Читать книгу Die Charismatische Bewegung 2 - Michael Kotsch - Страница 13
1.5. Charismatische Leitungsstruktur und geistlicher Missbrauch 1.5.1. Geistlicher Missbrauch
ОглавлениеGeistlicher Missbrauch ist gewöhnlich der Missbrauch eines Amtes für vorgeblich geistliche Ziele oder für einen eigenen Vorteil. Ken Blue präzisiert: „Geistlicher Missbrauch liegt dann vor, wenn eine Leiterpersönlichkeit, die geistliche Autorität über einen hat, diese Autorität benutzt, um Druck oder Zwang auszuüben, und damit dem ihm Untergebenen geistliche Wunden zuführt. … Menschen, die ihr geistliches Amt missbrauchen … sind für gewöhnlich derart narzisstisch oder darauf fixiert, etwas Großes für Gott tun zu wollen, dass sie es nicht einmal merken, wie weh sie ihren Opfern tun.“71 Menschen sollen dazu gebracht werden, alle Aussagen und Verhaltensweisen ihrer Leiter fraglos zu akzeptieren, ebenso deren Autorität über das eigene Leben. Sicherlich gibt es diesen Amtsmissbrauch in jeder religiösen Vereinigung. Allerdings tendieren charismatische Leiter besonders leicht dazu, ihre Nachfolger zu manipulieren, weil ihnen in ihrem Umfeld eine außergewöhnlich gewichtige Stellung eingeräumt wird und weil sie sich in ganz besonderer Nähe zu Gott wähnen. Immer wieder deklarieren charismatische Leiter ihre eigenen Aussagen als göttliche Mitteilungen und machen den Segen Gottes vom Gehorsam ihrer Anhänger abhängig. Eine besondere Gefahr liegt in diesem Zusammenhang beim sogenannten Discipleship / Shepherding Movement (Jüngerschafts- und Hirtenbewegung). In durchaus positiver Motivation wird hier die strikte Unterordnung des Christen unter seinen geistlichen Leiter gefordert, der ihm detaillierte Vorgaben für jeden seiner Lebensbereiche macht. Die Gefahr, dass in einem solchen System keine Abhängigkeit gegenüber Gott sondern gegenüber dem geistlichen Führer entsteht ist groß. Der Geführte kann immer weniger erkennen, welche der Forderungen wirklich von Gott und welche lediglich von dem geistlichen Leiter stammen.
Das System unhinterfragbarer Unterordnung wird unterstützt durch die Ablehnung intellektueller Fragen und jeder Kritik. Rückfragen an leitende Personen oder deren Lehre wird als ungeistlich oder gar dämonisch betrachtet. Somit muss der Fehler bei dem Gemeindeglied liegen, das Bedenken äußert. Wer in der Gruppe verbleiben will, muss den Forderungen der Leiter entsprechend verändern. Letztlich mündet dieses System in einer Abhängigkeit gegenüber den menschlichen Repräsentanten Gottes.
Johnson und VanVonderen nennen verschiedene Faktoren, die Geistlichen Missbrauch begünstigen:
1. „Das erste Merkmal eines religiösen Systems, das geistlichen Missbrauch betreibt, ist die sogenannte Machtstellung. Die Leiter verwenden eine Menge Zeit darauf, ihre eigene Autorität zu festigen und diese andere spüren zu lassen.“72 „In Systemen, in denen geistlicher Missbrauch betrieben wird, wird Macht gefördert und Autorität ist genau festgelegt. Darum beschäftigen sich diese Systeme mit dem Verhalten ihrer Mitglieder. Gehorsam und Unterwürfigkeit sind zwei wichtige, häufig verwendete Wörter.“73 Verhält sich ein Gemeindeglied nicht wie der Leiter bzw. die Gruppennorm es vorsieht, wird schnell davon gesprochen, dass Gott seinen Geist zurückgezogen hat, dass bestimmte geistliche Segnungen nicht fließen können, weil Hingabe oder Glaube fehlen oder, dass die Betroffenen in der Gefahr stehen, aus der Gnade zu fallen.
2. Unausgesprochene Regeln werden als bekannt und selbstverständlich vorausgesetzt. Aus diesem Grund müssen sie weder begründet noch verteidigt werden. Wer ihnen nicht entspricht wird von der Gruppe und von seinem eigenen Inneren gedrängt, sich zum Wohl der Gemeinschaft wieder einzuordnen.
3. Wer in charismatischen Gemeinden an anerkannten Leitern oder an allgemeinverbindlichen Überzeugungen zweifelt (z.B. „Ist diese Prophetie von Gott?“, „Ist die Person wirklich von einem Dämon besessen?“; „Will Gott, dass der Prophet in Luxus lebt?“, „Warum bin ich nicht gesund?“) wird häufig isoliert, unter Druck gesetzt oder in seiner Geistlichkeit in Frage gestellt.
