Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 11
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ОглавлениеDer Rest des Tages war fast so, wie sie ihn von der Zeit her kannte, als Trautel Melanchful noch flink durch die Zimmer huschte, und sie sich in ihrer Nähe sicher und geborgen fühlte. Zwar vermied sie es, an diesem Tage noch einmal in den Garten hinauszugehen, aber sie war sich sicher, dass nun alles wieder wie früher sein würde. Trautel Melanchful schien wohl nach wie vor sehr gebrechlich, doch etwas hatte sich auch an ihr an diesem Tag verändert. Es war nicht mit Worten zu beschreiben, aber es schien ihr etwas Wunderbares zu sein.
Doch diesem hoffnungsvollen Tage folgte die Nacht. Und es war ein böser Traum, der diese Hoffnung auf immer begraben sollte.
Sie träumte, sie stünde an dem Rande eines mächtigen Abgrunds, und während ihre Augen regungslos in die Untiefen starrten, spürte sie einen unwiderstehlichen Drang, über diesen Rand hinauszuschreiten. Das Bäuchlein rebellierte, aber sie konnte nicht einmal beruhigend ihre Hände auf ihn legen. Wie ein kleiner windiger Teil des Felsens, der sie trug, stand sie da, unfähig sich zu rühren. Sie bemerkte, wie ihr Körper fast unmerklich, aber doch spürbar damit begann, seinen Schwerpunkt mehr und mehr in die Richtung des Abgrundes zu verlagern. Das Blut staute sich in ihrem Kopf, als etwas in ihr schreiend um Hilfe flehte. Aber ihr Mund war nicht in der Lage, die Worte zu formen. Immer mehr und mehr neigte sich der Körper dem Abgrund entgegen, und das Schreien ihres Innern konnte ihn nicht aufhalten.
Wie ein geschlagener Baum kippte sie langsam vornüber, bis die drängende Kraft, die sie verführte, ihr Werk vollenden konnte, und sie in die abgründige Tiefe riss.
Sie stürzte in unendliche Tiefen, und erst jetzt erwachte ihr Körper aus seiner Erstarrung. Schreiend griff sie um sich – verzweifelt einen Halt suchend – bekam plötzlich tatsächlich etwas zu fassen – krallte sich mit aller Kraft daran fest – und erwachte.
Drei Kerzen, die auf der kleinen Kommode neben ihrem Bett standen, verbreiteten ein warmes, ruhiges Licht. Auf dem Rand des Bettes saß Trautel Melanchful, und die Hände der Kleinen krallten sich tief in ihren knöchrigen Arm ...
Und obwohl Trautel Melanchful doch in der letzten Zeit so stetig abmagerte, und nun mehr oder weniger nur noch aus Haut und Knochen bestand, erschien sie seltsamerweise jetzt, wie sie da so saß, mit einem ruhigen Lächeln im Gesicht, gar nicht so schwach, wie es ihre Gestalt vermuten lassen wollte. Ihre Augen funkelten, und auch die unzähligen Furchen ihres Gesichts schienen weit weniger tief als sonst – ja eigentlich waren sie kaum noch zu bemerken. Nur einige dünne Schattenlinien, die das Kerzenlicht in ihr Gesicht zeichnete, ließen die Orte vermuten, wo sonst nur tiefe, knittrige Falten zu sehen waren.
Die Kleine war so sehr erleichtert, aus einem bösen Traum zu erwachen, dass sie lauthals anfing zu lachen. Das Lachen brach so plötzlich ab, wie es aus ihr heraus gefallen war. „Ich hab’ ganz gemein geträumt!“, sagte sie endlich, und ihre vollen Lippen stülpten sich etwas eingeschnappt nach vorn – eine viele Male erprobte Geste, die mit einiger Sicherheit das benötigte Verständnis und den Trost Trautel Melanchfuls aktivierte.
Trautel Melanchful nahm ihre Hände, die sich noch immer in ihre magere Haut krallten und nun weiße Druckstellen hinterließen, und zeigte ein geheimnisvolles Lächeln ... „Ich weiß, meine kleine Kishou!“, sagte sie. „Es ist nun die Zeit der Erinnerung!“.
„Was für eine Erinnerung?“, fragte die Kleine verwundert.
