Читать книгу KISHOU I - Michael Kornas-Danisch - Страница 14

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Die groben Steine, die ursprünglich wohl einmal einen Weg durch das hohe Gras des Gartens bereitstellten, waren lange nicht mehr sichtbar. Nur die Füße spürten, dass hier wohl einmal fester Boden gewesen sein musste, und ertasteten sich den Weg durch das üppige Geflecht. Als dann bald schon die alles umspannende Hecke des Gartens zwischen Büschen und Bäumen in der Ferne auftauchte, war nicht mehr schwer zu erraten, wohin der unsichtbare Weg führte.

Wie eine unüberwindliche Mauer kündigte sie sich in ihrer dichten und klaren Gradlinigkeit an – das war wirklich erstaunlich, zumal weder Trautel Melanchful noch Kishou jemals das wachsende Ungefüge des Gartens versuchte aufzuhalten. Sie erfreuten sich vielmehr an der scheinbar planlosen Eroberung der Natur in ihrer kleinen Welt. Es gab immer wieder Neues zu entdecken, und nichts blieb, wie es war. Im Laufe der Zeit hatte allerdings die Üppigkeit sichtbar nachgelassen, weil der große Tümpel des Gartens immer weniger Wasser beherbergte.

Hinter dem Haus gab es einige Beete mit Gemüse, und sogar eine kleine Parzelle mit verschiedenen Getreidesorten war dort zu finden. Auch drei Ziegen waren da, um all das mussten sie sich natürlich kümmern – und das war schon aufwendig genug …

'Wirkliche Grenzen sind immer klar und eindeutig!', sagte Trautel Melanchful einst zu Kishou, als sie endlich lange genug in dieser Welt war, um ihrer Verwunderung über dieses und jenes innerhalb des Überschaubaren Ausdruck zu verleihen, '... und dies ist eine wirkliche Grenze!', hatte sie geschlossen.

Es gab zu jener Zeit noch tausenderlei andere Fragwürdigkeiten in der kleinen Gartenwelt, und so genügte diese Antwort für’s Erste. Vielleicht war es aber auch schon die tiefe innere Ahnung der Bedrohung, die Kishou damals nicht weiter fragen ließ. Bestimmte Erfahrungen sind nicht daran gebunden, wie lange man in einer Welt ist – jedenfalls hatte sie nie wieder nach dem wunderlichen Wachstum der Hecke gefragt.

Kishous Schritte verkürzten sich, je näher sie der Hecke kamen, doch ihre Anzahl bis zum Erreichen der Grenze sollten immer noch entschieden zu gering bleiben, wie sie befand. „Vielleicht ... ist das Tor ... ja schon wieder offen?“, ließ sie sich nun etwas zaghaft vernehmen, während ihre Füße konzentriert, aber nicht immer mit der benötigten Portion Glück damit beschäftigt waren, die groben Steine des Weges zu treffen.

„Nein!“, war nur das unmissverständliche Echo. Trautel Melanchful hatte weniger Probleme, den verlorenen Pfad einzuhalten. Entweder, sie hatte ihn noch gut in Erinnerung, oder aber es war ihre seltsame Wendigkeit und Behändigkeit, die in keinem Verhältnis zu ihrer Erscheinung stand; und die, nachdem sie in der letzten Zeit stetig abzumagern schien, seit der Nacht des Traums von Kishou sichtbar und ohne Zweifel wieder dramatisch zunahm.

Es war schon fast ein Balanceakt, sich auf der Spur der lockeren und zuweilen gar inzwischen übereinander liegenden Steine zu halten, ohne zu stolpern, oder sich auf schmerzhafte Weise die Füße anzustoßen. Kishou musste sich sehr konzentrieren, und es war schon erstaunlich, dass sie dabei immer noch reden konnte.

„... aber ... vielleicht ist der Ausgang ja auch schon ... zugewachsen, wie der Weg hier, dann kann ... ich gar nicht raus!“

„Dieser Durchlass wächst niemals zu!“, antwortete Trautel Melanchful.

