichlicher Stärke, Intelligenz und Überlegenheit. Aber dies sind trotzdem noch eindeutig Wölfe und keine Wolfsmenschen. Ich habe niemals gehört, ist, dass es weitere Menschen gibt, die wie ich dieses neuartige Werwolf Gen in sich tragen. Ich bin der erste dieser speziellen Art. Und jetzt natürlich Du.“
„Auch ich scheine anders zu sein, denn am Tag bin ich ein normaler Mensch. Erst in der Nacht verwandle ich mich in diese zweite Natur. Du dagegen scheinst offensichtlich am Tag und bei Nacht in dieser Gestalt zu sein.“
Der Winzling begann zu lachen. Irgendetwas schien ihn köstlich zu amüsieren. Verwirrt sah ich ihn an. Etwas Wichtiges musste mir entgangen sein. Ich hatte das Gefühl, dass der Winzling mit seiner Geschichte nur versucht hatte, Zeit zu gewinnen. Aber Zeit wofür? Da fiel mir ein, weswegen ich eigentlich gekommen war. Ich begann deshalb wie rasend an der Gittertüre zu zerren. Es gelang mir auch, die Gitter zu verbiegen, aber die Türe ging nicht auf, also schrie ich ihn an:
„Du Ausgeburt der Hölle, gib mir meine Tochter zurück!“
„Ach deshalb hast Du mich verfolgt. Nein, Deine Tochter kann ich Dir nicht zurückgeben, denn sie gehört mir.“
„Wo ist sie?“
Der Winzling lachte laut auf und deutete hinter mich. In diesem Moment sprang mich etwas an und verabreichte mir einen gewaltigen Schlag, der mich zu Boden schleuderte. Vor mir stand ein weiterer Werwolf. Der Winzling wieherte vor Freude und sagte:
„Ach, habe ich vergessen zu erwähnen, dass es noch einen weiteren Werwolf gab, den ich geschaffen habe? Es ist Deine Tochter. Sie ist übrigens wie Du. Am Tage ein schwacher Mensch, in der Nacht ein kraftvoller Werwolf!“
Vor Schreck starr blickte ich in die Augen des zweiten Werwolfs. In diesem Moment öffnete der Winzling die Türe und griff mich ebenfalls an. Das riss mich aus meiner Lethargie. Ich spürte förmlich, wie die Wut in mir hoch kochte. Ich sprang auf die Beine, packte den Winzling und biss ihm in die Kehle. Zu meiner Überraschung konnte ich jedoch die Haut selbst mit meinen scharfen Zähnen nicht durchtrennen. Im selben Moment bekam ich einen weiteren Schlag von meiner Tochter. Ich stieß sie weg, dann attackierte ich wieder den Winzling. Mit meiner ganzen, gewaltigen Kraft schlug ich auf ihn ein. Wieder und wieder, bis mich meine Tochter erneut angriff. In meiner Wut schlug ich sie diesmal. Sie flog rückwärts auf die Treppe zu und stürzte nach unten. Der Winzling schrie auf und wollte ihr folgen, aber er kam nur einen Schritt weit, bevor ihn ein weiterer gewaltiger Schlag von mir traf. Er stürzte zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Ich sprang auf ihn und schlug wie rasend mit meinen Krallen auf ihn ein. Ich biss ihn ebenfalls, aber keines dieser gewaltigen Gewalteinwirkungen schien ihn ernsthaft zu verletzen. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, ihn zu schlagen. Ich hatte mich in eine unkontrollierbare Wut hineingesteigert. Seine Gegenwehr erschöpfte zusehends, bis sie ganz erlahmte. Er sah mich mit seinen grausamen Augen an. Dann lächelte er. Er spuckte mir mitten ins Gesicht. Ich schlug ihn mit beiden Händen gleichzeitig auf dem Brustkorb. Und dann sah ich es. Eine kleine Verletzung. Ein kleiner Tropfen Blut, der aus einer winzigen Verletzung tropfte. Er war also doch verletzlich, wenn auch nur unter größter Gewaltanwendung. Sofort nahm ich meine Kralle und bohrte sie in diese kleine Wunde. Jetzt grinste der Winzling nicht mehr, sondern schrie vor Schmerzen auf. Er schlug um sich und versuchte, mich abzuwerfen. Aber nun hatte ich meinen Ansatzpunkt gefunden. Die Kralle drang tiefer in die kleine Wunde ein und vergrößerte sie weiter. Der Winzling schrie jetzt nicht mehr, sondern winselte, wie ein Hundewelpen. Ich riss mit der Kralle an der Wunde. Das Blut floss stärker. Aber kaum hatte ich die Kralle aus der Wunde genommen begann sich die Wunde wieder zu schließen. Trotzdem war der Riss jetzt groß genug, dass ich zwei Krallen in die Wunde drücken konnte, was ich auch augenblicklich tat. Dann zog ich die Wunde mit meiner ganzen Kraft auseinander. Zuerst passierte nichts, nur dass der Winzling immer schriller schrie, bis letztendlich die Wunde mit einem hässlichen Geräusch von Brustansatz bis zum Bauch aufriss. Im selben Moment biss ich zu. Genau in die offen liegenden Eingeweide. Der Winzling hörte auch sofort auf zu schreien. Er war ohnmächtig geworden. Dass er noch lebte, konnte ich an seinem schlagenden Herzen erkennen. Ich überlegt kurz, ob ich ihm, wie bei einer zeremoniellen Opferung das Herz herausreißen sollte, entschied mich aber dann dagegen. Diese Ehre wollte ich ihm nicht zukommen lassen, auch wenn eine Opferung dieses Herzen den Göttern wohl viel Lebensenergie gebracht hätten. Ich beschloss den Göttern dafür ein anderes Herz zu opfern. Dann stach ich mit der Kralle meiner rechten Hand in das Herz und hielt es an. An der Entspannung der Muskeln des Winzlings konnte ich erkennen, dass er nun wirklich tot war. Es war also vollbracht. Ich hatte meine Rache bekommen.
