Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 10
Erinnerung
ОглавлениеReflexartig ließ sie sich hinter der Mauer des Brunnens fallen. Der schwere Wassereimer, den sie gerade heraufgezogen hatte, plumpste neben ihr auf den Boden und ergoss seinen Inhalt über den Saum ihres Kleides. Ihr Herz raste, und etwas schien ihr die Luft nehmen zu wollen. Ihre Finger kratzten unkontrolliert an ihrem Bäuchlein herum, und es dauerte diesmal sehr viel länger als sonst, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Es gelang ihr durchzuatmen.
Vorsichtig schob sie ihren jungen Körper an den groben Steinen des Brunnens entlang, bis ihre Augen das Ziel fanden. Unweit vor ihr, im hohen Schilf des kleinen Teiches war etwas – nicht ,etwas’ – ,Jemand’ … Sie hatte es erst bemerkt, als es sich bewegte – und war sofort abgetaucht. Jetzt war es nicht mehr da – wie immer, wenn sie danach suchte.
Sie versuchte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter zu würgen. Ihre Augen sprangen von Halm zu Halm, während sie wieder einmal angestrengt versuchte, sich an die Erscheinung zu erinnern. Doch auch dieses Mal gelang es ihr nicht. Zu schnell reagierte sie immer mit ihrer Flucht. Genauer: Irgend etwas in ihr reagierte zu schnell. Sie hatte keine Gewalt darüber.
Langsam begann sie sich zu beruhigen. Sie richtete sich vorsichtig auf und ließ den Blick durch den großen Garten kreisen. Alles schien, wie sie es gewohnt war. Irgendwelche Bewegungen und Geräusche waren immer da. Es war ein sehr großer Garten, dessen weite Begrenzung, die aus einer hohen und undurchdringlichen Hecke bestand, von hier aus nicht zu sehen war. Viele Bäume, Strauchwerk und hohes, wildes Gras ließen die Augen von diesem Platz aus nicht bis zu dessen Grenze vordringen.
Unzählige kleine Tiere teilten sich dieses Anwesen mit ihr. Einige von den Größeren kannte sie bereits sehr gut und spielte mit ihnen ... Es war immer etwas zu sehen oder zu hören an diesem Ort. Doch jenes Wesen gehörte nicht hierher – was immer es sein mochte.
Sie hob den leeren Eimer vom Boden auf, und hängte ihn erneut an den Haken des Taues, der ihn in der Tiefe des Brunnens sichernd begleitete. Ihre Hände bearbeiteten die quietschende und immer wieder hakende Kurbel der Winde, aber ihre Aufmerksamkeit galt ungebrochen ihrer Umgebung. Wieder versuchte sie sich zu erinnern …
Es ist schon eine gute Zeit her, als es das erste Mal geschah. Etwas verschwand um die Ecke ihres kleinen Heims, als sie gerade aus der Tür trat. Es war sehr groß … aber das war auch alles, was sie erinnern konnte. Es hatte keine Farbe und keine Gestalt – zumindest wusste sie keine zu benennen. Sie sprang sofort wieder zurück ins Haus, während ihr irgendetwas die Luft zu nehmen schien – dann war es vorbei. In dieser Art war es immer, doch die zeitlichen Abstände zwischen diesen Vorfällen wurden offenbar von Mal zu Mal kürzer.
Sie vernahm das leichte Aufsetzen des Eimers auf das tiefe Wasser, und das Seil erschlaffte. Sie wartete die Zeit, die der Eimer brauchte, um endgültig abzutauchen, und begann ihn wieder hinauf zu kurbeln.
Das geschah, wie immer, nicht ohne Mühe. Sie war noch sehr jung. Ihr noch schmaler, doch durchaus kräftiger Körper, der in einer leichten Wölbung ein kleines Bäuchlein verriet, beugte sich über den Brunnenrand, um den Bügel des Eimers zu fassen. Einen Augenblick lang schaute sie nach unten und vermochte in der Tiefe sich selbst zu erblicken. An frohen Tagen konnte sie viel Zeit damit verbringen, ihr Spiegelbild dort unten zu betrachten. Es war nicht Eitelkeit, es war vielmehr ein Staunen über das, was sie dort sah – und eigentlich nicht recht verstand. Zuweilen gab es kleine Wellen in der Tiefe des Brunnens, dann bewegte sich ihr Abbild und es schien ihr, als wäre die dort unten jemand Anderes – aber das konnte natürlich nicht sein.