„Nun – die Erinnerung an deine Zukunft!“
„Hä?“, wunderte die sich. „Wie soll man sich denn an die Zukunft erinnern … Das geht doch gar nicht! … Die ist doch … Die ist doch … da vorn!“ Sie machte eine ausladende Handbewegung ins Nirgendwo und schaute dabei verwundert und etwas zweifelnd auf Trautel Melanchful.
Die Alte lächelte und schüttelte sanft ihren Kopf. „Nein, meine kleine Kishou. Es ist immer das Vergangene, das du in der Ferne findest.“
Ihr Tonfall wurde plötzlich ernster, ohne aber an Wärme zu verlieren. „Es ist ein tiefes Geheimnis in dir verborgen, und es ist nun die Zeit, es zu ergründen!“
Die Gelöstheit verschwand jäh aus dem Gesicht des Mädchens. Sie verstand nichts von dem, was Trautel Melanchful da sagte, aber eine schnell aufkeimende innere Beunruhigung ließ keinen Zweifel daran, dass irgend etwas in ihr wusste, was die Worte der Alten bedeuteten. Unwillkürlich begann sie, ihr kleines Bäuchlein zu streicheln, aber diesmal war es anders als sonst, und ihr Herz begann eher noch heftiger zu schlagen. „Was meinst du damit? Ich weiß gar nicht … wovon du redest!“, stammelte sie abwehrend.
Trautel Melanchfuls Gesicht straffte sich noch etwas mehr, und gab dem Kerzenlicht nun kaum mehr eine Gelegenheit, einen Schatten darin zu verbergen ... „Du hast mich niemals nach dem Großen Belfelland befragt, in dem unsere kleine Heimstatt ruht. Nun ist die Zeit, da du es ergründen wirst. Dort findest du alle Ursache und das tief in dir ruhende Geheimnis!“ Ihr schmächtiger, verkrümmter Körper richtete sich während ihres Erzählens etwas auf, und schien an Kraft zu gewinnen. „Das Ergründen dieses Geheimnisses, das weit außerhalb deiner Erinnerung liegt, ist für mich von großer Bedeutung. Ich habe sehr lange warten müssen auf diesen Tag, und ich weiß, wie sehr du ihn in deinem Inneren fürchtest. Doch in jener Zeit, die so weit außerhalb deiner Erinnerung liegt, hast du meine Hilfe erbeten – und gefordert dich zu mahnen, wenn die Zeit dafür ist. Dies ist nun die Zeit!“
Die kleine Kishou begann während der Kunde Trautel Melanchfuls nervös an ihrem Bäuchlein herumzukratzen. Nicht, dass sie sich an irgend etwas erinnerte, aber dennoch war da das höchst ungute Gefühl, dass etwas Bedeutendes geschah, dem sie nicht entfliehen konnte. Am liebsten hätte sie jetzt irgend etwas eingeworfen, das befähigt wäre, auf ein belangloses Thema umzuschwenken, doch sie spürte, dass es dazu bereits zu spät war. „Es passier’n schon lange so komische Sachen … ich versteh’ das alles nicht!“, dachte sie mehr laut, als dass sie die Alte tatsächlich ansprach … „Hat das auch damit zu tun ... was ich immer wieder im Garten sehe?“, fiel ihr plötzlich ein. Es war immerhin eine gute Gelegenheit, dieses Thema anzusprechen.
„Was ist in unserem Garten?“, fragte die Alte.
„Ich hab’ keine Ahnung!“, stöhnte Kishou fast etwas genervt. „Ich erschreck’ mich immer so, wenn es da ist, und versteck’ mich dann ganz schnell. Wenn ich dann wieder hingucke, ist es weg. Ich dachte, du hättest es heute auch gesehen, … wie du am Fenster gestanden bist!“
„Ach das meinst du ...“, lächelte Trautel Melanchful.
„Du hast es also auch gesehen?“ Kishous Augen öffneten sich weit.
„Natürlich, ich sehe es immer, denn es ist immer da!“
„Wieso hast du mir nie davon erzählt? – ich erschreck’ mich doch immer so, wenn ich es sehe … Was ist das denn?“, fragte sie nun doch mit einem durchaus vorwurfsvollen Unterton.
