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Griechen entdecken den Westen
Оглавление„Die Phokaier waren die ersten Hellenen, die weite Seefahrten unternommen haben. Sie entdeckten das Adriatische Meer, Tyrsenien, Iberien und Tartessos.“
(Herod. 1, 163)
Vor allem die Entdeckung der Erde und ihrer zunehmend begriffenen Weitläufigkeit, die Wunder neuer Begegnungen mit Fremdem, Unerhörtem sowie das Bedürfnis insgesamt wenig beweglicher Gesellschaften nach spannender Unterhaltung und exotischen Reizen dürfte der Hintergrund von fantastischen Überhöhungen und Ausschmückungen früher Abenteuer zu Lande und vor allem zu Wasser gewesen sein. Hinter vielen dieser Geschichten stehen handfeste historische Gegebenheiten: So hat es in der Kupferzeit zweifellos Prospektionsfahrten in den mittelmeerischen Westen bis an die portugiesische Atlantikküste gegeben. W-O- und O-W-Handel/Austausch im 3. Jt. v. Chr. über Land und über See und die Spuren atlantischer Begegnungen zwischen dem hispanischen Nordwesten und Irland sowie der Wessex-Kultur werden im Zuge der Metall- und Elfenbein-Analysen immer konkreter. Der Prähistoriker Thomas X. Schuhmacher hat im Jahre 2004 die vorliegenden frühbronzezeitlichen Fund-Materialien und die sich daraus ergebenden Einsichten in entsprechende Verbindungen schlüssig zusammengefasst und kartiert.
Notwendigerweise kommen wir am Ende dieser langdauernden Entwicklung zu „Tartessos“! Nicht nur, weil hier die literarische Überlieferung zur Iberischen Halbinsel überhaupt erst beginnt, sondern vor allem, weil es ab jetzt ein gewisses Kontinuum der Schriftquellen gibt.
Nach Herodotos durchaus glaubhaftem Bericht kamen griechische Seefahrer aus Phokaia im 7. Jh. v. Chr. erstmals mit einer südwesthispanischen Region nebst Handelsplatz (emporion) in Berührung, welchen sie den Namen Tartesos bzw. Tartessos gaben, der sich aus einer einheimischen Wurzel TRT bzw. TRS und einer griechischen Endung zusammensetzt. Dass dieses Emporion, welches zwischen der Mündung des río Guadalete und dem Raum Huelva zu vermuten ist, damals ein längst von Phoinikern besuchter Warenumschlagplatz, ja, von diesen wahrscheinlich erst geschaffen war, wusste Herodotos nicht oder verschweigt es aus nachvollziehbaren Gründen.
Deutlich erhellt aus Herodotos Erzählung der bereits aus I Kön 10, 21 f. bekannte Silberreichtum dieser Zone, der alles Weitere zur Folge hat: Das großherzige Geschenk des „tartessischen Königs Arganthonios“, dessen angegebenes Alter von 120 Jahren bereits die Tendenz zur Legende verrät, an die Phokaier, nämlich die Finanzierung einer Verteidigungsmauer gegen die expandierenden Meder, mag einen historischen Kern besitzen – die Erzählung selbst ist in erster Linie ‚Seemannsgarn’.
Erstaunlich ist freilich, in welchem Maß die „Entdeckung“ des fernen Silberlandes in der zeitgenössischen Literatur Griechenlands ihren Widerhall findet. Dieser gleicht durchaus dem Echo, das mehr als 2.000 Jahre später die Entdeckung Amerikas und seiner Schätze auf der Iberischen Halbinsel auslöste. Die griechische Tartessos-Rezeption, einschließlich der Einbeziehung der Iberischen Halbinsel in den Sagenkreis des Herakles-Mythos, entstammt dem 7./6. Jh. v. Chr., der ersten großen Phase griechischen Ausschwärmens nach Westen, wobei nicht auszuschließen ist, dass bestimmte Informationen schon früher aus phoinikischen Quellen nach Ionien gelangt waren. Die archäologische Forschung hat besonders im Raum Huelva ein starkes Anwachsen griechischer Importe aus dem 6. Jh. v. Chr. verzeichnen können (Domínguez Monedero – Sánchez Fernández 2001), was allerdings nicht automatisch auf die Präsenz griechischer Händler weist, da die Phoiniker selbst alles im Sortiment hatten, was im Ostmittelmeerraum produziert wurde, aber gelegentliche Begegnungen mit solchen nahelegt. Dass die Griechen, die aus verschiedenen Räumen und unterschiedlichen Dialektzonen stammten, in trt/Tarschisch auf einen Markt mit „orientalisierenden“ Tendenzen trafen, ist eindeutig, wird aber bezeichnenderweise nirgendwo vermerkt. Dabei ist keineswegs zu unterstellen, dass die in späterer Zeit historisch bedeutenden Rivalitäten schon jetzt eine Rolle gespielt hätten. Sprechend ist allerdings die Tatsache, dass es im „tartessischen“ Raum keine nachhaltige griechische Kolonisation gab: Bis in römische Zeit bleibt der Küstensaum zwischen Huelva und dem terminus Tartesiorum, wie in der Ora maritima des Avienus die Nordost-Grenze von Tarschisch bezeichnet wird, von phoinikisch-punisch-karthagischen Siedlungen dominiert.