Das Antlitz der Kleinen war in der Art, dass die sie umgebende Natur wohl ihre eigene Unvollkommenheit darin entdecken musste. In ihren großen, dunklen Augen, so schien es, konnte man all ihre durchwanderten Universen entdecken. … Doch es war keinerlei Erinnerung in ihr – sie wusste ja nicht einmal, dass es überhaupt etwas zu erinnern gab. Alles was ihr Nachsinnen füllte, stammte von diesem kleinen und vertrauten Ort.
Doch in diesem Moment hatte sie keinen Sinn für die Verwunderlichkeiten einer Spiegelung in der Tiefe. Sie zog fast hastig den überschwappenden Eimer auf die Brüstung, während ihre Augen einmal mehr versuchten, die hohe Hecke des Gartens durch all die Bäume und dem Gestrüpp zu erkennen. Doch es gelang ihr nicht.
Vielleicht kam dieses Wesen von dort draußen?
Sie hatte noch niemals auch nur einen Blick hinter diese Hecke getan. Ihr Bäuchlein signalisierte ihr unmissverständlich, dass es sich davor zu bewahren galt. Es gab wohl immer wieder Momente, in denen sie sich fragte, was hinter dieser undurchdringlichen grünen Wand lag, aber es blieben immer nur Momente. Eine unerklärliche tiefe Angst, die sie von Anfang ihrer Erinnerung an in sich trug, stillte immer sehr schnell die aufkeimende Neugier in ihr. Niemals hatte sie sich gefragt, warum sie allein war in diesem Garten – umgeben von einer unüberwindlich anmutenden Hecke – die seltsamerweise immer so aussah, als wäre sie gerade frisch beschnitten worden …
So saß sie zumeist in der heimeligen Küche des kleinen, alten Hauses, und dachte an tausenderlei Dinge, die sich jedoch niemals über die Grenzen ihrer kleinen Welt hinausbewegten. Und wenn ihre Gedanken hin und wieder anfingen, sie zu beunruhigen, dann streichelte sie ihr kleines Bäuchlein. Das war ein sehr angenehmes und beruhigendes Gefühl – wenn sie auch nicht sagen konnte, warum.
Mit beiden Händen wuchtete sie den schweren Eimer von der Mauer des Brunnens herunter und wandte sich endlich der nahen Eingangstür des Hauses zu. Fast lief sie schon rückwärts, so häufig wendete sie sich nach dem nahen Teich um – immer darauf gefasst, dass es wiederkehren würde.
Die Kleine lebte natürlich nicht gänzlich allein in dieser überschaubaren Welt.
Trautel Melanchful war eine alte Dame – eine sehr alte Dame, deren Alter nicht zu schätzen war. Sie war aber mindestens so alt, dass sie das gebrechliche Haus noch in seinen frischen und festen Tagen erlebt haben musste. Ihre weiß-lederne Haut war durchzogen von unzähligen tiefen Furchen, aber dennoch erschien sie auf eine seltsame Weise stark und fast unbezwingbar. Ihre Augen leuchteten wie zwei funkelnde Sterne, denen nichts zu entgehen schien.
Das heißt, diese Beschreibung war wohl bis vor einiger Zeit noch gültig, neuerdings wirkte sie nämlich ziemlich matt. Erschien sie bislang sehr mobil und sogar regelrecht flink, so bewegte sie sich nun schon seit einiger Zeit etwas gebückt, mit schleppendem Gang, und machte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment zerbrechen. Ihre sonst silbrig glänzenden, schulterlangen Haare hingen nun dünn und farblos von Ihrem Kopf herab.
Der Kleinen war diese seltsame Veränderung nicht entgangen. Sie liebte die Alte sehr. Soweit sie zurückdenken konnte, war da immer wieder diese unerklärliche Angst in ihr. Doch Trautel Melanchful bemerkte es sofort, und konnte sie auf geheimnisvolle Weise wieder beruhigen. Die spannenden Geschichten, die ihr Trautel Melanchful des Abends vor dem Einschlafen erschuf – Geschichten und Abenteuer aus fernen und fremden Welten – waren nicht mehr zu zählen. ... und sie hatten immer ein gutes Ende!
