Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 6
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ОглавлениеZorn und Hass lagen in den Augen Halem Saiis – doch auch die Ohnmacht einer vermeintlichen Schuld lasteten auf ihm, wie er so vom Fenster des Hauses den Gespaltenen Berg wieder und wieder mit seinen Augen bemaß. Nun war er es, der dort stand – kaum, dass er seit jenem Tag diesen Platz noch verließ. Er galt als der Stärkste und der Tapferste der Siedlung, doch seine Kraft hatte keinen Wert, denn sie hatte es nicht verhindern können.
Nur die Schwester war ihm noch geblieben ...
Die Tür des kleinen Verschlags in der Ecke des Raumes öffnete sich knarrend, und Mujie Saii trat heraus. Einen langen Moment stand sie da, und schaute stumm in den Rücken des Bruders. Ihre großen, dunklen Augen schienen aber durch ihn hindurch zu sehen, als erblickte sie etwas in weiter Ferne, und es lag eine stille Furcht in ihnen.
Wenngleich Mujie doch jünger war als er, so ließ die Herbheit ihres Gesichts dies kaum erahnen. Ihre langen, dunklen Haare waren verfilzt und bedeckten in dicken Strähnen die kräftigen Schultern. Sie war im ersten Moment eine wilde Erscheinung, aber ihre Augen erzählten etwas anderes.
Mit langsamen Schritten trat sie endlich an die Seite Halem Saiis und folgte schweigend dessen Blick zum Gipfel des Gespaltenen Berges ... „Ich habe Gäa gebeten dich aufzuhalten“, sagte sie nach einer Weile, ohne ihren Blick abzuwenden.
Halem Saii nickte. „Ich weiß!“, sagte er ruhig, während eine Hand über die kleine Wölbung seines Bauches strich. „Gäa erhörte deine Worte, und hat es versucht ...“ Sein Kopf wandte sich langsam dem Bretterverschlag zu, dessen notdürftig gezimmerte Tür, noch halb geöffnet, den Blick in die kleine dahinter liegende Kammer zuließ, die Mujie gerade verlassen hatte. Im flackernden Licht einiger Talklampen erhob sich eine verblasst bunte, hölzerne Gestalt, deren fleischige Hände ihren kugeligen Bauch umschlossen. Es war das Abbild Gäas, der Schutzgöttin der Nin. Sie war seit Urzeiten deren höchste Gottheit, und ihr wichtigstes Indiz war die stark ausgeprägte Wölbung ihres kugelförmigen Bauches, der in einer kleinen Andeutung auch jeden Nin auszeichnete. Gäa bewohnte nach den Überlieferungen ein großes, hell strahlendes Schloss mitten auf dem Meer, und die Bewohner des Ortes meinten es des Nachts zuweilen von der hohen Steilküste aus sehen zu können, wenn das raue Wetter sich einmal kurz aufklärte.
„... aber sie hat nicht mehr die Kraft, mich aufzuhalten!“ Halem Saiis Blick wandte sich wieder dem Berg zu, und betrachtete ihn schweigend.
„Mutter und Vater fürchteten mich, weil ich nicht war, wie die anderen!", sagte Mujie plötzlich in die Stille hinein.
„Was redest Du da!", war die abwehrende Reaktion des Bruders.
„Alle fürchten mich. Ich habe es immer gespürt. Ich war oft gekränkt und einsam, weil ich nicht zu euch gehören konnte!", widersprach sie mit unmerklichem Kopfschütteln. "Sie haben recht!", sprach sie im flüsternden Ton weiter. "Es es ist alles meine Schuld. Aber ich verstehe es nicht!"
„Hör auf so zu reden!", wurde sie von dem Bruder scharf unterbrochen, und sein Blick grub sich für einen Moment tief in ihre Augen, bevor sie sich wieder dem gespaltenen Berg zuwandten.
Es folgte ein Moment der Stille, doch Mujie hörte nicht auf. „Ich weiß nicht, was in mir ist!“, sprach sie leise weiter. „Sie sagen, Suäl Graal ist dort oben auf dem Gespaltenen Berg … Doch es ist nicht wahr“ Ihre Stimme klang, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Ich weiß es – ich spüre es ganz deutlich. Sie ist in einer anderen Welt – tausendfach größer als der Himmel über uns!“
„Es sind Phantasien – Irrbilder. Was geschehen ist, hat den schützenden Mantel zerrissen, den die Altwisin über dich legte!“, wehrte Halem ab, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.
Mujie schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich habe Angst. Ich muss zu ihr gehen. Ich muss sie aufhalten – dort wo sie zu Hause ist. Gäa wird mich führen und mit mir sein. Sie hat es mir versprochen!“
Nun wandten sich die Augen des Bruders doch zu ihr. Eine tiefe Sorge lag in diesem Moment in ihnen. „Du wirst wieder vergessen, Mujie! Es ist eine schwere Zeit für uns alle, doch ich werde sie beenden!“
„Nein Halem!“, brach es aus Mujie heraus, als würde sie erschreckt aus einem bösen Traum erwachen, und ein Zittern lag in ihrer Stimme. „Ich habe nur noch dich, du darfst mich hier nicht allein zurücklassen! Wer soll mich schützen? Selbst Gäa hat keine Macht über Suäl Graal ... Suäl Graal ist eine Unsterbliche ... Du kannst ihr nicht gegenübertreten in dieser Welt. Niemand kann das! du kannst sie nicht bezwingen. Niemand kann Suäl Graal bezwingen! Aber du könntest ihren Zorn erwecken!“
Halem Saii antwortete nicht. Seine Augen wandten sich wieder dem Fenster zu und sein Blick grub sich tief in den Berg.
„Dann werde ich dich begleiten!“, sagte Mujie nun wieder mit leiser, aber entschlossener Stimme, während ihre Augen wieder denen des Bruders folgten. Ihre schwieligen Hände umschlossen sanft ihr kleines Bäuchlein, das offenbar sein Einverständnis verweigerte.
„Nein!“, brach es zutiefst erschrocken aus Halem Saii hervor, und seine Hände gruben sich heftig in die Schultern der Schwester, als er sie zu sich herumriss. „Ich verbiete es dir mich zu begleiten! Hast du mich gehört, ich verbiete es dir! Wenn ich nicht zurückkehren sollte, so wird Rahmin dich schützen, wie er es mir versprochen hat. Und wenn ich zurückkehre, so ist es wieder Gäa, die mit uns ist!“
Mujie hielt ohne Regung dem Schmerz stand, den ihr die erschrockenen Hände des Bruders zufügten. Stumm blickte sie in seine wilden Augen, bis er endlich von ihr abließ.