Zum veritablen Mythos wurde „Tartessos“ durch eine Monografie des Erlanger Althistorikers Adolf Schulten, zuerst 1921 erschienen und vielfach übersetzt sowie nachgedruckt. Dieser Gelehrte, der wie mancher Deutsche vor und nach ihm zeitlebens der Iberischen Halbinsel verfallen war, hatte mit kaiserlicher Unterstützung im Raum Numantia gegraben, unter anderem über den lusitanischen Nationalhelden Viriatus und den vermeintlichen römischen Hispanienfreund Sertorius gearbeitet, ferner die erste Landeskunde des antiken Hispanien verfasst sowie, zusammen mit Robert Grosse, die Fontes Hispaniae Antiquae (FHA) als erste Sammlung hispanienbezogener antiker Schriftquellen geschaffen. Dies war nach Emil Hübners Sammlung der iberischen (MLI) und der lateinischen Inschriften Hispaniens (CIL II) die dritte deutsche Großtat zum Nutzen der althistorischen Forschung auf der Halbinsel, die es de facto bis in die 1930er-Jahre noch gar nicht gab.
Schulten, in Deutschland wenig beachtet und zeitlebens dem Wilhelminismus verhaftet, ehrgeizig, eitel und von der Zustimmung so vieler Spanier gewaltig ‚erhoben’, gab dem durch den Schock der militärischen Niederlage gegen die USA von 1898 und den daraus resultierenden Verlust des Kolonialreiches tief verunsicherten Land etwas von seinem ehemals stolzen Selbstbewusstsein zurück. Als er schließlich mit „Tartessos“ ein aus Elementen des platonischen Atlantismythos, der herodoteischen „emporion Tartessos“ cum „Arganthonios“-Erzählung, der Mythografie des Iustinus, dem unendlichen Mineralreichtum des Landes und den in der Tat erstaunlich qualitätvoll-exotischen frühen Fundmaterialien nicht ohne pathetische Fantasie und suggestives Geschick sein Tartessos-Märchen kompilierte, legte er den Grundstein zu jener Projektion von einem protohistorischen „tartessischen Großreich“ auf vergleichsweise hohem zivilisatorischen Niveau, die jahrzehntelang die kulturelle Elite Spaniens, darunter ihren markantesten Vertreter Ortega y Gasset (1978, Bd. II, 177 ff.), faszinierte und die Vorstellung von einer glanzvollen Phase der hispanischen Frühgeschichte prägte. Dieser neu geschaffene Mythos verweigert sich auch heute noch vielfach der ungleich prosaischeren, wenngleich hochinteressanten Realität, soweit die Forschung sich ihr hat nähern können, wofür Schulten seinerzeit von dem großen Althistoriker Eduard Meyer heftig gescholten wurde. In Deutschland ist Schulten heute Forschungsgeschichte, während zumindest Teile der spanischen Altertumsforschung darum kämpfen, sich von seinem langen Schatten zu befreien. Andere Gelehrtenschulen, vor allem im Süden Spaniens, zeigen sich verbissen darum bemüht, die Bedeutung von „Tartessos“ durch Aktualisierung des Schultenschen Fantasie-Gemäldes nicht ohne chauvinistische Untertöne zu bewahren, wofür das Tartessos-Lemma des Archäologen Antonio Blanco Freijeiro im Diccionario de Historia de España von 1952, aber auch der jüngste Tartessos-Kongress („Tarteso. El emporio del metal“, Huelva 2011, 2013) anschauliche Beispiele bieten. In Fragen seiner realen oder vermeintlichen historischen Identität ist auch das postfranquistische Spanien ein hochsensibles Land geblieben. Vielleicht wird deswegen geradezu zwanghaft alle paar Jahre dasselbe leere Stroh gedroschen. In diesem Kontext droht Adolf Schulten inzwischen selbst zu einem spanischen Mythos zu werden.