Doch mit der zunehmenden Schwäche der Alten verebbten auch diese Geschichten. Immer häufiger musste sie ihr Bäuchlein streicheln, weil sie eine große Unruhe in sich spürte. Es war inzwischen sogar soweit, dass Trautel Melanchful ihre Unruhen nicht mehr zu bemerken schien. Es war eine Zeit, da sie das erste Mal meinte, ein Gefühl der Verlassenheit in sich zu spüren.
Vielleicht war dies der Grund, warum sie ihr noch nichts von den beängstigenden Erscheinungen erzählt hatte. Wahrscheinlicher war es aber wohl, dass sie fürchtete, etwas zu erfahren, das sie auf gar keinen Fall wissen wollte. Etwas in ihr fürchtete eine nahe Zeit.
So versuchte sie sich immer wieder einzureden, dass sie diese seltsamen Erscheinungen nur Tagträumen würde – eine Geschichte die sie selbst erschuf, solange es Trautel Melanchful an den ihren missen ließ – und dass bald wieder alles in Ordnung wäre. Es war ja auch nichts Wirkliches, was sie hätte benennen können.
Den schweren, hölzernen Wassereimer mit beiden Händen haltend, stieß sie die nur angelehnte verblichene Tür mit der Schulter auf. Knarrend schwang das Holz zurück, und machte den Weg in die Küche frei, durch die man das Haus betrat. Sie wuchtete die Last noch ein paar Schritte weit bis zu der kleinen Anrichte zu ihrer Linken, und ließ endlich von ihr ab.
Trautel Melanchful stand mit dem Rücken zu ihr auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes und schaute wortlos durch eines der Fenster in den Garten hinaus. Obgleich dieser Anblick für Kishou nichts wirklich Ungewöhnliches an sich hatte, war sie doch etwas erschrocken. Von diesem Fenster aus schaute man direkt in die Richtung des kleinen Teiches …
So stand sie wie angewurzelt vor der Anrichte und starrte zu Trautel Melanchful hinüber. Die rührte sich nicht. Ihre spindeligen Finger waren auf den Fenstersims gestützt, während sie in gebeugter Haltung in den Garten hinaus schaute – hinüber zum Teich.
Stand sie schon lange da? – Hatte sie es auch gesehen? – Warum sagt sie nichts? Tausend Gedanken liefen gleichzeitig durch ihren Kopf. Sie redete immer gern – und viel. Unter normalen Umständen hätte sie sofort gefragt … Aber die Umstände waren schon seit Längerem nicht mehr normal. Etwas in ihr fürchtete die Antwort, die der Frage folgen könnte … So stand sie einfach nur da, und schaute in den gekrümmten Rücken der Alten, die ihrer Anwesenheit scheinbar keinerlei Beachtung schenkte.
Die Augen des Mädchens begannen unstet in dem Inneren des kleinen Raumes umher zu flattern – unsicher, wie sie der bedrückenden Situation begegnen sollte – als Trautel Melanchfuls Hände sich plötzlich vom Sims des Fensters lösten, und sich ihr schwacher Körper schleppend in das Kücheninnere eindrehte.
Die Kleine vergaß fast das Atmen, als sich ihre Augen trafen. Es schienen ihr fremde Augen, die sie meinte noch nie zuvor gesehen zu haben. Etwas Seltsames, fast beängstigendes lag in diesem Blick … Doch es war nur einen Moment lang – dann verlor sich der Eindruck doch schnell wieder, und sie strahlten wieder jene Wärme aus, die sie immer so nötig hatte.
Die Alte schlurfte langsam zu ihr hinüber und nahm sie wortlos in die Arme. Diese seltsame Ruhe lief sogleich wieder durch ihren Körper, wie sie es schon tausendmal erlebt hatte, wenn Trautel Melanchful ihre Arme um sie schloss. Doch diesmal schien es etwas Besonderes – vielleicht ja nur, weil es seit Langem wieder das erste Mal war. Es war wieder diese wunderliche Übereinkunft, die keinerlei Fragen und keiner Antwort mehr bedurfte. Vielleicht hatte Trautel Melanchful etwas gesehen – oder auch nicht. Es war nicht mehr wichtig.
„Ich hab‘ Angst.“, sagte sie leise.
„Ja.“, antwortete Trautel Melanchful.