Trautel Melanchful lächelte und schaute ihr tief in die Augen. „Es ist deine Erinnerung, die dein Geheimnis bewahrt. Deine Furcht vor ihr ist jedoch noch zu groß, um ihr ins Angesicht zu sehen! Manchmal kannst du nun schon einige Konturen erkennen – soviel, wie deine Furcht zulässt. Seit du es zum ersten Mal bemerkt hast, bist du bereits auf dem Weg – verstehst du?“
Kishou verstand nicht – und sie hatte auch nicht das leiseste Interesse daran, es zu verstehen. Sie verspürte ein aufkommendes Gefühl der Übelkeit, und auch das heftigste Reiben an ihrem Bäuchlein brachte keine Beruhigung mehr. „Es ist sicher alles nur Einbildung!“, entschied sie unmissverständlich abwehrend.
„Ja“, antwortete das Mütterchen. „Es sind deine inneren Bilder, die du seit jeher in dir trägst!“
Kishou sagte nun nichts mehr. Zu sehr war sie mit ihrem Bäuchlein beschäftigt und starrte dabei an die Decke, während ihr Kopf verzweifelt nach einer einfachen Erklärung – oder wenigstens nach einem Ausweg aus dieser Bedrohung suchte.
Es folgte ein Moment der Stille, der auch nicht gerade geeignet war, sie zu beruhigen …
„Möchtest du nichts über das Große Belfelland wissen, das sich hinter der hohen Hecke unseres Gartens in alle vier Winde erstreckt?“
„Nein!“, schoss es aus Kishou heraus, noch bevor Trautel Melanchful ihre Frage richtig beenden konnte. „... ist doch egal!“, schimpfte sie fast. „Das interessiert mich nicht!“ Ihre Lippen schoben sich zu einem ausdrücklichen Schmollmund nach vorn und ihr Blick starrte unter den nach unten gezogenen Augenbrauen an die gegenüberliegende Wand.
„Wäre es dir gleichgültig, wenn ich sterben müsste?“, fragte Trautel Melanchful übergangslos, aber mit der selben ruhigen, klaren Stimme.
Kishou schaute erschrocken zu ihr auf – um aber sofort wieder das Schmollgesicht aufzusetzen ... „Quatsch!“, bemühte sie sich zu schimpfen. „Was hat das denn damit zu tun!? Es interessiert mich eben nicht, was da draußen ist! Na und?“ Gerade rechtzeitig fiel ihr die Geschichte von Liza und den Räubern ein, die ihr Trautel Melanchful einmal erzählte. Liza war sehr stark, und sprach immer mit sehr klaren und deftigen Worten – das hatte ihr sehr imponiert. Und die passten jetzt genau hier hin, wie sie befand.
„Und doch ist mein Leben untrennbar verbunden mit der Aufgabe, die du dir einst gestellt hast!“, antwortete Trautel Melanchful ernst.
„Da bin ich aber gespannt!“, murrte Kishou – und sie war gar nicht gespannt. Es war ihr einfach nur elend zumute, und auch der noch so verzweifelte Versuch, sich in die ,starke Liza’ hineinzufühlen, konnte daran nichts wirklich ändern. Sie hatte keinerlei Erinnerung an irgendetwas, was das Frösteln ihres noch jungen Körpers erklären konnte. Es war wohl der Körper, der sich erinnerte – auf jeden Fall wollte er nicht mehr zur Ruhe kommen.
„Und überhaupt – was denn für eine Aufgabe?“, trotzte sie weiter in die unerträgliche Stille hinein, weil Trautel Melanchful nicht gleich geantwortet hatte – aber im selben Moment hatte sie ihre Frage auch schon wieder bereut.
Trautel Melanchful bemerkte die Falle, die sich Kishou selbst gestellt hatte, und lächelte. Sie nahm die Hände der Kleinen und drückte sie. „Hier wirst du dich immer festhalten können, auch wenn du sie einmal nicht fühlst!“
Die Alte erhob sich von dem Bett und schlurfte zu der betagten Kommode hinüber, die am Fußende des Bettes, an der gegenüberliegenden Wand stand. Sie bückte sich, zog die unterste Lade weit auf, wühlte zwischen einem großen Haufen getrockneter Blätter herum, die sich im Laufe der Jahre dort angesammelt hatten – Kishou pflegte schon immer die schönsten Blätter die sie fand, zu sammeln – und zog endlich eine kleine Truhe hervor. Sie wischte mit der Hand ein paar Blattkrümel von ihr herunter und betrachtete sie einen Moment. Dann schob sie die Lade wieder in die Kommode hinein und schlurfte mit der Truhe zurück zum Bett.
