Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 3
ОглавлениеProlog
„Li suni to!“
„Qua suni to?“
„Li – Suäl Graal!“
Die Altwisin nickte unmerklich, während sie Mujie Saii aufmerksam musterte. Sie nahm ein kleines Kännchen von der Anrichte neben sich, und träufelte von seinem Inhalt etwas über den Kräuterkreis, den sie kurz zuvor um ihre Füße herum angelegt hatte. Ein feiner Rauch kräuselte sich an Mujie Saiis Beinen nach oben. Sein Geruch überdeckte die feuchte und salzige Luft des nahen Meeres, die sich mischte in den Winden mit dem rauchigen Geschmack verbrannten Holzes. Es brannten immer einige Kamine in der Siedlung.
Dann endlich wandte sie sich um in das innere des Raumes, an deren gegenüberliegende Wand die Familie Saii gebannt und mit ängstlichen Blicken dem Ritual folgten. Mujie Saiis starre Augen blickten derweil die ganze Zeit leer und ohne erkennbare Erregung zum Fenster hinaus, in das wilde Hochland – hinüber zum 'Gespaltenen Berg'. Sie hatte einen guten Blick auf ihn. Wenn der immerwährende neblige Dunst sich zuweilen einmal für kurze Zeit auflöste, und das Wetter so klar war wie heute, fanden die Augen auch dessen Gipfel – und es war nicht irgendein Gipfel irgendeines Berges, von denen es in diesem Hochland so nahe dem Meer unzählige gab. Es war der Berg Suäl Graals, der mächtigen ,Göttin des Kelches' – wie sie in den Legenden beschrieben wurde. Der Gipfel dieses Berges wird darin als ihre Heimstatt benannt. Bei ihrer Ankunft vor vielen Zeiten hatte sie, um ihre Macht zu demonstrieren, den Berg in seiner Mitten aufgerissen, und seine dem Meer zugewandte Seite in die Fluten stürzen lassen – so berichten die Legenden.
„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“ Es war Halem Saii, der dies in Ungeduld fragte. Er war der einzige noch verbliebene Bruder Mujies. Zwei weitere, die Älteren, waren längst nicht mehr unter ihnen. Bogol Saii, der Älteste, verunglückte schon vor langer Zeit oben am Tausteg – einem leichten Überhang der nahen Steilküste – als die Familie nach der noch sehr kleinen Mujie suchten. Das Kind hatte ohne Begleitung bei einem Unwetter das Haus verlassen. Ein Teil des Überhanges brach unter seinen Füßen und stürzte mit ihm ins Meer. Der Zweite, Tako mit Namen, blieb vor noch nicht vielen Sonnenwenden im Kampf gegen den Stamm der Zuren im Feld.
„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“, fragte Halem noch einmal nachdringlicher, als die Altwisin nicht sofort antwortete. Altwisen waren ein besonderer Zweig der Heilkundigen, die allerdings neben der Heilkunst noch sehr viel Wissen über das Volk der Nin und ihre Stämme in sich trugen. Sie waren vertraut mit der Kultur ihres Volkes und ihren Wandlungen in der Zeit, ihren Traditionen, Ritualen und den Göttern. Halem hatte sie auf Bitten der Mutter von weit her in ihr Dorf geholt. Es gab nicht viele von ihnen.
Jetzt endlich nickte die Altwisin nachdenklich. „Es sind Worte einer sehr alten Sprache – Äonen liegen zwischen ihr und unserer Zeit. Nur zwei Stämme am Rande unserer Welt sind mir bekannt, in denen sie noch in Teilen lebendig ist.
„Was sagt sie?“, fragte nun der Vater und richtete sich etwas auf. Er war von stämmiger Gestalt, wirkte aber dennoch müde mit seinen ergrauten, wirren Kopf- und Gesichtshaaren.
„Sie sagt, sie wäre nicht da!“, antwortete die Altwisin.
