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Lebendig
ОглавлениеIm »Tagebuch eines Landpfarrers« beschreibt Georges Bernanos das Leiden eines Priesters, der mit Schrecken wahrnimmt, dass sein Glaube seinem Leben nicht mehr Gestalt und Richtung gibt. »Nein, ich habe den Glauben nicht verloren. Der Ausdruck ›den Glauben verlieren‹, so wie man seinen Geldbeutel verliert oder einen Schlüsselbund, ist mir übrigens immer ein wenig albern vorgekommen … Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles.«4 Was kann geschehen, um das zu verhindern?
Wir haben viele getaufte Mitglieder in unseren Gemeinden, die nie etwas anderes erlebt haben als eine Zugehörigkeit zur Kirche, die dem Leben höchst marginal Form gibt: an Weihnachten und Erntedank, bei Geburten, Hochzeiten und Todesfällen oder durch eine gewisse ethische Verpflichtung, Nächstenliebe zu zeigen und sich um Integrität zu bemühen. Für sie liegt so etwas wie »Nachfolge«, »Gemeinsames Leben« oder das Leitbild eines Lebens als Jüngerin bzw. Jünger ganz fern. Sie sind immer noch in der Kirche, aber auf Distanz. Die Zugehörigkeit wird »bei Gelegenheit« aktiviert.
Der Verlust, der damit einhergeht, besteht aus meiner Sicht darin, dass Menschen die spezifische Gnade nicht erleben, mit Gott im Alltag verbunden zu sein: sein Ohr zu haben, seine Weisungen zu hören, seine Ermutigung zu erleben, jeden Morgen neu mit ihm anzufangen, allmählich zum Guten verwandelt zu werden, im Scheitern Trost zu erleben. Es geht bei einem lebendigen Christsein um dieses alltägliche Leben mit Gott.
Um diese Frage tobt in der evangelischen Kirche und in der evangelischen Theologie ein Streit. Ist die distanzierte Mitgliedschaft eine moderne Variante der christlichen Existenz, die wir einfach als legitime Variante des Christseins zu respektieren haben? Oder entgeht Menschen etwas, wenn sie nur »bei Gelegenheit« eine kirchliche Dienstleistung in Anspruch nehmen? Urteilen wir über den Glauben anderer, wenn wir mit einer gewissen Sorge auf Menschen schauen, die zwar zur Kirche gehören, aber nach eigener Auskunft nur ein loses Verhältnis zur Gemeinde oder zu Gebet, Abendmahl usw. haben?
Fast könnte man denken, man mute den Menschen etwas Ungehöriges, eine unnötige Last extremer Frömmigkeit zu, wenn man sagt, das sei nicht das, was Christsein ausmache. Aber hier soll keine Last auferlegt werden. Das lebendige Christsein ist nicht das »Sonderpfündlein« extrem frommer Menschen. Es geht um eine offene Tür: Das Leben mit Gott im Alltag des Lebens steht uns offen. Wir verpassen so viel, wenn wir daran vorübergehen.
Das gilt im Übrigen für alle Menschen: Dass unser Glaube lebendig ist und lebendig bleibt, ist ja nicht einfach ausgemacht oder durch einen Entschluss, den wir irgendwann einmal gefasst haben, für immer entschieden. Es braucht etwas, das Martin Luther in der ersten der 95 Thesen als »tägliche Buße« bezeichnet hat. Es braucht ein tägliches Neuanfangen, ein Heimkehren nach längerer Abwesenheit oder ein erstauntes Beginnen, wenn jemand schon lange der Form nach dazugehört hat und nun entdeckt, dass es im Glaubensleben mehr gibt als die Mitgliedschaft in einer ehrwürdigen religiösen Institution.
Vielleicht geht es vor allem um die Sehnsucht: die Sehnsucht nach der lebendigen Beziehung des Jüngers oder der Jüngerin zum Meister, des Sohnes oder der Tochter zum Vater, des Geschöpfes zum Schöpfer.