Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 7
~
ОглавлениеAls Mujie Saii am darauf folgenden Morgen schon sehr früh in Unruhe erwachte, war sie bereits allein. Die beiden Holzscheite, auf denen gewöhnlich das schwere Schwert des Bruders an der Wand ruhte, waren verwaist, und es fehlte etwas von ihren Vorräten. Halem war bereits unbemerkt aufgebrochen. Weit konnte er noch nicht sein, denn sein Bett hatte noch nicht ganz die Kälte seiner Umgebung angenommen.
Ohne erkennbare Erregung lief sie halb bekleidet in die kalte Morgendämmerung vor das Haus, tauchte ihren Schopf in das eisige Wasser der großen Regentonne, die gleich neben der Eingangstür stand, und warf kurz darauf mit ihrem dichten verfilzten Haar das Wasser gegen die spröde, hölzerne Wand, dass es nur so spritzte.
Sie ging zurück ins Haus, schnürte die Sandalen, warf sich ein Fell über den Leib, stopfte ihren Schulterbeutel mit Wegzehrung voll, schob die Schleuder tief in den Gürtel, mit der sie eine gute Treffsicherheit bewies, und verließ das Haus bereits wieder. Die Siedlung lag noch im tiefen Schlaf, als sie nun aufbrach.
Bereits in der folgenden Nacht hatte sie den Bruder eingeholt. Was Halem Saii der Schwester an Kraft voraus hatte, ersetzte sie durch Zähigkeit. Der Schein eines kleinen Feuers, das der Bruder entzündet hatte um sich in der eisigen Nacht vor der Kälte zu schützen, verrieten Mujie, dass er nur noch einen Steinwurf von ihr entfernt war. Er durfte sie nicht entdecken, also kauerte sie sich hinter ein dichtes Buschwerk, das sie auch einigermaßen vor den schneidenden Winden schützte, zog das Fell eng um ihren Körper, und schlief sofort ein.
Als sie erwachte, hatte es die Sonne noch nicht geschafft, die dichte Wolkendecke soweit zu durchdringen, dass ihr Licht das Land erhellte – so wie sie es sich vorgenommen hatte.
Hungrig stopfte sie in sich hinein, was sie gerade in ihrem Beutel zu fassen bekam, und machte sich bald eilig auf den Weg, um den Rastplatz des Bruders zu erkunden. Sie kam noch gerade rechtzeitig, um hinter einem Felsen verborgen, dessen Aufbruch zu erkennen. Sie musste sehr vorsichtig sein, denn es durfte nicht geschehen, dass er sie bemerkte.
Von nun an sollte sie ihn nicht mehr aus den Augen verlieren, und folgte ihm vorsichtig und in gebührendem Abstand auf dem beschwerlichen Weg, der in vielen Windungen und ermüdenden Steigungen zum Gipfel des Gespaltenen Berges führte.
Die Vegetation wurde nach und nach immer spärlicher und der nackte Fels war feucht und schlüpfrig. Aber es gelang ihr, dem Bruder über die drei Tage, die es brauchte, um auf den höchsten Punkt des Berges zu gelangen, zu folgen, ohne dass der einen Verdacht schöpfte.
So kam dann endlich der Augenblick, dass sich die Augen Halem Saiis über das Haupt des Berges erhoben. Es war das erste Mal in der langen Geschichte der Stammes, dass ein sterbliches Wesen diesen Ort sah. Zögerlich richtete er sich auf, nachdem er mit einer letzten Anstrengung den Aufstieg bewältigt hatte, und nun endlich den göttlichen Platz betrat.
Doch der Gipfel des Gespaltenen Berges bot nicht den Anblick, der in den Köpfen seines Stammes, weit unten am Fuße des Berges seinen festen Platz hatte. Ein schroffes Plateau war alles, was am Ende von seinem mächtigen Fuß blieb, und nicht sehr viele Schritte brauchte es, um zu der Stelle zu gelangen, die dem Berg seinen Namen gab. Eine fast gradlinige Kante beschrieb den Ort, wo der Berg abgerissen war. Steil wie der Fall eines Lots bot sich hier der Abgrund dar. Irgendwann erreichte er das Wasser, das sich in ewig wiederholenden Schlägen gegen den glatten Fels warf. Doch das immerwährende Grau der feuchtkalten Luft ließ es wohl niemals zu, dieses Schauspiel von dort oben mehr als nur erahnen zu können. Der Blick konnte nur den schweren Wolken folgen, bis sie sich bald im gleichförmigen Grau des Himmels verloren.
Mujie blieb ein wenig unterhalb des Plateaus hinter einem Felsvorsprung verborgen, gerade, dass sie den Bruder sehen konnte.
Halem Saii hatte sein Schwert aus dem Gürtel gezogen, und lief offenbar irritiert auf der gut überschaubaren Fläche, die der Berg an seiner höchsten Stelle belassen hatte, hin und her. Er war fassungslos – er konnte es nicht glauben. Alles was er fand, war schroffer Fels, Wind, und das abgründige Werk derjenigen, die er hier zu finden den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte. Es sollte eine Festung hier sein – eine Burg, oder was auch immer – und es sollte zumindest sie selbst hier sein – Suäl Graal!
Ungläubig wandte er sich nach allen Seiten. Für einen Moment erinnerte er sich der Worte Mujies, dass Suäl Graal nicht an diesem Ort zu finden wäre – aber das konnte nicht sein – das durfte nicht sein. ... Der Wind, der an seinem Körper zerrte, brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht, aber das ansteigende Rollen eines Donners lenkte seinen Blick nach oben, in die nahen schwarzen Wolken.
Ohnmächtig vor Zorn schrie er in sie hinein. Er rief nach Suäl Graal, streckte sein schweres Schwert hoch gegen den Himmel und forderte die Gottheit auf, sich nicht feige hinter den Wolken zu verbergen ...
Mujie Saii sah, wie unter dem Schlag eines heftigen Donners der gleißende Blitz herabfuhr, und den Himmel geradewegs mit dem Schwert Halem Saiis verband. Die Luft um ihn herum glühte blendend hell auf – als im selben Moment noch ein zweiter Blitz in die Spitze seines Schwertes schlug.
Ohne einen Laut von sich zu geben, brach Halem Saii in sich zusammen.
Die Lautlosigkeit des Todes Halem Saiis wurde ersetzt durch den gellenden Aufschrei der Schwester. Fast besinnungslos vor Schmerz sprang sie die letzten Schritte auf die Ebene, um sich über ihren Bruder zu werfen. Sie schrie und trommelte mit ihren Fäusten auf seiner Brust herum – aber es war kein Leben mehr in ihm.
Bald Ermattet und schluchzend lag sie eine lange Zeit auf seinem leblosen Körper, bis auch sie still wurde.
Es war noch einmal eine lange Zeit vergangen, als sie wieder ihren Kopf hob. Langsam richtete sie sich auf, und ebenso langsam schritt sie zum Rand des Abgrundes. Lange blickten ihre leeren Augen in die graue Welt hinein. Irgendwann zog ihre Hand die Schleuder aus dem Gürtel, um nach einem Moment des Verharrens mit ihr schlaff herab zu sinken. Vom Stöhnen der Winde übertönt, fiel sie lautlos neben ihren Füßen auf den Fels – und ohne auch nur einmal zu wanken, neigte sich ihr Körper langsam über seinen Schwerpunkt hinaus, und kippte still in den Abgrund.
Schon bald verschlang das Grau der feuchten, schweren Luft Mujie Saii. Und es war noch eine Zeit – die Letzte – bevor ihr Körper auf das harte Wasser aufschlug.