„In der Truhe ist nix drin!“, stellte Kishou nüchtern fest. „Ich hab’ sie da auch schon gefunden!“
Trautel Melanchful lächelte einmal mehr, während sie sich wieder auf den Rand des Bettes niederließ. „Du konntest noch nichts darin finden, weil noch nicht die Zeit dafür war!“, verriet sie ihr.
Kishou setzte sich auf, ergriff die Truhe und klappte den Deckel nach oben. „Siehst du – da ist nix drin. Was willst du mit der Truhe?“
Trautel Melanchful nahm das hölzerne Kästchen wieder an sich, und Kishou ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Die Truhe, und was darin ist, gehört dir!“, sagte sie unbeeindruckt. „Aber erst, wenn die Zeit dafür ist, wirst du es finden können. Diese Zeit ist nun gekommen.“
Kishou legte verwundert die Stirn in Falten. „Wie? Aber da ist doch ...“
„Greif nur hinein!“, wurde sie von Trautel Melanchful unterbrochen.
„Häh? Aber ...“
„Nun greif schon hinein!“ Die knochigen Hände der Alten streckten ihr die kleine Truhe noch etwas mehr entgegen.
„So’n Quatsch!“, krittelte Kishou und griff kopfschüttelnd in die Truhe.
Da sie nun wieder in den Kissen lag, während sie etwas widerwillig ihre Hand in den hölzernen Kasten steckte, konnte sie dessen Boden nicht einsehen. So erschrak sie fast, als ihre Finger gegen irgend etwas auf dem Grunde der Truhe stießen. Sie ergriff es, und zog es heraus. „Was ist das denn?“ In der Hand hielt sie einen seltsamen stabförmigen Gegenstand, dessen eine Seite in der Gestalt eines Blattes endete – kleine Blüten und andere Formen waren darin ausgespart. Er war durchsichtig wie Glas – aber es fühlte sich nicht an wie Glas ..., und das ruhige Kerzenlicht brach sich darin in tausend Farben.
Staunend betrachtete sie das ,Ding’ von allen Seiten. „Was is‘ das denn? ... und wieso ist das plötzlich da drin? Das war doch eben noch nicht da ... ich hab's doch genau gesehen!?“
Trautel Melanchful zeigte erneut ihr geheimnisvolles Lächeln. „Es ist ein Schlüssel – so etwas, wie Liza vor Grindolf versteckt hatte, damit er die große Truhe nicht öffnen konnte!“ Ihre spärlichen weißen Brauen hatten sich etwas hochgezogen, und ein Augenzwinkern lag in ihrem Gesicht. Sie kannte ihre eigenen Geschichten natürlich sehr gut, und wusste sofort, welche ihrer Figuren Kishou sich gerade auslieh, um ihre Angst im Zaum zu halten. „Dieser hier ist aber ein besonderer Schlüssel zu einer ganz besonderen Truhe!", lächelte sie. "... und du hast ihn nun gefunden, weil es die Zeit dafür ist. Dein Geist will sich nicht erinnern, und darum konntest du ihn nicht sehen. Doch dein Körper hat all deine Zeiten für dich aufgehoben, und erinnert dich nun an ihn.“
Der Blick Kishous ließ keinen Zweifel daran, dass sie nichts verstand – bestenfalls, dass sie sich ertappt fühlte. Gut, sie erinnerte sich an so etwas, mit dem man Truhen verschließen konnte, aber so wie ihn Trautel Melanchful damals beschrieben hatte, sah dieses Ding hier nicht aus. So ein Schlüssel musste doch eigentlich einen Bart haben – und das hier war doch nur ein Stab – mit einem Griff oben dran!?
„Hast du dich noch niemals gefragt, was sich hinter der hohen Hecke unseres Gartens erstreckt?“, fragte Trautel Melanchful in Kishous Nachdenklichkeit hinein.
„Ist doch egal!“, schoss es aus der Kleinen wieder so schnell heraus, dass sie darüber selbst etwas verwundert war. Aber die Signale ihres Bäuchleins waren eindeutig. Sie ließ das kristallene Ding auf das Deckbett fallen, um ihre Hände für das Bäuchlein frei zu haben, das dringend beruhigt werden wollte.