4. „Das vierte Merkmal eines Systems, das geistlichen Missbrauch begeht, ist ein unausgewogener Ansatz, die Wahrheit des christlichen Lebens in die Praxis des Alltags umzusetzen. … Wahrheit definiert sich nur auf der Basis von Gefühlen und Erfahrungen; ihnen wird mehr Gewicht beigemessen als dem, was die Bibel lehrt. In einem solchen System können die Leute Wahrheiten erst erkennen oder verstehen … wenn der Leiter sie durch eine geistliche Offenbarung vom Herrn erhält und sie dann an die Menschen weitergibt. In solchen Systemen ist es wichtiger, dem Wort des Leiters entsprechend zu handeln, der ein Wort für Sie hat, als nach dem zu handeln, was Sie aus der Bibel oder im Laufe Ihres Lebens als Christ erkannt haben.“74
5. Personen, die geistlichen Missbrauch betreiben dringen zumeist darauf, Probleme nicht außerhalb der eigenen Gruppe zu debattieren. Da die böse Außenwelt die Regeln und Verhaltensweisen der Gemeinde weder akzeptiere noch verstehe, könnte sie auch nicht beurteilen, ob tatsächlich Fehler gemacht worden seien. Gelegentlich werden die abweichenden Vorstellungen Außenstehender sogar als Strategie des Teufels bezeichnet, der die Wahrheit des Leiters bekämpfen wolle. Mit diesem Vorgehen versuchen Leiter die berechtigten Bedenken ihrer Mitglieder zu zerstreuen. Alle Aussagen, die konträr zum Verhalten des geistlichen Missbrauch ausübenden Menschen stehen, werden durch Unwissenheit oder dämonischen Einfluss erklärt. Da der Anhänger der Gruppe weder unwissend noch dämonisiert sein will, ist er eher bereit, den Aussagen der leitenden Person zu vertrauen.75 Beispiel: Eine Person leidet fortgesetzt unter starken Kopfschmerzen. Der Pastor führt sie auf dämonische Ursprünge zurück. Beginnt der Betroffene an dieser Diagnose zu zweifeln, wird seine Unsicherheit auf mangelnde Einsicht in das eigene Glaubenssystem oder auf okkulte Ursachen zurückgeführt.
6. Ein weiteres Merkmal für ein System, das geistlichen Missbrauch begeht, ist die Förderung, ja sogar Forderung falscher Loyalitätsgefühle, die sich nicht auf Gott, sondern auf die eigene Organisation bzw. auf deren Leiter beziehen. „Dies wird häufig durch den Aufbau eines Systems erreicht, in dem mangelnde Loyalität oder Uneinsichtigkeit mit dem Führenden gleichgesetzt wird mit Ungehorsam Gott gegenüber. Einen Leiter in Frage zu stellen ist, als würde man Gott in Frage stellen.“76 Wahrheiten, die von außerhalb der Gruppe stammen werden ignoriert oder lächerlich gemacht. Dadurch will der Leitende eine ernsthafte Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen verhindern, die das eigene System gefährden könnten.
7. Reicht diese Art der Disziplinierung nicht aus, kann das Mitglied öffentlich gedemütigt werden um ein der Gruppe angepasstes Verhalten zu erreichen. Der Druck Gleichgesinnter soll den Wiederstand des Betreffenden brechen. Oftmals wird Kritik an Leitenden auch als Problem des Kritisierenden umgedeutet. Der Arme habe etwas nicht ganz verstanden oder handle lediglich aus eigensüchtigen bzw. ungeistlichen Gründen. Gelegentlich wird dann sogar damit gedroht, dass Gott den Kritiker strafen werde, wenn dieser seine Vorwürfe nicht unverzüglich zurücknähme.77
8. „In einem System, das geistlichen Missbrauch betreibt, sind die Menschen der Meinung, dass sie auf sich allein gestellt kaum oder gar nicht in der Lage sind, Gottes Wort zu verstehen. … die Bibel ist für sie … ein Buch, das uns Techniken an die Hand gibt, wie wir uns richtig verhalten sollen, damit Gott uns segnen kann.“78 Zu diesem Zweck wird die in christlichen Kreisen hoch geschätzte Bibel häufig zitiert, ohne allerdings die eigene Prüfung der Zuhörer anzuregen, da diese vorgeblich über zu wenig theologisches Wissen oder zu wenig Geistesfülle verfügen. Der ursprüngliche, historische Zusammenhang der Bibelstelle wird dabei zumeist ignoriert, um diese besser in das eigene Denksystem einzubauen. Manchmal begründen Leitende ihre Ansicht auch einfach mit einer göttlichen Offenbarung, der fraglos zu glauben sei.
9. Leiter, die geistlichen Missbrauch betreiben berufen sich gerne auf ihre vorgeblich von Gott erhaltene Stellung als Pastor, Prophet oder Apostel. In dieser Stellung meinen sie den Beurteilungsmaßstäben normaler Menschen entzogen zu sein. Weder lässt sich ihr Verhalten an dem anderer Personen vergleichen, noch könnten ihre Aussagen von irgendeiner irdischen Instanz in Frage gestellt werden.79
10. Leiter, die geistlichen Missbrauch betreiben heben zumeist ihre eigene Stellung überproportional hervor. Sie stellen ihre Titel und ihre Leistungen besonders heraus. Sie werben auffällig damit, wie viele Menschen sie bekehrt, geheilt, befreit haben, in welch innigem Kontakt sie zu Gott stehen, wie Erfolgreich sie sind usw. Dadurch soll ihre Autorität gestärkt werden, sodass inhaltliche Ungereimtheiten weniger auffallen. Sie bauen darauf, dass niemand die Ausführungen eines Professors, Propheten oder Apostels in Frage stellt. Um das eigene Image zu heben wird das eigene Auftreten zumeist durch Kleidung, Musik, Ankündigungen speziell arrangiert und inszeniert.80
11. In einem System, das geistlichen Missbrauch betreibt, wird Menschen für ihre Anpassung und ihren Gehorsam eine außergewöhnliche Belohnung versprochen. Wer fraglos denkt und lebt wie der Leitende es fordert, wird besondere Erfahrungen mit Gott machen, er wird immer gesund und wohlhaben sein, Wunder und die persönliche Begegnung mit Gott gehören zu seinem Alltag. Das Nichterleben dieser Verheißungen wird zumeist mit mangelnder Ernsthaftigkeit oder mangelnder Überzeugung erklärt. Eine noch stärkere Befolgung der Anweisungen des Leiters würde zu einem sicheren Erfolg führen.