Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 12

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Die kommenden Tage verbrachte Kishou zumeist im Garten. Stundenlang saß sie in gebührendem Abstand vor der Hecke und beobachtete sie, als würde sie erwarten, dass sie ihr das Geheimnis ihrer Kehrseite verraten würde.

In den vielen Geschichten, die ihr Trautel Melanchful erzählt hatte – beim Frühstück, beim gemeinsamen Essen, und vor allem vor dem Einschlafen, kamen immer wieder auch fremdartige Tiere vor – einfache und wunderliche Wesen, wie sie in ihrem Garten nie zu finden waren. Vielleicht gab es sie ja alle auf der anderen Seite? Vielleicht würde sie dort draußen gar dem Tikkelmann begegnen, der in den Geschichten von Trautel Melanchful immer wieder einmal auftauchte.

Der Tikkelmann war ein sehr neugieriges Zwergenwesen – allerdings von hochgewachsener und schlaksiger Gestalt. Und weil er so garnicht Zwergenhaft war, wurde er oft gehänselt und verlacht. So zog er es vor, sein Dorf zu verlassen, um durch die Wälder zu ziehen. Er nahm sich vor, alle Tiere zu zählen, die es in seiner Welt gab.

Immer, wenn er mal für eine Zeit keines fand, dachte er, dass er nun die Anzahl aller Tiere kennen würde – aber dann entdeckte er doch immer wieder noch Eins. Und obwohl er nun traurig war, dass er seine Aufgabe noch immer nicht erfüllt hatte, war er doch gleichzeitig wieder erleichtert. Denn was sollte er tun, wenn er die Zahl aller Tiere kennen würde?

Ein kleines Lächeln umspielte das gespannte Gesicht Kishous, denn ihr fiel ein, dass auch sie immer froh war, dass der Tikkelmann seine Aufgabe nicht erfüllen konnte – denn immerhin erlebte er auf seinen langen Wanderungen immer die lustigsten und spannendsten Abenteuer. Und wenn er nun tatsächlich alle Tiere gezählt hatte? ...

Vielleicht ... ging es Kishou durch den Kopf, ... ist es ja gar nicht die Aufgabe des Tikkelmanns, alle Tiere zu zählen. Vielleicht verbirgt sich seine eigentliche Aufgabe gar in den vielen Abenteuern – und vielleicht war er ja deshalb so anders als alle anderen Zwerge, damit er sich zur Aufgabe machen konnte alle Tiere zu zählen – damit er deshalb letztlich auf diese Weise all die Abenteuer erleben konnte. Also wenn er nicht meinen würde, dass es seine Aufgabe wäre, alle Tiere in seiner Welt zu zählen …

Es war nur ein kleiner Moment der Ablenkung – ein kleiner Ausflug in die unbeschwerten Geschichten Trautel Melanchfuls. Nein – den Tikkelmann würde sie dort draußen nicht finden. Dort wartete etwas anderes, und es erwartete sie – Kishou.

Etwas hatte sich in ihr verändert sein jener Nacht – wenngleich sie keinerlei Erinnerung an irgendetwas hatte, so war doch etwas in ihr erwacht, dass die Vertrautheit des Unausweichlichen in sich barg.

Still saß sie da im hohen Gras, und beobachtete die Verschwiegenheit der undurchdringlichen Hecke – die seltsamerweise immer so aussah, als wäre sie gerade frisch beschnitten worden. ...

So vergingen die Tage vor dem Aufbruch fast wortlos. Nur einmal fragte Kishou, was denn ein ,Nin’ wäre, mit dem Trautel Melanchful sie in jener Nacht bezeichnet hatte.

Aber die Alte lächelte nur geheimnisvoll. „Wenn die Zargen deines Schlüssels vollendet in dir entdeckt sind, und er seine Aufgabe erfüllt hat – dann wirst du dich erinnern.“

Sie gab es auf, weitere Fragen zu stellen. Sie fragte nicht einmal nach, was Zargen sind. Es gab zu viel des Neuen, Unbekannten – und zu wenig Zeit der inneren Vorbereitung.

Trautel Melanchful wusste, was in Kishou vor sich ging, und störte sie nicht, wenn sie nun immer wieder lange im Garten saß und zur fernen Hecke hinüberschaute. Immer wieder spürte Kishou, wie die Angst vor dem, was nun vor ihr lag, ihr den Hals zuschnürte, und gleichzeitig spürte sie in sich ein seltsames Gefühl der Befreiung – die Furcht, die sie ein Leben lang schon begleitete, hatte nun endlich einen Namen.

Fast begann sie schon Lust auf das große Abenteuer zu verspüren – aber dann kam eben tatsächlich der Tag des Aufbruchs.

KISHOU I

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