„Wer ist nicht da?“, fragte der Vater sofort nach.
„Das waren auch meine Worte, die ich an sie richtete!“, nickte die Altwisin. „Sie sagte darauf: Suäl Graal!“
Schultern und Kopf des Vater senkten sich wieder, und auch die Blicke Halems und der Mutter verstummten, als wäre eine böse Ahnung in ihnen zur Gewissheit geworden.
„Erzählt mir von der Tochter – wann alles begann, und was sich sonst noch in ihr zeigt!“, forderte die Altwisin.
„Es ist schwer zu …!“, wollte der Vater gerade beginnen, als er sogleich von der Altwisin unterbrochen wurde. „Nicht hier! Ich habe Vorbereitungen getroffen, dass sie bald zurückkehren wird. Wir sollten ungestört sein!“
So wechselten sie in den angrenzenden Raum. Er war nicht viel größer als der Erstere, aber etwas wohnlicher gestaltet – besaß einen großen Tisch mit Stühlen und einen Kamin, der inzwischen aber verloschen war. Durch sein Fenster, dass hier an der Seite des Hauses lag, konnte man zwischen Bäumen und Sträuchern die Giebel des nahen Nachbarhauses sehen.
„Wir haben uns oft schon diese Frage gestellt!“, begann die Mutter sofort, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Sie war eigentlich ein heiteres, unbeschwertes Kind, dass …“
„Aber auch immer schon sehr eigensinnig!“, wurde sie vom Vater unterbrochen. „Man konnte sie nicht alleine lassen, kaum das sie Laufen konnte!“, schüttelte er erinnernd seinen ergrauten Schopf. „Immer wieder einmal war sie verschwunden, fand sich auf benachbarten Gehöften wieder oder in den umliegenden Feldern und Brachen. Sie verweigerte jeden Gehorsam und keine Strafe konnte sie auf Dauer zähmen!“
„Ja, sie war sehr neugierig ...!“, versuchte die Mutter zu beschwichtigen.
„Sie war in allem ohne Maß und ohne jede Einsicht. Erinnere Dich, wie auch du geklagt hast!"
„Doch sie war eine andere, nachdem Bogol, ihr Bruder verunglückte!“
„Ich weiß nicht, ob es daran lag!“, widersprach auch hier der Vater unwillig. „Sie war eigentlich noch zu klein, um das Unglück zu versteh'n – aber wohl alt genug, um etwas ruhiger und einsichtiger zu werden!“
„Es kam aber doch sehr plötzlich!“, beharrte die Mutter auf ihre Ansicht der Dinge.
„Was veränderte sich an ihr?“, unterbrach die Altwisin den Disput.
„Sie war plötzlich sehr gehorsam!“, übernahm sofort die Mutter. „Sie ging kaum mehr über den Hof hinaus, half im Haus und auf dem Feld so gut sie schon konnte - … und war sehr ernst bei allem. Ich glaub, sie hat auch seit dem nicht mehr gelacht!“, richtete sie sich an den Vater, als wollte sie seine Bestätigung einholen.
„Sie war eben älter geworden!“, versuchte der noch einmal seine Sicht der Dinge zu verteidigen. „Es ist nicht leicht, dem Boden hier etwas abzuringen!“, richtete er sich an die Altwisin. „Es sind immer große Wege und viel Arbeit. Das bekommt man schon früh mit, wenn man hier lebt – und wir mussten damals auch auf Bogol verzichten. Er war ein ganzer Kerl und kräftig!“
„Aber du hast doch nun gehört, dass die Allmächtige von Mujie Besitz ergriffen hat, und es war die Allmächtige, die den Tausteg aus der Wand brach, dass unser Bogol ins Meer gerissen wurde. Wie kannst du noch meinen, das Mujies Veränderung nichts damit zu tun hat?“
Der Vater schwieg.
