Читать книгу Die Charismatische Bewegung 2 - Michael Kotsch - Страница 5
1. Charismatische Frömmigkeit 1.1. Charismatische Gottesdienste
ОглавлениеOrte charismatischer Frömmigkeit sind Gebetskreise, Seminare, Kongresse und vor allem Lobpreisgottesdienste. Charismatische Gebetstreffen bieten dem einfachen Gemeindemitglied durch Singen, Beten, Erfahrungsberichte und gegenseitige Seelsorge Erfahrungen mit dem Heiligen Geist zu machen. Auch spektakuläre Geistesgaben (Zungenrede, Prophetie …) sollen in diesem Rahmen eingeübt werden. In charismatischen Seminaren soll nicht so sehr theoretisches Wissen, sondern eher praktische Erfahrungen mit dem Heiligen Geist vermittelt werden. Solche Seminare bieten einen hohen Erlebniswert und fordern nur eine geringe Verbindlichkeit. Häufig werden konkrete Hilfen und pragmatische Methoden vermittelt, um zusätzliche Erfüllungen mit dem Heiligen Geist zu erfahren oder einzelne Gaben einzuüben. Durch überregionale Kongresse wird die theologische und spirituelle Ausrichtung der Bewegung maßgeblich geprägt. Sie sind offene Angebote, ohne tiefere Verpflichtung, durch die öffentlich demonstrierten Geistesgaben haben sie einen hohen Erlebniswert und bieten durch das inszenierte Massenerlebnis eine gute Grundlage zur Identifikation und Selbstbestätigung. In einer überwiegend anonymen Atmosphäre geben sich die Teilnehmer eher ekstatischen und enthusiastischen Gefühlen hin. Charismatische Großkongresse tragen Züge einer Wallfahrt: Von geisterfüllten Rednern erwartet man die Vermittlung einer besonderen Gottesnähe und außergewöhnliche Manifestationen des Heiligen Geistes. Neue Trends und religiöse Ausdrucksformen (Verhaltensweisen, Ausdrücke usw.) werden verstärkt durch Kongresse in die lokalen charismatischen Gruppen vermittelt.1 Die verhältnismäßig junge und stark erlebnisorientierte Charismatische Bewegung bietet vorwiegend Gottesdienste in Alltagssprache, mit einem dynamischen, abwechslungsreich präsentierten Programm und ausgedehntem Musikteil nach jugendlichem Geschmack. Große Bedeutung nimmt in diesen Veranstaltungen das Lob Gottes ein, als Lied, als Chorus, als Sprachengebet oder –gesang, als gesprochener Lobpreis oder als freies Gebet, auch als persönliches Glaubenszeugnis. Konkret soll das Wirken Gottes in der Praktizierung spektakulärer Charismen (Glossolalie, Prophetie, Heilung) erfahren werden. Weder die Predigt noch die Eucharistie (Abendmahl) oder Diakonie stehen im Mittelpunkt des Gottesdienstes, sondern das Wirken des Geistes und das Erleben der Kraft Gottes. Obwohl charismatische Gottesdienste von Lobpreisteams und dominanten Leitern bestimmt werden, haben sie durch die Betonung des gemeinsamen Lobpreises und der Integration gemeindlicher Geistesgaben einen stark demokratischen Zug (allgemeines Priestertum). Wenn auch in der Praxis zumeist nur die Träger spektakulärer Charismen mit der Fähigkeit einer gewissen Selbstinszenierung öffentlich zu Wort kommen. Voraussetzung für die Weitergabe persönlichster geistlicher Erfahrungen und Sehnsüchte, sowie dem körperlichen Ausdruck eigener Gefühle in der Anbetungszeit ist eine gegenseitige Akzeptanz und gegenseitiges Vertrauen. Wobei sich auch in charismatischen Gottesdiensten Stil und Formulierungen der Beiträge standardisieren, und zu neuen spezifisch charismatischen Traditionen führen (tanzen, hüpfen, Hände erheben, Fähnchen schwenken, Zwischenrufe: „Halleluja“, „Gelobt sei Gott“, „Amen“ usw.). Der charismatische Gottesdienst könnte als religiöses Fest bezeichnet werden, in das sich der Besucher mit Leib, Seele und Geist einbringt. Er wird als Ort der Gegenwart Gottes begriffen, als Gegenpol einer materiellen, verstandesmäßig geprägten Realität. Er dient der emotionalen Selbstvergewisserung, der Stillung religiöser Sehnsüchte, dem Ausdruck der im Alltag unterdrückten Gefühle und der geistlichen Aufladung für die Bewältigung der