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Wundersame Tauben

Stuttgart, Februar 1848

Den Tag über hatte es in Stuttgart geregnet. Das Pflaster glänzte feucht. Eleonore trat auf die Straße, schloss die Haustür und ging los, ohne sich umzusehen. Sie hatte von Engels Burschen schon vom Fenster aus entdeckt. Seine Nase lugte ab und zu hinter dem Brennholzstapel hervor.

Vor zwei Wochen war ihr aufgefallen, dass er sie verfolgte. Anfangs hatte sie noch gedacht, der Junge schwärme für sie. Doch dann hatte sie den Spieß umgedreht, war ihm gefolgt und hatte gesehen, wie er schnurstracks zu von Engel gelaufen war. Sie konnte nicht sagen, wie lange das bereits ging. Was dachte sich August von Engel? Wozu ließ er sie bespitzeln? Hatte er Angst, dass es einen Nebenbuhler gab?

Der Bursche würde ihr wieder folgen, das war ihr klar. Eleonore trug ein schlichtes Kleid, passend zu der doch eher ärmlichen Gegend, in die sie wollte. In den Händen hielt sie einen Weidenkorb. Ein Tuch verbarg den Inhalt. Heinrich Vogt würde Augen machen.

Der Weg zu ihm führte durch die halbe Stadt. Sie ging den Hang hinunter und erreichte nach einigen Minuten den Bahnhof. Dicker Rauch stieg hinter den Mauern hoch. Eleonore hörte ein lautes Zischen, als triebe hinter der hohen Fassade ein feuerspeiender Drache sein Unwesen. Erst gestern war sie mit ihrem Vater von Plochingen her mit dem Zug gekommen. Wie schnell waren die Städte, Dörfer vorbeigeflogen und wie sanft waren sie dahingeglitten. Welcher Tortur waren sie dagegen in den schaukelnden Kutschen ausgesetzt gewesen, die sie von Tübingen nach Plochingen gebracht hatte. In alle Richtungen wuchsen die Schienenstrecken. Wenn sie so alt wie ihr Vater sein würde, konnte man bestimmt in jede größere Stadt des Landes mit der Bahn fahren. Die Zeit steht nicht still. Hier passte Vaters Spruch.

Am Ende der Bahnhofstraße blieb sie stehen, tat so, als würde ihr Fuß schmerzen und massierte ihn. Sie sah zurück zum Bahnhofsgebäude. Dort, an einer der Säulen, lehnte von Engels Bursche. Eleonore ärgerte sich über den Leutnant. Sie würde ihn zur Rede stellen. Noch gehörte sie ihm nicht. Der Junge, der ihr da folgte, tat ihr ein bisschen leid. Heute würde er seine Mission nicht erfüllen.

Auf der Königstraße reihte sich Eleonore ein in die Flut an Leibern und achtete darauf, nicht irgendeiner Kutsche in den Weg zu geraten. Diagonal lief sie auf den Durchgang zu, der hin zum Alten Schlossplatz führte, wo Markt abgehalten wurde. Der Schatten des Torweges nahm sie gefangen. Eilig lief sie weiter, löste den Knoten des Kopftuches und nahm dieses ab. Nach einigen Metern gelangte sie ins Freie. Eleonore reihte sich in das Treiben ein. An zahlreichen Ständen wurden allerlei Waren angeboten. Unzählige Mägde liefen mit Körben umher. Alle trugen sie Kopftücher. Darauf beruhte ihr Plan.

Eleonore ging weiter bis zum Alten Schloss und blickte zum Torbogen zurück. Von Engels Bursche trat aus dem Durchgang, blieb stehen und suchte den Platz ab. Unsicher folgte er erst der einen, dann einer anderen Magd. Sie unterdrückte ein Lachen, wartete bis ihr der Junge den Rücken zuwandte und ging rechts vorbei am Alten Schloss.

In Höhe des Waisenhauses hörte Eleonore Kinder im Chor singen. Sie verlangsamte automatisch ihren Schritt, lauschte dem Gesang, erkannte das Lied aber nicht.

»Nicht trödeln da vorne.« Die Stimme eines Mannes beendete ihre Überlegungen. Eine Kindergruppe war eben aus dem Waisenhaus getreten. Ihr Aufseher behielt sie im Auge.

Sie nickte den Kindern freundlich zu. Die sahen sie mit großen Augen an. Der Mann beachtete Eleonore kaum.

Wie klein wogen ihre Sorgen, dachte sie, im Vergleich zu denen der Kinder, die ohne Eltern aufwachsen mussten.

Sie überquerte die Hauptstätter Straße. Nun begann der Teil der Stadt, der Bohnenviertel genannt wurde. Dort wohnten Weinbauern und Handwerker. In ihren Gärten bauten sie Bohnen für den eigenen Bedarf an. Offiziell hieß die Gegend Esslinger Vorstadt.

Die Turmuhr der Leonhardskirche schlug die volle Stunde.

Eleonore bog vor dem Gotteshaus in die Pfarrstraße hinein. Der Korb wog schwer in ihren Händen. Seit sie gestern Abend mit ihrem Vater aus Tübingen zurückgekehrt war, freute sie sich darauf, Vogt zu besuchen.

Gleichzeitig hatte sie Angst, etwas falsch gemacht zu haben.

Sie erreichte Vogts Haus. Zweimal schlug sie mit dem eisernen Klöppel gegen die Tür.

»Fräulein Herbst«, begrüßte sie der Böttcher freundlich, als er ihr die Tür öffnete.

»Ist sie angekommen?«, platzte Eleonore heraus und trat ein.