Was ist „Tartessos“ nach heutigem Forschungsstand? Auf die regionale südwesthispanische End-Bronzezeit mit einer mehrheitlich nicht-indoeuropäischen, überwiegend iberisch-sprechenden Bevölkerung, wie sie H. Schubart im Jahre 1975 umfassend dargestellt hat, trafen vermutlich im 10./9. Jh. v. Chr. phoinikische, wahrscheinlich tyrische Seefahrer auf der Suche nach Rohstoffen und Handelsplätzen. Die Quellen legen nahe, dass sie alten Routen folgten und ihre Entdeckungsfahrten sehr gründlich vorbereiteten. Sie fanden in dem Raum zwischen dem río Guadalete, der Guadalquivir-Mündung und Huelva, was sie suchten: Zinnlieferanten, Kupferabbau und Silber, daneben auch Flussgold und Halbedelsteine, von denen einer, der Tarschisch-Stein, vermutlich ein Chrysolith, nach Ex 28,20; 39,13 sogar ins Pektorale des jüdischen Hohepriesters gelangt zu sein scheint, auch wenn das Alter dieser Nachricht undeutlich ist. Dass sich hier im Laufe der Zeit ein Emporium mit allem, was dazugehörte, entwickelte, ist durchaus glaubhaft. Auch die ökonomische und zivilisatorische Ausstrahlung, die solche Plätze allzeit auf ihr jeweiliges Hinterland zu haben pflegen, ist gewiss; gänzlich unsicher ist seine geografische Verortung. Die Versuche, das Emporium „Tartessos“ zu finden, notfalls auch unter dem heutigen Meeresspiegel oder dem Sand des wunderbaren naturgeschützten Nationalparks Coto de Doñana bzw. von Matalascañas, sind Legion und nehmen mit dem heute verfügbaren technischen Fortschritt eher noch zu, wobei lokalpatriotischer und regionaler Ehrgeiz ein oft eher hinderlicher Ansporn ist. Aber es ist leider meist immer noch das Schultensche Fantasiegebilde, welches gesucht wird: Sollte eines Tages tatsächlich Herodotos emporion (das wahrscheinlich in Späterem aufgegangen ist) gefunden werden, wird die Enttäuschung der Schatzsucher ungeheuer sein.
Abb. 4 Der Schatzfund von El Carambolo (bei Sevilla) aus dem 6. Jh. v. Chr. machte 1958 Sensation.
Ob chief- oder Priester-Ornat: phoinikische Toreutik mit hispanischem Gold.