Belastungen des Lebens.2 Katholische Frömmigkeit sieht insbesondere in den Sakramenten (Taufe, Abendmahl, Beichte …) das Wirken Gottes am Gläubigen. Durch die Sakramente wiederum wird der Christ von Gott zu einem frommen Leben befähigt. Reformatorische Theologie sieht das Wirken Gottes vor allem in der Vermittlung des Wortes Gottes. Hier teilt sich Gott dem Christen mit, gibt ihm Anteil an sich selbst und befähigt ihn biblisch zu leben. Zentrum des Glaubens sind die Vergebung der Schuld und die Erkenntnis eines gnädigen Gottes. Charismatische Christen wollen den Heiligen Geist durch Lobpreis Gottes und das gemeinsame Praktizieren der Gnadengaben erfahren. Für den traditionellen Pfingstler ist die mit Zungenreden verbundene Geistestaufe dominierender Zielpunkt des Glaubens. Diese Erfahrung wird selbstvergewissernd im Gottesdienst wiederholt. Die Gegenwart Gottes muss nicht so sehr durch Sakramente oder Bibelbetrachtung erfahren werden, weil das spektakuläre Wirken des Geistes die Zuwendung Gottes eindrücklich zu bestätigen scheint. Auch in der späteren Charismatischen Bewegung treten Bibel, Sakrament und Heiligung hinter das spektakuläre Handeln des Geistes zurück. Grundlage charismatischer Gottesdienste und privater Frömmigkeit sind eigene oder in der Gemeinschaft vermittelte Erfahrungen der Geisteswirkung. Biblische Heilsereignisse, logische Überlegungen oder dogmatische Glaubensinhalte treten in ihrer Bedeutung für den charismatischen Christen hinter der subjektiven Geisteserfahrung zurück.3 Wird die Gewissheit und Faktizität des Glaubens aber vor allem an eigenen, vorzugsweise emotionalen Erfahrungen festgemacht, besteht die Gefahr, bei Ausbleiben dieser Erfahrungen oder gegenläufigen negativen Erfahrungen in eine Glaubenskrise zu geraten. Das Lob Gottes, Charismen und Zeugnisse als Garanten des Geisteswirkens stehen in unmittelbarer Abhängigkeit zu den charismatischen Begabungen einzelner. Zurecht betonten die Reformatoren demgegenüber die Unabhängigkeit des Geistes von der Befähigung oder Würdigkeit des menschlichen Vermittlers oder eigener Erfahrungen. Gottes Realität und Wahrhaftigkeit sind losgelöst von menschlichen Erfahrungen und Gefühlen. Glaubensgrundlage sind hier erfahrungsunabhängige Selbstaussagen Gottes in seinem Wort. Darüber hinaus stellt die Bibel für Christen die wichtigste Inspirationsquelle und Korrekturmöglichkeit für alle spontanen Wirkungen des Geistes dar. Damit das außergewöhnliche Wirken des Geistes nicht der Routine, der Manipulation oder der unbewussten Irreführung verfällt, muss es immer wieder am Wort Gottes, als überzeitlicher Konstante, ausgerichtet werden. Die überproportionale Betonung der Geisteswirkungen führt in der Charismatischen Bewegung immer wieder zur Uminterpretation des Heiligen Geistes als frei verfügbarer spiritual power. Kongresse und Seminare vermitteln den Eindruck, dass der einzelne die Charismen für sich beanspruchen und ausüben kann. Der Geist wird primär als übernatürliche Wirkkraft gesehen. Der Glaube mutiert dann zur Fähigkeit, diese Kraft hervorzubringen. Damit rückt anstelle des, in seinem Geist handelnden Gottes, der geistbegabte Mensch ins Zentrum des Interesses.4 Lob und Anbetung dienen hier weniger der Ausrichtung auf den himmlischen Vater, sondern werden zur Methode oder zum Weg, der Erzeugung spektakulärer Geisteserfahrungen. Erst wird in entsprechenden charismatischen Veranstaltungen der Geist herbeigerufen, dann wird der Raum gegeben, dass sich der Geist in sichtbaren Phänomenen manifestieren kann. An dieser Stelle tritt eine grundlegende biblische Wahrheit in den Hintergrund: Der Heilige Geist ist eine Gabe Gottes und damit für den Menschen unverfügbar. Die Nähe des Geistes erzeugen zu wollen oder ihn für das eigene religiöse Empfinden zu manipulieren widerspricht seiner Funktion als Korrektiv und als Erinnerer an ewige Wahrheiten Gottes.5