„Es ist das Große Belfelland – das ,Land der Wasser’, das uns umschließt, und in dessen Mitten unsere kleine Heimstatt ruht. Es ist wunderschön und scheint ohne jede Ordnung – und doch kann man sich nicht darin verirren!“
Die Augen der Alten schlossen sich, und sie sprach in einer Weise, als würde sie ein Bild beschreiben, das sich in diesem Moment in ihrem Innern auftat. „Wie unser Garten, so scheint es gut überschaubar, wenn man nur weit genug geht, und doch wird man es nie zur Gänze ergründen, denn seine wahre Größe bemisst tausend Mal den Himmel über uns. Es erstreckt sich über sechs Drome. Weite, hohe Ebenen wechseln sich mit ausgedehnten Tälern, und an keinem Ort ist es wie am Vorherigen – und doch sind sie auf ewig unzertrennlich miteinander verbunden. Jedes der Drome ist so vertraut, als hätte man sein Leben darin verbracht, wenn man es durchquert, und doch so unergründlich und fremd, als sähe man es zum ersten Mal – und wird nicht müde, darin zu forschen.“
Die Augen der Alten öffneten sich, und schauten lächelnd auf Kishou. "Das Große Belfelland ist ein besonderer Ort, in dem nichts ist, wie es scheint – und doch liegt in all dem Schein das Wahre.
Sie verstummte nun für einen Moment, und ihre graue Gesichtsfarbe schien plötzlich noch etwas grauer zu werden. Die Augen schlossen sich wieder, bevor sie nun weitersprach. "Das Große Belfelland war an Schönheit nicht zu übertreffen, vollkommen war alles und ohne Not. So war es bis zu jener Zeit, als Suäl Graal, die Hüterin der Großen Tore der Großen Wasser die Tore auf immer verschloss, und den Schlüssel an einen unbekannten Ort verbarg. Seither begannen die Wasser in den unzähligen Bächen, Flüssen und Meeren zu versiegen, und eine große Dürre kam über das Belfelland. Es wird bald sterben, wenn nicht die Großen Tore der Großen Wasser wieder geöffnet werden!“
Nun schwieg Trautel Melanchful – und nur ihre Augen, die sich wieder öffneten und nun in denen Kishous ruhten, erzählten weiter ...
Kishou versuchte dem Blick der Alten auszuweichen. Ihre Augen suchten irgend etwas auf dem Deckbett, an der Wand, an der niedrigen Decke des Zimmers, beobachteten einen Moment die ruhige Flamme der Kerze – und mussten doch immer wieder in die Trautel Melanchfuls zurückkehren. „Ähm ... malst du mir morgen wieder ein Bild auf ein Tuch?“, fragte sie kleinlaut in die zähe Stille. „Ich könnte es dann wieder aussticken, wie das Letzte. ... Der Schmetterling ist doch schön geworden – oder?“
Trautel Melanchfuls Augen bewegten sich nicht, und ruhten weiter wortlos in denen Kishous.
„Na ja ... wieso hat sie denn das gemacht, ich meine ... diese Tore zugemacht ... ist doch blöd!“ Sie erinnerte sich, dass ihr durchaus aufgefallen war, dass der Brunnen im Laufe der Zeit immer tiefer zu werden schien – und auch der Teich hatte einmal mehr Wasser aufgehoben … Aber sie hatte sich niemals wirklich Gedanken darum gemacht.
"Ich will dir nun eine Geschichte erzählen – es wird die Geschichte des Großen Belfellands sein!", meinte die Alte wieder lächelnd, wenn auch mit sorgenvollem Blick. „Das Große Belfelland erstreckt sich über sechs Drome. Jedes unterschieden in ein Tal und einer hohen Ebene. Es ist die Sippe der Chemuren, die über das Große Belfelland herrscht, und seine Drome einst untereinander aufteilte. Jeder dieser Sippe ist Regent über Eines der Drome – manchmal auch von Zweien. Ich selbst – mein Kleines – gehöre auch zu ihnen!“
Kishous Augen weiteten sich. Das war nun doch wieder eine Auskunft, die durchaus geeignet war, ihren Schrecken vergessen zu machen. Was Trautel Melanchful sich nun anschickte zu berichten, klang wie die unzähligen Geschichten, die sie ihr immer des Abends vor dem Einschlafen erzählte – und die sie nun schon so lange missen musste. „Du meinst, du bist eigentlich so was ... wie eine Königin?“, fragte sie ehrlich ergriffen. In den Geschichten Trautel Melanchfuls kamen häufig Könige, Prinzessinnen und Königinnen vor.