„Es ist doch so?“, setzte die Mutter fort, und schaute fragend zur Altwisin. „Unsere Tochter ist von Suäl Graal besessen!“
„Erzählt, was weiter geschah!“, ließ die Altwisin die Frage zunächst unbeantwortet.
„Der Stamm der Zuren traf vor noch nicht langer Zeit einmal mehr Vorbereitungen, in unser Land einzubrechen – vom Ogental aus. Es waren …“
„Das ist mir bekannt!“, unterbrach die Altwisin.
„Ja!“, nickte der Vater verstehend. „Werber kamen, um von jeder Familie den Tauglichsten zu fordern. Was soll man tun …!“, er atmete tief ein. „ich selbst habe in meiner Jugend schon gegen sie gekämpft! Sie müssen ja aufgehalten werden!“ Seine Lippen bewegten sich, als kaute er auf etwas herum … „Es war Tako, mein nun ältester, der mit ihnen ging. Er kehrte nicht zurück!“
„Mujie liebte ihren Bruder sehr, …“, bemerkte die Mutter mit gesenktem Kopf und erstickter Stimme, „… und gab ihm ein Amulett mit auf den Weg, das ihn schützen sollte …!“
„Seither ist sie nicht mehr sie selbst“, übernahm nun Halem Saii. „Wenn wir nicht auf dem Feld sind, verbringt sie die meiste Zeit im Gebetsraum, und spricht mit Gäa. Oft steht sie am Fenster, wie jetzt gerade, und stiert unentwegt zum Gespaltenen Berg hinüber. Nichts um sie herum scheint dann mehr zu gelten. Manches Mal schreit sie dann plötzlich wie ein weidwundes Tier und ist lange nicht zu beruhigen!“
„Sie sagt, sie wüsste nicht, was mit ihr geschieht in diesen Momenten!“, ergänzte die Mutter.
„Ich weiß nicht, ob es wahr ist …“, ließ sich nun wieder der Vater vernehmen. „Hier und in den umliegenden Dörfern erzählt man sich von vielen Unglücken in den Familien in den letzten Zeiten – und von verdorbenen Ernten. Man redet nicht offen darüber … aber es heißt, unsere Tochter …“
„Es sind nur einige, die so denken!“, wurde er fast barsch von Halem unterbrochen. „Mujie hat damit nichts zu tun! Sie ist gequält von Suäl Graal, wie alle unseres Volkes!“
Ein beklemmendes Schweigen folgte dem Ausruf Halems, und wurde erst von der Altwisin wieder aufgehoben. „Sie beherrscht Worte, die lange schon vergangen sind im Volk der Nin! Wisst ihr noch von anderen Fähigkeiten, die nicht gewöhnlich sind!“, fragte sie.
„Als Tako noch unter uns war, sah man sie mit großem Geschick mit dem Schwert umgehen!“, erinnerte sich Halem. „Doch man hat niemals gesehen, dass sie sich darin übte …!“
„Das ist wahr!“, bestätigte sofort der Vater. „Auch mit dem Bogen war sie schon sehr früh vertraut. Niemand konnte sich in dieser Kunst mit ihr messen!“
„Es war aber sicherlich auch kein gewöhnlicher Bogen!“, gab die Mutter zu bedenken. „Eine Magie war mit ihm verbunden!“
„Eine Magie?“, horchte die Altwisin auf.
„Es musste wohl so sein!“, bestätigte die Mutter.
„Die Tochter war gerade geboren …“, erklärte darauf der Vater nachdenklich, „… da erschien ein fremder im Dorf, dessen Namen niemand mehr erinnert – hochgewachsen und alt an Jahren. Er trug den Bogen bei sich. Wir boten ihm Unterschlupf in unserem Hause für die kurze Zeit seines Aufenthalts. Als er wieder aufbrach, legte er seinen Bogen auf das Kindbett, und sagte, dass nun sie ihn führen sollte, wenn sie herangewachsen war. Wir hielten es für eine Geste des Dankes, dass wir ihn bei uns aufgenommen hatten!“
„Und worin lag nun die Magie des Bogens?“, fragte die Altwisin nach.