Merkmale charismatischer Frömmigkeit im Gottesdienst
1. Gott - der Heilige Geist - wird spürbar, vernehmbar, anschaulich.
2. Statt verstandesmäßiger Vermittlung des Glaubens sollen die Besucher unmittelbar, emotional von Gott angesprochen werden.
3. Das Handeln Gottes soll spektakulär nach innen und außen hin vorgeführt werden.
4. Eine gemeinsame Erfahrung - Geistestaufe, Geistes Erneuerung - verbindet die Gottesdienstbesucher.
5. Die Gemeinschaft bildet den Rahmen für den Empfang und die Anwendung der Gaben.
6. Die erlebte Nähe Gottes bewirkt Lob und Anbetung.
7. Nicht die Bibel oder ein Glaubenssatz stehen im Mittelpunkt, sondern ein persönliches Erlebnis.
8. Jeder beteiligt sich aktiv am Gottesdienst.
9. Gefühle und Körpersprache sollen einbezogen werden: Singen, Klatschen, Beten, Zwischenrufe, Tanz usw.
10. Wichtig sind sichtbare Zeichen des Heiligen Geistes: Geistestaufe, Zungenreden, Prophetie, Befreiung von Besessenheit, Heilung, Visionen usw.
11. Der Empfang des Heiligen Geistes macht sich durch äußere Zeichen bemerkbar: Singen im Geist, Zungenrede, Fallen im Geist, heiliges Lachen usw.
Beispiel: Unter dem Titel Tschiises, mach uns heiss! schrieb des Journalist Michael Meier für die NZZ einen lesenswerten Artikel über die charismatische Szene in der Schweiz:
„Man erkennt sie an ihren Gottesdiensten. Bis die Predigt beginnt, warten sie eine Stunde, nein, sie singen und frohlocken. Junge Erwachsene, viele mit ihren Kindern, preisen, die Arme weit offen und hüfteschwingend, den Herrn. Lobpreisleiter Bene Müller und seine Band reißen mit rockigem Sound die Mühseligen und Beladenen mit … Kein Sonntagabendgottesdienst … ohne Worshiping, ohne Anbetungszeit. Dann erst kommt Prediger Martin Bühlmann. Gut gelaunt und wortreich referiert der Gründer der Basileia über „The Power of Giving“. Seine Predigt … komprimiert er zu Slogans, die auf der Leinwand aufscheinen: „Mit Geben setzt man Fakten der Großzügigkeit.“ … „Tschiises“, betet die Gemeinde, „you are powerful.“ Ohne Basics der englischen Sprache ist man in der evangelikal-charismatischen Subkultur verloren. Die nämlich ist ganz an Amerika orientiert. … Mit Schüttelparties, an denen bis zu 2500 Erweckte in Trance fielen. „Dutzende lagen am Boden, viele zitterten, weinten, lachten, waren betrunken im Geist, schüttelten sich oder schrien“, so beschrieb Bühlmann das Wirken des Toronto-Segens, den er 1994 von Kanada auf den Kontinent geholt hatte. Seit sich aber Wimber von den geistlichen Exzessen distanzierte, ist es auch in Bern ruhiger geworden. … [heute] meint Bühlmann abgeklärt: „Nicht immer ist Hochsommer. Auch der Glaube hat Jahreszeiten, man kann ihn nicht permanent euphorisch leben.