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Mündig
ОглавлениеDas Christsein soll nicht nur lebendig sein, sondern auch mündig werden. Mündig wird man in unseren Breiten mit 18 Jahren. Das schließt Rechte und Pflichten ein, die man erwirbt, weil einem nun Selbstständigkeit zugetraut wird und die Fähigkeit, eigenständige Urteile zu fällen. Ein mündiger Mensch spricht für sich selbst. Er ist aber auch haftbar, verantwortlich für sein Tun.
Immanuel Kant schrieb im Jahr 1784: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ›Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‹ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«5
Nun könnte man zusammenzucken: Geht es in diesem Buch um Aufklärung? Oder man könnte zweifelnd fragen: Seit wann sollte solche Mündigkeit ausgerechnet mit dem Glauben zusammenhängen? Ist nicht der Glaube das beste Mittel, um Menschen auch weiterhin in Unmündigkeit verharren zu lassen?
In der Tat ist das, worum es hier geht, nicht dasselbe, was Kant vorschwebte, denn beim Christsein geht es darum, sich »mit Leitung eines anderen« seines Verstandes zu bedienen. Aber es geht auch darum, sich seines Verstandes zu bedienen und zu eigenständigem Urteilen, Entscheiden und Wollen aus Glauben zu finden. Das verbinde ich mit der Behauptung, dass der Glaube mündig macht, frei und nicht ängstlich, entscheidungsstark und nicht zögerlich, urteilsfähig und nicht fremdgesteuert. Mündig wäre ein Glaube, dessen erkennbare Frucht innerlich erwachsene Menschen sind, die in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten, Probleme zu bewältigen, Grenzen auszuhalten und ihr Potenzial abzurufen, wie es auf Fußballerisch immer so schön heißt. Es darf in unseren Gemeinden nicht nur um die Frage gehen, wie Erwachsene zum Glauben finden, sondern es muss auch um die Frage gehen, wie Glaubende erwachsen werden.
Mich leitet an dieser Stelle seit Langem ein Abschnitt aus dem Epheserbrief, der diese Zielvorgabe vitaler Gemeinden präzise beschreibt:
Derselbe [Christus] war es auch, der jedem seine Gaben geschenkt hat: Die einen hat er zu Aposteln gemacht. Andere zu Propheten oder zu Verkündern der Guten Nachricht. Und wieder andere zu Hirten oder Lehrern. Deren Aufgabe ist es, die Heiligen für ihren Dienst zu schulen. So soll der Leib von Christus aufgebaut werden. Am Ende sollen wir alle vereint sein im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes. Wir sollen zu vollendeten Menschen werden und reif genug, Christus in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Denn wir sollen nicht mehr wie unmündige Kinder sein – ein Spielball von Wind und Wellen im Meer zahlreicher Lehren. Sie sind dem falschen Spiel von Menschen ausgeliefert, die sie betrügen und in die Irre führen. Dagegen sollen wir an der Wahrheit festhalten und uns von der Liebe leiten lassen. So wachsen wir in jeder Hinsicht dem entgegen, der das Haupt ist: Christus.
Epheser 4, 11-15
Der Apostel markiert hier sozusagen die Bildungsziele einer vitalen christlichen Gemeinde. Da gibt es begabte und beauftragte Menschen, die vielleicht sogar ein Amt bekleiden. Deren vornehmste Aufgabe besteht darin, »die Heiligen für ihren Dienst zu schulen« oder nach Luther »zuzurüsten«. Und dann wird beschrieben, wie der Glaube mündig wird. Der Glaubende kann das Geheimnis Christi tiefer und umfassender erfassen. Erkenntnis wächst – das hat mit Wissen und Nachdenken zu tun. Der Glaube verlässt ein Stadium, in dem er unmündig war, nur an andere angelehnt, abhängig von Stimmungen, auf »Milch« angewiesen statt auf »feste Speise« (vgl. Hebräer 5, 11-14). Der Glaube wird urteilsfähig, er kann die Geister unterscheiden (z.B. 1. Johannes 4, 1-3) und »Lehren« prüfen. Er wird belastbar, stetig und klar. Die Wahrheit, die der Glaube erkennt, verknüpft sich mit der Liebe, die ihn leitet. Das bewahrt vor Starrsinn und Rechthaberei. Um die Gesundheit solcher Glaubensprozesse zu prüfen, hilft es, zu fragen: Werde ich am Ende stärker in meiner Liebe und Beziehungsfähigkeit, zugewandt und dienstbereit, mitfühlend und respektvoll? Oder macht mich das alles eher überheblich, besserwisserisch, kalt und distanziert? In gesunden Gemeinden gibt es einen gesunden Ehrgeiz der Gemeinde und der einzelnen Christen, eine Art Koalition für das Erwachsenwerden im Glauben.
Im Grunde brauchen wir also nicht nur »Kurse zum (Anfangen mit) Glauben«, sondern auch »Kurse (zum Wachsen) im Glauben«. Das Emmaus-Material, das an den Emmaus-Kurs anschließt, bietet dazu einiges.6 Gordon MacDonald, einer der Theologen, die mich im Blick auf die praktische Gestalt des Glaubens am meisten geprägt haben, hat mit seinem Buch »Tiefgänger«7 die Richtung gewiesen, in die wir mit unseren Gemeinden gehen sollten: ein strukturiertes, begrenztes, vielfältiges Programm für Menschen, die im Glauben weiterkommen wollen. Das ist nach meiner Kenntnis bisher in Deutschland kaum umgesetzt worden. Vielleicht bietet dieses Buch einige Hilfestellungen für Gemeinden, die mit ihren Gemeindegliedern erste Schritte in diese Richtung gehen wollen.
Ich glaube, dass diese Frage auch über die Zukunft unserer Gemeinden und unserer Kirchen entscheidet. Vitale Gemeinden investieren in lebendiges, mündiges Christsein. Gerade im Umbau unserer Volkskirchen von kulturdominierenden Großkirchen zu öffentlichen, missionarischen Minderheitskirchen, in der Transformation von pfarrzentrierten Betreuungskirchen zu Kirchen des allgemeinen Priestertums ist dies eine der wichtigsten »Baustellen«. Vitale Gemeinden brauchen lebendige, mündige Christen.