Als Ergebnis dieser Begegnung, die sich von „stummem“ Handel bis in das 8. Jh. v. Chr. zu einer veritablen phoinikischen Kolonisationsbewegung steigerte, die sogar Spuren im Jesajabuch (23,10) des Alten Testaments hinterlassen hat, entwickelte sich im Südwesten und Süden der Halbinsel die sogenannte „orientalisierende Kulturphase“, gekennzeichnet durch die Erfindung einer einheimischen Schrift, Importe aus dem ostmediterranen Raum und ihre einheimische Rezeption und Weiterentwicklung [Abb. 4], aber auch durch technische Fortschritte, wie die Töpferscheibe, die Verbesserung der Metallschmelze und, außerordentlich bedeutend, landwirtschaftiche Verbesserungen und Neuerungen, wie, neben vielem anderen, die Einführung des Ölbaums, des Esels und des Haushuhns. Ostmediterrane Kolonisten führten auch eine neue Form von Hausbau ein. Religiöse Elemente ostmediterraner Provenienz tauchen ebenfalls auf: Die Ägyptologin Ingrid Gamer-Wallert hat 1978 mit der Katalogisierung der „Ägyptischen und ägyptisierenden Funde von der Iberischen Halbinsel“ einen umfangreichen Band gefüllt, der mit den seither gefundenen Materialien noch beträchtlich anwachsen würde. Ihre Fundkarten bezeichnen sowohl die engere „orientalisierte“ Zone der Halbinsel im Südwesten als auch die punischen Handelsverbindungen an der Ostküste, die aber nördlich des Cabo de la Nao deutlich abnehmen. Es kommt nach ökonomischer und kultureller Einflussnahme mit der Zeit auch zu Festansiedlungen ostmittelmeerischer Kolonisten sowie zur Anlage zahlreicher phoinikisch/punischer Faktoreien (nicht selten in der Nähe einheimischer Wohnplätze) entlang der gesamten Südküste der Halbinsel, deren Entdeckung durch deutsche Forscher in den 1960er-Jahren eine Sensation waren. Auch in allerjüngster Zeit sind im Küstenraum zwischen Gibraltar und La Fonteta noch Aufsehen erregende Entdeckungen gelungen, so die der bislang ältesten rechteckigen Hauskonstruktion in dem in der phoinikischen Kontaktzone liegenden einheimischen Fundplatz Los Castillejos de Alcorrín [Abb. 5], weiterhin neuer Methoden hochspezialisierter Metallverhüttung und eines intensiven Metallhandels mit dem hispanischen Südosten (Marzoli 2012). Auch eine rege Binnenpenetration, vor allem im Guadalquivirtal, ist inzwischen archäologisch erwiesen.
Abb. 5 Muschelhof der einheimisch „tartessischen“ Anlage von Castillo de Alcorrín (Málaga) aus dem 8./7. Jh v. Chr. Sinn und Funktion dieser Konstruktion, die Parallelen auf der Iberischen Halbinsel und im Vorderen Orient besitzt, sind unklar.
Das Resultat ist das, was auf der Halbinsel weitgehend unreflektiert die „tartessische Kultur“ genannt wird, welche in Metallurgie, Toreutik, Kunsthandwerk, Töpferei, Stadtanlagen und Grabbauten in der Tat für diesen Raum den Anschluss an ostmediterrane Standards bedeutete. Das ist, wie so oft in der Geschichte des Landes spätestens seit der Kupferzeit, ein Beispiel mehr dafür, wie aus regionalen (Fremd-)Anstößen große Kulturbewegungen entstehen. Zambujal, Los Millares, Marroquies Bajos, La Valencina de la Concepción u. a., alle im Süden der Halbinsel gelegen, für die Kupferzeit oder El Argar für die Bronzezeit gehen dem „orientalisierenden“ Südwesten und Süden voran.
Allzu oft wird dabei vergessen, dass auch die sogenannte „atlantische Bronzezeit“ Jahrhunderte zuvor kunsthandwerkliche Hervorbringungen von hervorragender Qualität und höchstem ästhetischen Anspruch vorweisen konnte, die in Schatzfunden, wie dem aus Caldas de Reyes (Pontevedra) [Abb. 6] oder dem weit von seiner wahrscheinlich nordwesthispanischen Entstehungsregion gefundenen Schatz von Villena (Alicante) manifestiert sind und auf einen hohen Stand metallurgischer und toreutischer Kompetenz wie auch auf eine entwickelte gesellschaftliche Hierarchie schließen lassen, die sich solche Preziosen leisten konnte.