“ … Am unbändigsten gebärdet sich die evangelikale Jugendbewegung International Christian Fellowship, ICF genannt. Ihr Leiter Leo Bigger, der jeden Sonntag in der alten Börse gleich vier Rock-Gottesdienste für total 2000 Gläubige hält, will jetzt eine Mehrzweckhalle bauen. … Heilungsfähigkeit gilt in der Szene als Gabe des Heiligen Geistes. Heilungserlebnisse und die Praxis des Handauflegens gehören in Geri Kellers Schleife zu jedem Gottesdienst. Für den Spross einer Heilsarmee-Familie sind solche Spontanheilungen Zeichen der Endzeit. … John Wimber etwa, vor seinem frühen Tod während Jahren herz- und krebskrank, rückte im sogenannten Power Healing den krankmachenden Dämonen auch mit exorzistischen Gebeten zu Leibe. … [charismatische] Volksfrömmigkeit besteht demgegenüber auf einem erfahrbaren und unmittelbaren Gott. Gegen die gefühlskalt verkopfte Lehre der Landeskirchler appelliert sie an das Gemüt und garantiert religiöse Live-Erlebnisse kraft Ekstase, Trance und Ergriffenheit. Das Medium solcher Gottesbegegnung im Kollektiv ist laut Bandleaderin Lilo Keller die Musik. … Im ICF-Gottesdienst von Leo Bigger kommt der Anbetungsteil auf mindestens so viel Dezibel wie eine Party im Zürcher Trendlokal Kaufleuten. Auch der Gottesdienst im Zentrum Buchegg nimmt sich mit seiner Band wie ein Popkonzert aus. Pfarrer Kniesel weiß allerdings, dass es nicht die heißen Rhythmen sind, die den Gläubigen in die Glieder fahren, es ist der Heilige Geist. Damit sich die Geisttrunkenen «frei vor Gott bewegen» lernen, stellt ihnen die Erweckungsindustrie Anbetungsutensilien bereit: bunte Bänder und Tücher, Schellen-Tamburins oder Handtrommeln. … “Are you ready to jump for Jesus?“, schreit der 18-jährige Dany. Da erklimmt Papa Beddingfield die Bühne und erklärt, Stagediving sei sein Lieblingssport. Und schon wirft er seinen jüngsten Spross und dann sich selber in die Menge der johlenden Kids. Jeder darf es ihm gleichtun und sich vertrauensvoll von der Bühne stürzen. Auf Danys Geheiß stemmt jeweils eine Gruppe von zehn Jugendlichen eine Kameradin horizontal in die Höhe. … Kein zweckfreies Gaudi, nein, die Teenies sollen den Sprung in den Glauben sinnenfällig erleben. … [charismatische] Fun- und Erlebnisreligion lebt von Events, Spektakeln und Großkonferenzen. … Die Kehrseite ihrer Erlebnisreligion ist ihre dürftige Theologie, die fehlende Nachdenklichkeit. … [sie] blendet gesellschaftspolitische Themen aus, sie sind ihm zu abstrakt. … Sich auf das Priestertum aller Gläubigen berufend, sind die evangelikalen Leader oft keine Theologen. Dafür umso gewieftere Entertainer. Wenn der stämmige Offsetdrucker Leo Bigger in der alten Börse ächzend und stöhnend seine kreißende Frau nachahmt und per Videoclip den neugeborenen Sohn präsentiert, geht es mehr um Selbstinszenierung als um Verkündigung. … Der geläuterte Basileia-Chef [Martin Bühlmann] versteht sich als Narr in Christo, der im Weinberg des Herrn experimentiert und dafür Kritik einsteckt. Auch er weiß, dass die jungen und wenig strukturierten Bewegungen ohne charismatische Leitfiguren nicht lebensfähig wären. Ob dann die erwecklichen Aufbrüche ihre Gründer überleben, ist eine andere Frage.”6