„Kaum das Mujie die Kraft hatte, ihn ein wenig zu spannen …“, sprudelte die Mutter sogleich hervor, „… traf sein Pfeil das kleinste Ziel aus großer Entfernung. Niemanden sonst gewährte der Bogen diese Gunst außer der Tochter. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen …!“
„Zeigt mir den Bogen!“, bat die Altwisin.
„Wir haben ihn nicht mehr!“, schüttelte der Vater unwillig den Kopf.
„Nachdem eine Ahnung in uns aufkam, dass Suäl Graal ihr böses Spiel mit unserer Tochter trieb, konnte der Bogen nur ein Werk ihrer Allmacht sein!“, erregte sich die Mutter etwas. „Wir warfen ihn ins Feuer – aber er verbrannte nicht. Keine Flamme wollte an ihm zehren – selbst seine Sehne blieb ungeschwärzt! …“
„Ich trug ihn zuletzt zum höchsten Ort der Steilküste, und warf ihn hinab ins Meer, aus dem Suäl Graal einst entstiegen ist!“, übernahm Halem. „Wir gaben der Allmächtigen zurück was das ihre war!“, schloss er.
„Kannst du unserer Tochter helfen?“, fragte die Mutter nun mit ängstlichem Blick.
Die Altwisin senkte den Kopf und schien in sich hineinzuhorchen. Dann blickte sie wieder auf. „Nur Gäa und die Allmächtige wissen, was eure Tochter erleidet. Es müssen viele Zeiten in ihr aufgehoben sein, dass sie Worte in sich trägt, deren Klang längst vergangen ist! Mir scheint, eure Tochter ist ein Kishou – so bezeichnete man in den längst vergangenen Zeiten die ‚Suchenden’, wie sie im Volk der Nin so manchesmal wiedergeboren wurden. Der letzte, von dem mir berichtet wurde, lebte in Khokut – viele Tagesreisen von hier. Er soll allerdings bereits eine sehr hohe Stufe der Weisheit erlangt haben, so sprechen die, die von ihm wissen. Doch es ist schon sehr lange her, dass er unter uns war!“
Sie machte eine kleine Pause, und schien wiederum in sich hinein zu horchen. „Was geschehen ist, kann nicht mehr ungeschehen sein – was erfahren ist, nicht unerfahren!“, meinte sie endlich. „Möglich, dass Suäl Graal tatsächlich von ihr Besitz ergriffen hat – oder zumindest irgendeine Verbindung zwischen ihnen besteht. Es quält sie offenbar sehr!", bestätigte die Altwisin die Mutter weitgehend in ihren Befürchtungen. „Ich will ihr ein Elixier mischen, dass eine schwarze Decke darüber legen wird, was in ihr geschehen – und ein Zweites, dass sie vergessen macht, was in ihr als Erfahrung ruht. Das Erstere nimmt sie am Morgen jeden Tages zu zwei Löffeln, von dem Zweiten träufelt etwas am Abend auf ihre Ruhestatt. Es kann sie nicht heilen – wie der Suchende niemals auf immer aufgehalten werden kann. Doch wird es in der Zeit das Maß ihrer Empfindsamkeit herabsetzen!“
„Wonach sucht sie?“, wunderte sich Halem, doch für eine Antwort der Altwisin war keine Gelegenheit mehr. Der hölzerne Riegel der Tür klappte in diesem Moment nach oben, und der Zugang zum angrenzenden Raum öffnete sich langsam. Mujie Saii stand dort – zitternd und das Gesicht feucht von Schweiß und Tränen …
„Ich hab Angst!“, sagte sie leise.
Halem war aufgesprungen und barg sie fest in seine Arme …