„Hab’ ich auch nichts vergessen?“ Kishou war stehengeblieben und schickte sich schon an, ihr Bündel von der Schulter zu ziehen.

„Nein, du hast nichts vergessen!“ Trautel Melanchful schob sie sanft weiter.

„Und wenn ... sie nun ... zugewachsen ist?“, stolperte Kishou weiter.

„Sie ist nicht zugewachsen!“

„Na ja ... Wir könnten ja dann ... im Haus ... eine große Schere suchen ... Vielleicht ... haben wir ja so eine ... große Schere ...?“

„So eine Schere haben wir nicht!“

„Aber ... wie sollen wir dann die Hecke ... aufschneiden?“ Kishou blieb abermals stehen, und wandte sich mit überzeugender Besorgtheit zu Trautel Melanchful um.

„Wir brauchen die Hecke nicht aufzuschneiden!“, antwortete diese, und schob Kishou abermals sanft weiter.

„Aber ... wenn sie nun doch ... zugewachsen ist ...?“

„Sie ist nicht zugewachsen!“

„Bist ... Aua ... du sicher?“

„Ganz sicher!“

„Doofe Hecke.“

„Wie bitte?“

„Ich meine: ... komische Hecke, ... dass die nicht zuwächst.“

„Da schau, wir sind da!“ Sie hatten die natürliche Grenze erreicht, und Trautel Melanchful wies auf eine Stelle unweit vor ihnen. Deutlich war dort ein Durchbruch zu erkennen.

Der Anblick dieser unumstößlichen Tatsache bewog Kishous Herz, noch ein paar Extraschläge zuzulegen und ihre Einwendungen zu vergessen. So war sie die letzten Schritte, bis sie die Hecke endgültig erreichten, tatsächlich sprachlos.

Sie versuchte vorsichtig durch die Lücke zur anderen Seite hinüber zu schauen, aber das war nicht möglich, weil die Zweige und Blätter doch immerhin so dicht von jeder Seite des Durchlasses zur Anderen gewachsen waren, dass man nicht hindurchschauen konnte – zumindest schien es so.

Die unvermeidliche Zeit des Abschieds war gekommen. Die Alte nahm Kishou noch einmal in die Arme und sie schien sehr bewegt. Sogar eine kleine glitzernde Träne erschien in einem ihrer Augen.

„So, nun geh!“, sagte sie, und strich Kishou noch einmal über den dichten, schwarzen Haarschopf.

Kishou nickte nur stumm. Jede Faser ihres Körpers schien angespannt, und das Herz wollte sich nun fast überschlagen.

„Also bis dann ...!“, sagte sie abwesend.

Noch etwas zögerlich und vorsichtig, dann aber doch mit festem, gespanntem Schritt, bahnte sie sich ihren Weg durch das Gestrüpp, ... um mit einem spitzen Schrei plötzlich inne zu halten. Ihre Hände krallten sich zu Tode erschrocken in die dünnen Zweige ... Sie war am Ende des Durchschlupfes angelangt und sah nach draußen, und das ,Draußen’ war: NICHTS!

Verzweifelt suchten ihre Augen irgend einen Halt zu finden, ... aber es gab keinen. Dieses ,Draußen’ war grau ... Nein – nicht wirklich grau. Es hatte einen Stich ins Rötliche – aber sonst nichts.

Im ersten Moment erschien es vielleicht wie ein dichter Nebel, aber es war kein Nebel. Die Augen fanden nur einfach keinen Widerstand und fielen ins Unendliche ...?

Es war kein ,Oben’ – und es war kein ,Unten’. Der Boden zu ihren Füßen hörte einfach nur auf zu existieren – und wurde durch nichts ersetzt. Da wo die Hecke aufhörte, hörte alles auf: Oben, Unten, Links, Rechts, Ferne, Nähe ... einfach alles!?

Kishou wagte nicht zu atmen. Starr vor Schreck grub sich ihr Blick in das, was garnicht da war ... Die Hände der Kleinen krallten sich fest in das Gestrüpp, die Ohren begannen zu sausen und die Beine wurden zu schmelzenden Bleiklumpen.