Die geradezu inflationäre Verwendung des Begriffs „tartessisch“ besonders in der spanischen Forschung führt seit geraumer Zeit zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und bedarf darum einer Klarstellung. Die Bezeichnungen „Tarschisch“ und später „Tartessos“ sind, wie oben angemerkt, die phoinikische bzw. griechische Adaptation einer einheimischen Selbstbezeichnung, die später in einer Asarhaddon-Inschrift als Tarsisi, im altlateinischen Tarseiom = Tarseiorum des zweiten römisch-karthagischen Vertrags von 348 v. Chr., in den Stammesnamen Turdetani, Turduli, in der Regionalbezeichnung Turta sowie in der hellenistisch-punischen Bezeichnung Thersitai für die Bewohner von Tarschisch wiederkehrt. Die Bezeichnung „tartessisch“ entstammt der Fiktion Schultens und sollte umso weniger verwendet werden als sie allzu oft adjektivisch zu der phoinikisch/punischen Bezeichnung Tarschisch für das spätere punische Einflussgebiet auf der Iberischen Halbinsel bis zum terminus Tartesiorum im Osten gestellt wird (Ora marit. 462 f.) [s. Abb. 9]. Das macht scheinbar allen Raum zwischen Südportugal und dem Cabo de la Nao „tartessisch“ und legitimiert damit quasi Schultens Missverständnis von einem „tartessischen Großreich“, während der reale TRT/TRS-Raum wesentlich kleiner war. Groß hingegen war die kulturelle Ausstrahlung des phoinikischen und griechischen Kultureinflusses auf diese gesamte Zone und darüber hinaus. Diese ist jedoch nicht „tartessisch“, sondern sollte als „orientalisiert“ bzw. „orientalisierend“ und später als westphoinikisch–karthagisch dominiert bezeichnet werden. „Orientalisierend“, weil das einheimische Kunsthandwerk wesentliche Techniken und Stilmerkmale, aber auch ideologische und möglicherweise mythisch-religiöse Motive von ostmediterranen Vorbildern übernahm. Die spätere südiberisch-turdetanische Kulturentwicklung insgesamt basiert weitgehend auf diesem Einfluss und seiner Perzeption, wofür der Grabturm von Pozomoro [Abb. 7] ein faszinierendes Beispiel bietet. Gleichzeitig bergen die vielfältigen auf uns gekommenen Zeugnisse für die Altertumsforschung die große Gefahr falscher Historisierung von Mythen und vordergründig-naiver Interpretation von Quellen, deren Zielsetzung und Glaubwürdigkeit selten oder unzureichend hinterfragt werden. Dafür bietet die vor einigen Jahren von einem namhaften spanischen Prähistoriker behauptete Existenz einer „tartessischen Literatur“ ein warnendes Beispiel. Strabon (3,1.6) berichtet, dass die Turdetaner, die er für die „weisesten aller Iberer“ hält, eine eigene Schrift besäßen, ferner Chroniken und Poesie aus alter Zeit sowie Gesetze in Versform, die 6.000 Jahre alt seien. Nun befand sich die Iberische Halbinsel in dieser Zeit erst im entwickelten Mesolithikum. Ackerbau und Viehzucht sind noch nicht erfunden und die Entwicklung zur einer TRT/TRS – Gesellschaft liegt in weiter Zukunft. Um 600 v. Chr. dagegen wären kulturelle Phänomene wie Musik, Rezitation, Tanz gut vorstellbar; es gibt auch frühe südiberische Schriftzeugnisse. Eine im eigentlichen Sinne „tartessische Literatur“, die sich aus der zitierten Strabon-Stelle, der archäologisch erwiesenen Existenz von Musikinstrumenten oder der Relation zwischen einheimischer Plastik und präsumtiv einheimischen Mythen herleiten ließe, gibt es freilich nicht!
Abb. 6 Der frühbronzezeitliche Schatzfund von Caldas de Reyes (Pontevedra): Trinkgefäße, Kamm, Torques (?), Ringgeld (?) aus Gold.
Hierhin gehört auch – im Vorgriff auf später Auszuführendes – die Erledigung des von Schulten konstruierten und bis heute in der spanischen Forschung virulenten „Endes von Tartessos“. Es gibt sowenig ein „Ende von Tartessos“ wie es ein „tartessisches Modell“ oder gar eine „Krise des tartessischen Modells“ gibt (Celestino Pérez 2011 – 12, 302). Was archäologisch tatsächlich beobachtet werden konnte, ist im 5. Jh. v. Chr. ein Zerstörungshorizont im „orientalisierten“ Süden, welcher, wenn er nicht Folge innerer Zwistigkeiten unter den einheimischen populi ist, indoeuropäischen raids oder dem Einfluss des sich gegen Ende des 6. Jhs. v. Chr. zunehmend in Tarschisch engagierenden Karthago zuzuschreiben sein dürfte – davon später.