Trautel Melanchful lächelte. „Ja, mein Kleines!“
„Und welches ist dein Drom?“, wollte sie nun sofort wissen.
„Ich bin die Herrscherin der Vierten Ebene des Vierten Tals des Vierten Droms“, antwortete sie, und freute sich über die erwachende Neugier Kishous.
„Und warum sind wir dann hier? Ich meine … hast du dann nicht auch ein großes Schloss?“ Kishou hatte sich inzwischen auf ihren Ellenbogen nach oben gestützt, und hing gebannt an den Lippen der Alten.
„Ja, mein Kleines. Es ist sehr groß und sehr hell – und es steht auf einer kleinen Insel, mitten in einem großen See. Des Nachts kann man es vom Ufer aus sehen, wenn es hell erleuchtet ist.“
„Ehrlich? …“
„Ja!“ Ihr Gesicht wurde wieder ernster. „Doch die Macht der Chemuren ist nicht ohne Grenze“, setzte sie nun wieder fort. „Über die Sippe der Chemuren herrscht Suäl Graal, die Hüterin der Großen Tore der Großen Wasser. Sie ist die Mächtigste unter uns, und die Herrscherin über alles, was da ist. Ihre Gebote sind streng, und ihre Entscheidungen endgültig. Niemand darf es wagen, ihr zu widersprechen!“
„Oh ...“, reagierte Kishou nur, und schien bereits in Trautel Melanchfuls Geschichte verloren gegangen zu sein.
„Doch es war eine Zeit ...“, fuhr die Alte fort, „... da begehrte die Sippe der Chemuren auf gegen Suäl Graal. Sie missachteten die Gebote der Mächtigsten. Sie gestalteten ihre Drome nach ihrem Gutdünken und gerieten darüber bald auch untereinander in Streit. Sie missachteten die Ordnung Suäl Graals, und stimmten den Lauf der Wasser nicht mehr miteinander ab, und bald schon war ein großes Durcheinander im Belfelland. Die Wasser stürzten ungelenk in die Täler und die hohen Ebenen verdorrten zusehends.
Suäl Graal war erzürnt darüber, dass man sie missachtete, und gebot, alles wieder nach ihrem Plan zu richten. Doch in der Hitze des Streits vergaß die Sippe der Chemuren wohl, wer ihnen dies gebot – und sie hörten nicht auf ihre Worte.
In ihrem Zorn nun verschloss Suäl Graal die Großen Tore der Großen Wasser und war entschieden, sie erst dann wieder zu öffnen, wenn alles Leben im Großen Belfelland verdorrt und erloschen sein wird!“ Es entstand eine kleine Pause, als suchte sie in ihrer Erinnerung nach dem Verlauf der Geschehnisse. ... „Die Sippe der Chemuren erkannte alsbald die Folgen ihres Ungehorsams, und sie versprachen, alles wieder nach dem Plane Suäl Graals zu richten – doch Suäl Graal blieb unversöhnlich in ihren Zorn, und hielt die Großen Tore der Großen Wasser für alle Zeiten verschlossen.
So begannen die Wasser zu versiegen im Großen Belfelland. Zunächst im Ersten Drom – dort wo die Wasser sich trafen nach langem Fluss – und so ging es fort, dass die Brunnen versiegten von Drom zu Drom. Ihre Völker sammelten sich seither an den Orten, die ihnen noch ein Leben versprachen!“ Sie machte erneut eine kleine Pause, und schien einen Moment nachzudenken ...
„Darauf ersann das Obere Squatsch, Herrscher über die Fünfte Ebene des Fünften Tals des Fünften Droms die ,Besonderen Apparate’ der Korks – gewaltige Maschinenwesen, die dann alsbald von den Kyiten, dem Volk der Ersten Ebene des Ersten Tals des Ersten Droms, auf seine Anweisung hin erschaffen wurden.
Das Volk der Afetiten – das Volk der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms – zog alsdann mit dem großen Heer der Korks gegen Suäl Graal, um sie zu bezwingen. Doch es konnte ihnen nicht gelingen – sie wurden zerschmettert!“
Die Alte pflegte ihre Geschichten immer in einer Weise der Betroffenheit zu erzählen, als wären sie wirklich geschehen, darum waren sie für Kishou auch immer so spannend. So erkannte sie nicht, dass die kleinen Pausen, die Trautel Melanchful hier und da einlegte, dieses Mal nicht der erdachten Erzählung als Schmuck dienten, sondern tatsächlich Teil schwerer Erinnerung war ...