Nur was war mit meiner Tochter? Voll Schrecken rannte ich zu den Stufen und sah hinunter. Da lag meine geliebte Tochter. Sie war blutüberströmt. Wie konnte das sein. Sie war doch auch ein Werwolf geworden und somit so gut wie unverletzlich. Ich sprang die Treppe mit zwei großen Sätzen hinunter und blieb bestürzt neben ihr stehen.
Am Geländer, direkt in Höhe der ersten Stufe war eine schmuckvolle Verzierung in Form einer Schlange, die sich um eine große Kugel gewunden hatte. Beides war offensichtlich aus reinem Gold. Der Schwanz der Schlange war dabei so geformt, dass er in Richtung in die große Eingangshalle auslief. Das wirkte sehr elegant, nur war diese Verzierung für meine Tochter fatal gewesen. Sie war wohl von oben herunter direkt auf die Schlange gestürzt und zwar genau mit dem Kopf auf den auslaufenden Schwanz, der ihr tief in ihr Auge eingedrungen war. Sie lebte noch, nur hatte sie diese Verletzung so geschwächt, dass sie wieder ihre erste Natur angenommen hatte. Sie sah mich mit ihrem einem heilen Auge an. Diesmal schien sie mich zu erkennen, denn sie sagte mir in perfektem Nahuatl, der Sprache unseres Volkes:
„Vater, Du bist mich holen gekommen!“
Sie hatte mich wohl trotz meiner Verwandlung in meine zweite Natur erkannt. Ich setzte mich neben sie. Sie litt ganz offensichtlich sehr unter ihrer Verletzung. Sie blickte mir in die Augen, dann sagt sie:
„Vater, ich habe eine Tochter. Es ist also Deine Enkelin. Du musst mir versprechen, gut für sie zu sorgen.“
Ich verstand. Sie wollte, dass ich sie von ihren Qualen erlöste. Das wollte ich gerne für sie tun. Also riss ich ihr mit meinen Zähnen die Kehle auf. Dann öffnete ich ihren Brustkorb und entnahm ihr das Herz, welches ich mit den zeremoniellen Worten Mictlantecuhtli, dem Herrscher von Mictlan opferte.
Wütend und gleichzeitig traurig stieß ich ein qualvolles Heulen aus. Jetzt hatte ich wirklich alles verloren. Ich hatte zwar Rache an dem Winzling nehmen können, jedoch war dabei meine geliebte Tochter durch meine ureigene Schuld ebenfalls in Mictlan eingezogen.
Da hörte ich ein Baby schreien und erinnerte mich an die Worte meiner Tochter, die eine Enkelin erwähnte. Ich ging also die Treppe wieder nach oben. Das Geschrei des Babys führte mich in ein Zimmer. Dort lag in einem Babybett ein etwa ein Jahr altes Baby. Es war überirdisch schön. Große, dunkelbraune, fast schwarze Augen und schwarze Locken, die auf das Gesicht einer Göttin fielen. Ich nahm das Baby aus seinem Bett und hörte hinter mir plötzlich jemanden schreien. Das Kindermädchen hatte mich entdeckt. Ich war so sicher gewesen, dass in diesem verfluchten Haus keine Angestellten sein würden, dass ich wohl sehr überrascht geschaut haben musste. Dann realisierte ich, dass das Kindermädchen im Begriff war, Alarm zu schlagen. Deshalb sprang ich mit einem gewaltigen Satz auf sie zu und tötete sie innerhalb von einer einzigen Sekunde. Dann sah ich das Baby wieder an und was ich sah verschlug mir den Atem. Durch die offensichtliche Gewalt des Todes des Kindermädchens aufgeheizt, versuchte das Baby, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Dabei biss sie mich heftig in den Arm. Ich wollte gerade zu lachen beginnen, da hörte ich ein heftiges Klopfen an der Türe. Offensichtlich war unser Kampf doch gehört worden. Also nahm ich das Baby und rannte aus dem Zimmer. Ich brauchte dringend ein Versteck. Dabei hatte ich die ganze Zeit ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich hatte wieder eine Aufgabe. Ich würde für dieses Baby sorgen. Ich würde dieses Mädchen erziehen. Ich würde sie alles lehren, was ich wusste. Ich drückte dieses hilflose Bündel also an meine Brust, während ich auf der Suche nach dem Versteck hektisch durch das Haus rannte.