Im 7. Jh. v. Chr. – wie gesagt – kommen die Griechen zumeist von den ägäischen Inseln und den Küsten Kleinasiens. Sie können sich aber anscheinend gegen die phoinikische und zunehmend karthagisch-punische Konkurrenz nicht dauerhaft behaupten. Einige Generationen später werden sie von ihrer Gründung Massilia aus nach Süden vorstoßen und die hispanische Ostküste in bescheidenem Maße kolonisieren, mit den küstennahen Iberern Freundschaft schließen und diesen Schrift und handwerkliche Techniken beibringen, was in Plastik und Toreutik zu einzelnen Werken von wunderbarer Schönheit gediehen ist [Abb. 8]. Der griechische Einfluss endete, wo die phoinikisch-punische Kontrolle der südlichen Zone ihm Einhalt gebot: Am bereits mehrfach erwähnten terminus Tartesiorum (s. S. 24), den wir uns an der Südostküste im Raum Los Nietos/Cabo de la Nao zu denken haben. Von dort nach Norden zeigen die epigrafischen Zeugnisse rechtsläufige Schrift. Südlich davon im gesamten punisch kontrollierten Gebiet gibt es den linksläufigen Schrift-Duktus, auf Münzen aus HaGadir (Cádiz) und Malaca bis weit in römische Zeit belegt. Im 6. – 5. Jh. v. Chr. werden griechischer Einfluss von Nordosten und der orientalisierende Kulturstrom von Westen sich im iberischen Raum zwischen Albacete, Jaén und der Mittelmeerküste treffen. Der kulturelle Einfluss vor allem des massaliotischen Griechentums an der hispanischen Ostküste wird dessen reale Präsenz lange überdauern: Die politische Entwicklung, vor allem das Auftreten des aufstrebenden Karthago im südwestmediterranen Raum, machte dem dortigen Griechentum den Garaus; soweit es dort griechische Pflanzstädte gab, verschwinden sie oder gehen im Iberischen auf.
Abb. 7 Das Grabmal von Pozomoro (Albacete) im Rekonstruktionsversuch Martín Almagros. Dieses zerstört aufgefundene Monument ist auf der Halbinsel einzigartig, es vereinigt stilistisch und inhaltlich ostmediterrane und einheimische Elemente und dürfte um 500 v. Chr. für einen regionalen chief angelegt worden sein.
Über dem Zeitraum zwischen der realen phoinikischen Kolonisation in Tarschisch im 8. Jh v. Chr., von der Jesaja spricht, der griechischen Tartessos-Berührung vermutlich im 7. und dem Auftreten der Seemacht Karthago auf der Halbinsel im 6. Jh. v. Chr. liegt ein seltsames Halbdunkel, obgleich es sich um eine Phase entscheidender Veränderungen im Süden und Osten gehandelt haben muss. In dieser Zeit mutiert, vom orientalisierten Tarschisch ausgehend und durch griechische und andere Importe unterstützt, der orientalisierte Kulturraum zum Turdetanisch-Iberischen, wie wir die intensive Rezeption kultureller (auch religiöser) Einflüsse aus dem Osten in Ermangelung einer glücklicheren Bezeichnung nennen müssen. Das Ergebnis ist eine kaum differenzierbare ostmittelmeerisch-einheimische Mélange, zu der Rechteckhäuser und ummauerte stadtartige Siedlungen ebenso gehören wie die Entstehung einer bemerkenswert originellen Großplastik in der oben beschriebenen südöstlichen Konvergenzzone zwischen semitischer und griechischer Einflussnahme. In diese Zeit gehört auch die Entstehung der (linksläufigen) südiberischen Schrift, für die sich vor einiger Zeit eine Art Musteralphabet gefunden hat. Zweifellos ist dies die Zeit lokaler und regionaler Herrschaftsbildungen, von denen die Historiografie erst viel später berichten wird, die sich aber seit geraumer Zeit archäologisch immer deutlicher abzuzeichnen scheinen.