„Je stärker die Armeen wurden, die gegen sie stürmten – und sie sollten zuletzt von einem Horizont zum Anderen reichen,“ berichtete sie weiter, „... desto stärker wuchs auch die Macht Suäl Graals. Es war ein grausiges Gemetzel, und es half doch nichts. Es bedarf einer anderen Macht, sie zu bezwingen!“
Kishous Augen drohten herauszufallen, so gespannt war sie. „Und du bist dann aus deinem Schloss hierher geflohen ...!“, meinte sie zu erraten.
„Nein, mein Kleines!“, lächelte Trautel Melanchful „Dies ist der einzige Ort, über den auch Suäl Graal keine Macht hat. Hier habe ich auf dich gewartet!“
„Auf mich? … wieso … was hab ich denn damit zu tun …?“, wunderte sich Kishou, während ein böses Gefühl sich ihrer bemächtigte. Langsam ließ sie sich zurück in die Kissen sinken.
„Dies ist die Ursache deiner Ankunft im Großen Belfelland, dem ,Land der Wasser’ – dem Zwischenreich der Welten. Du bist eine Suchende und entstammst dem Volke der Nin – du bist Kishou!“, lächelte sie. Eines Tages wirst du dich erinnern. Nun ist aber die Zeit, da du aufbrechen musst zur mächtigen Burg Suäl Graals in der Vierten Ebene des Vierten Tals des Vierten Droms, um zu vollenden, was begonnen war – um die zu bezwingen, die doch unbezwingbar ist – so, wie du es einst geschworen hast.
„Äh ... wie ... wer ... ICH??“ Kishou schien zum ersten Mal ihr Bäuchlein zu vergessen und drückte statt dessen die Bettdecke fest an ihre Brust, denn ihr Herz schien vor Schreck heraushüpfen zu wollen ... „Puh – das ist sicherlich immer noch der Traum!“, versuchte sie sich zu beruhigen. „Ich wache bestimmt gleich auf ...“
Trautel Melanchful lächelte nur, während sie ihr mit der knochigen Hand über den Kopf strich. Kishou starrte zur Decke. Sie wusste, dass es kein Traum war. Tausend Bilder drängten sich in ihren Kopf, aber es war nichts Rechtes zu sehen. Irgend etwas in ihr erinnerte sich an irgend etwas. Es schien alles sehr bedrohlich, aber es war nicht zu erkennen. Sie spürte, dass es etwas mit den Ängsten zu tun hatte, die sie schon immer begleiteten, und das nun etwas geschehen würde, von dem sie schon immer wusste, dass es eines Tages geschieht ... Aber der Nebel in ihrem Kopf wollte sich nicht lichten.
Suäl Graal ... Der Klang dieses Namens war etwas, das ihr vertraut war, wenngleich nicht die kleinste Erinnerung ihr eine Auskunft darüber geben wollte. Doch es war eine unbegreifliche Vertrautheit des Verderbens, die wohl nur ihr fröstelnder Körper zu deuten vermochte. Sie dachte noch einmal an ihren Traum, der so klar war, dass sie noch immer den Wind zu spüren meinte, der ihren langen Fall begleitete – es war ein kühler und feuchter Wind ...
Lange Zeit starrte sie so zur Decke. Es schien, als wäre sie eingefroren. Kein Muskel bewegte ihr zartes Gesicht. Nur eine Träne perlte nach einer Weile an ihrer Schläfe herunter. Vielleicht waren es einige aufblitzende Bilder in ihrem Kopf – vielleicht aber begannen die Augen auch nur zu brennen, weil sie sogar zu blinzeln vergaß.
Sie bemerkte auch nicht den Wind, der zunehmend an den alten Fensterläden rüttelte. Die Kerzen begannen zu flackern und verloschen eine nach der anderen. Trautel Melanchful saß nur einfach da und hielt Kishous Hand. Ihre Augen waren geschlossen ...
Irgendwann einmal in der Dunkelheit musste Kishou das Unwetter wohl doch bemerkt haben – als einer der Läden sich aus der Verankerung riss, und heftig gegen den Fensterrahmen schlug. „Suäl Graal weiß bereits, dass ich kommen werde!“, flüsterte sie tonlos, ohne den starren Blick von der niedrigen Decke zu wenden.
„Ja!“, sagte Trautel Melanchful.