„Trautel ... Trautel Melanchful ...!“, quetschte sie endlich aus ihrem zugeschnürten Hals hervor. „Trautel ...“ Sie wagte kaum, die Lippen zu bewegen, aus Furcht, vielleicht von dem Nichts bemerkt zu werden.

„Ja?“, – vernahm sie die vertraute, warme Stimme der Alten. „Geh nur weiter!“

Ein klein wenig war Kishou erleichtert. Wenigstens hinter ihr schien alles beim Alten geblieben zu sein. „Aber ... aber wohin? Ich ... ich ... ich kann nichts erkennen! Da is‘ nix!“

Das kleine Lachen, das sie als erstes von Trautel Melanchful vernahm, war zwar höchst unpassend, wie sie befand, aber es hatte doch auch etwas ungemein Beruhigendes.

„Dummerchen, wie willst du etwas erkennen von dem, was dir unbekannt ist, bevor du in dieses Unbekannte hineingegangen bist?“

„Aber ... aber ...“, Kishou wusste mit den Worten Trautel Melanchfuls nichts Rechtes anzufangen ...

„Eine Grenze muss immer erst überschritten sein, wenn du erkennen willst!“

Die Worte der Alten klangen durchaus so, als wüsste sie sehr genau, was das Problem war – und natürlich gab es für Kishou keinen Anlass, ihnen zu misstrauen. Trautel Melanchful wusste immer alles. Noch niemals hatte sie sich geirrt. Aber vielleicht ... es könnte ja sein ... dass sie sich ja doch einmal irrte! Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Vor ihr das Unbegreifliche, und hinter ihr die vertraute Sicherheit, deren Untergang längst beschlossen war.

Einige Augenblicke noch stand sie verzweifelt an das Gestrüpp der Hecke geklammert, dann aber hangelte sie sich langsam, immer wieder in das Geäst nachfassend, hinein in das Unbegreifliche. Und während sie sich an den Zweigen der Hecke festhielt, schob sie nun vorsichtig ihren linken Fuß in dieses ,Nichts‘ hinein – jederzeit bereit, ihn sofort wieder zurückzuziehen.

Aber der Fuß rutschte seltsamerweise nicht ab!? Es war zwar nichts zu erkennen, was ihm Halt gab, aber er fand irgendwie einen ...

Langsam und immer noch vorsichtig schob sie ihn weiter hinaus – soweit, wie es möglich war, ohne die Hände von der Hecke lösen zu müssen. Aber der Halt unter ihrem Fuß gab nicht nach. Kishou atmete tief durch. Sie entließ ganz langsam etwas ihre Finger aus der krampfartigen Umklammerung – freilich, ohne dabei den sicheren Halt aufzugeben. ... und noch immer geschah nichts.

Nun stand sie schon ganz aufrecht – mit einem Bein noch im Sichtbaren, mit dem Anderen bereits auf dem, was eigentlich gar nicht da war.

Vorsichtig verlagerte sie nun das Gewicht ihres Körpers von dem rechten Bein auf das Linke – und der unsichtbare Halt gab noch immer nicht nach ... Ihr Herz schien fast zerspringen zu wollen. „Trautel Melanchful! – Bist du noch da?“, fragte sie noch einmal in die gespannte Stille, um sich zu vergewissern, dass wenigstens ansonsten noch alles in Ordnung war.

„Natürlich! Ich bin immer bei dir, auch wenn du mich nicht hören oder sehen kannst!“

Die vertraute Stimme von Trautel Melanchful erreichte sie noch – das war beruhigend. Wie auf einem Hochseil balancierend, hob sie nun langsam auch das rechte Bein aus der Sicherheit des Bekannten in die Unsicherheit des Unbekannten hinüber. Ihre Hände lockerten dabei vorsichtig ihren Halt in dem Geäst, das sich bereits ein Stück weit aus der Hecke herausbog. Die störrischen Zweige nahmen die Gelegenheit wahr, um sich aus ihren Händen zu befreien und blitzartig unter einem schnalzartigen Laut in das dichte Blattwerk der Hecke zurück zu schnellen ...

KISHOU I

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