Darüber, was in dem Zeitraum zwischen dem ersten Auftauchen der Phoiniker an den Küsten der Halbinsel, dem Vordringen griechischer Seehändler in den Südwesten und an die Ostküste im Rest des großen Landes geschieht, der immerhin fast 2/3 des Ganzen beträgt, schweigen die Schriftquellen. Gleichzeitig ist deutlich, dass im 6. Jh. v. Chr. Karthago eine wichtige Rolle auf der Halbinsel zu spielen beginnt und bis in die Zeit des Zweiten Krieges mit Rom den hispanischen Süden, den afrikanischen Nordwesten und auch die hispanische Atlantikküste kontrolliert, wie archäologische Funde, aber auch punisch konnotierte Kultstätten in Küstennähe belegen. Herodotos Hinweis auf Kelten im Westen (2,33,3) bleibt geografisch vage, so sehr sich die Forschung auch bemüht hat, die Stelle „Die Donau kommt aus dem Land der Kelten von der Stadt Pyrene her und fließt mitten durch Europa. Die Kelten wohnen jenseits der Säulen des Herakles und sind Nachbarn der Kynesier, des westlichsten Volkes von allen Europäern“ aus ihrer ex-post-Kenntnis stimmig zu machen. Die Vorstellungen des ‚Vaters der Geschichte‘ vom westlichen Europa sind eine Mischung aus Wissen, Hörensagen und möglicherweise falsch verstandenen Nachrichten aus Seefahrer-Kreisen. Deutlichere geografische Vorstellungen gewinnt man erst im 4. Jh. v. Chr., aber auch sie bleiben oberflächlich und sind ausschließlich aus der Seefahrer-Perspektive gewonnen.
Abb. 8 Krieger und Pferd von der iberischen Grabanlage Cerrillo Blanco bei Porcuna (Jaén). 5. Jh. v. Chr.
Die ethnografische Karte der gewaltigen Landmasse zwischen der Küstenkordillere im Osten, der Sierra Morena im Süden, den Pyrenäen im Norden und dem atlantischen Ozean im Westen gleicht einem Flickenteppich buntester Art. Die Forschung ist weit davon entfernt, die Gemengelage aus potentiell vorindoeuropäischer Bevölkerung, zahllosen Zuwanderungen aller Art und Quantität (und zu unterschiedlichsten Zeiten), unquantifizierbaren Binnenwanderungen bis weit in römische Zeit sowie die ethnischen Mischzonen an den östlichen und südlichen Rändern durchsichtig gemacht und in eine zuverlässige regionale und zeitliche Ordnung gebracht zu haben. [s. Abb. 2] Die antiken Quellen behalfen sich damit, Phoiniker, Perser, Griechen, Kelten, Punier und Römer hintereinander als Einwanderer aufzuzählen und die Vorzeit sowie mögliche Gleichzeitigkeiten bzw. Überschneidungen auszublenden. So sind wir darauf angewiesen, die Mosaiksteine lokaler und regionaler Forschung so gut wie möglich zusammenzusetzen, um überhaupt ein Bild zu gewinnen.
Nicht zu trennen von den Problemen des ethnografischen Durcheinanders und der immerwährenden Ein- und Binnenwanderungen sind deren geografische Voraussetzungen. Es ist die grobe Dreiteilung des Landes, welche im Großen und Ganzen die Ethnografie der Halbinsel bestimmt: Der Küstenstreifen zwischen dem Mittelmeer im Osten und der westlichen Kordillere, die überwunden werden muss, um die zentralen Hochebenen zu erreichen. Sodann der Süden, der von der sogenannten Sierra Morena gegen das zentrale Hochland abgeschirmt wird sowie das zweigeteilte Hochland – Alt- und Neukastilien –, das die Mitte, den Norden und Westen einnimmt und selbst wieder in kleinere Einheiten zerfällt. Sie freilich spielen in der Ethnografie des antiken Hispanien keine vergleichbar entscheidende Rolle. Diese Räume sind nicht leicht und überall zugänglich. Von Osten aus erschließen die Flusstäler von Ebro, Jalón und Júcar die Meseten, von Süden der Despeñaperros-Pass und die westliche vía de la Plata. Haupt-Einfallwege von Norden sind die wenigen Pyrenäenpässe und die Küstensäume. Alle historisch erwiesenen großen Wanderungsschübe haben auf diesen Zugangswegen ihre Spuren hinterlassen, alle bedeutenden Landnahmen lassen sich mit den bezeichneten Großräumen verbinden – und auch alle großen Eroberungen. In der Völkerwanderungszeit ebenso wie in den napoleonischen Kriegen, ja noch im Bürgerkrieg der 1930er-Jahre spielen die genannten Zugangswege im Norden, Osten und Süden eine entscheidende Rolle.
Abb. 9 Das orientalisierte Hispanien in phoinikisch-karthagischer Zeit. 1. Enge Schraffur: TRT/TRS – Kerngebiet; 2. mittlere Schraffur: Das karthagische Dominium Tarschisch; 3. breite Schraffur: Äußerste Ausdehnung des vom Süden des Landes ausgehenden orientalisierenden Kultureinflusses.