Holzbretter in allen Größen bedeckten den Großteil des Fußbodens. Auf dem Tisch lagen die verschiedensten Werkzeuge. In einen Schraubstock war ein Stück Holz eingespannt. Eleonore roch die Holzspäne.

Vogt klopfte den Staub von seiner Schürze. Er deutete ihr geheimnisvoll mitzukommen. Eleonore stellte ihren Korb ab und folgte ihm. Hinter dem Haus lag ein kleiner Garten. Auf einem Feld ragten leere Bohnenstöcke in die Höhe. An die Hauswand gelehnt standen Käfige, geschützt durch eine Bretterwand. Sie trat näher heran. Je ein Taubenpaar belegte einen Käfig.

»Die sehen alle irgendwie gleich aus«, sagte sie und blickte unsicher die Reihe entlang. Welches war das Tier, das sie dabeigehabt hatte? Sah dessen Gefieder zerzauster aus? Zwanzig Tauben flatterten in ihren winzigen Abteilen. »Ich kann nicht einmal unterscheiden, ob es ein er oder eine sie ist.«

Vogt lachte. »Hauptsache die Tiere können das. Manche der Herren haben eine etwas dickere Nase.« Er trat neben sie.

»Wenn Sie ein Stück zur Seite gehen wollen«, bat der Böttcher. »Es ist Zeit für die Tiere, dass sie ihre Runden drehen.«

Vogt öffnete die Türen der Käfige. Sofort hüpften die Tiere an den Rand und lugten neugierig umher. Schon flatterten die ersten los. Eleonore sah ihnen nach. Die Tiere flogen in einem großen Bogen davon, gewannen stetig an Höhe, wurden zu immer kleineren Punkten und verschwanden dann ganz aus ihrem Blick.

»Haben Sie denn keine Angst, dass eine nicht zurückkommt?«, fragte sie.

»Die kommen alle wieder«, sagte Vogt. »Es sei denn, es holt sie der Habicht.«

»Gibt es denn Raubvögel in Stuttgart?«

Der Böttcher nickte. »Ab und zu kreist einer herum. Aber Gott sei Dank findet er offenbar auch so ausreichend Nahrung.«

»Wann kam die Taube denn heute an?«

Vogt schüttelte den Kopf. »Was heißt heute? Sie kam gestern angeflattert. Gestern Mittag.«

Eleonore sah ihn ungläubig an. »Das kann nicht sein.«

»Wenn ich es doch sage.«

»Aber … aber ich ließ sie erst kurz vor unserer Abfahrt fliegen.«

Der Böttcher legte ihr eine Hand auf den Arm. »Eine Taube kann schnell sein. Länger als zwei Stunden braucht die von Tübingen bis hierher nicht.«

»Zwei Stunden.« Das war ungeheuerlich! Eleonore und ihr Vater waren bis Plochingen unzählige Stunden in der Kutsche herumgeschleudert worden, hatten den Staub der Straßen geschluckt, dabei sämtliche Knochen gespürt.

Hinter Eleonore regte sich etwas im Käfig.

»Warum fliegen nicht alle?«

»Weil sie Eier ausbrüten.«

»Was?« Eleonore hob ihr Kleid an, ging in die Hocke und begutachtete die Tiere, die noch da waren.

»Es sind vier Tiere, die Nachwuchs erwarten. Jede Taube hat zwei Eier gelegt.«

»Acht Jungen! Dann müssen Sie ja anbauen«, mutmaßte Eleonore.

Vogt schüttelte seinen Kopf. »Ich werde sie abgeben«, sagte er. »Aber lassen Sie uns hineingehen, bevor Sie sich erkälten.«

Im Haus ging Vogt zu einem Schrank und holte aus einer Schublade etwas heraus.

»Eure Botschaft«, sagte er und reichte ihr ein Stück Seidenpapier.

»Gruß aus Tübingen«, las sie. Eleonore selbst hatte den Satz gestern geschrieben.

Sie nahm den Korb hoch.

»Das ist für Ihre Tauben.«

Vogt nahm ihn entgegen, lüftete das Tuch. Tadelnd sah er zu Eleonore.

»Die Tauben essen keine Wurst. Und kein Brot.«

»Die ist ja auch für Sie«, lachte Eleonore. »Das Futter liegt darunter.«

»Danke«, sagte der Böttcher leise.

Vogt gehörte zu den Menschen, denen ihre Mutter immer unter die Arme gegriffen hatte. So war im Hause Herbst vom Butterfass bis hin zum Weinfass alles zahlreich vorhanden. Dass Vogt Brieftauben besaß, hatte Eleonore erst vor Wochen zufällig erfahren.

In Vaters Lexikon stand nur wenig über Brieftauben, aber genug, um sie neugierig zu machen. Ihr Interesse war erst recht geweckt, als ihr Vogt von seiner Schwester erzählt hatte. Die wohnte in Marbach. Jedes Mal, wenn sie ihn besuchte, nahm sie eine der Tauben mit und ließ diese fliegen, wenn sie zurück in Marbach waren. So wusste ihr Bruder, dass sie gut nach Hause gekommen war. So war Eleonore auf die Idee gekommen, eine der Tauben nach Tübingen mitzunehmen.

»Was sollen wir denn mit dem mageren Federvieh?«, hatte dort Uhlands Frau gefragt. »Ich habe uns eine Ente besorgt.«

»Das ist eine Brieftaube«, hatte Eleonore ihr erklärt. »Die isst man nicht.«

Sofort war sie mit Frau Uhland in ein Gespräch über die Pflege der Taube verwickelt gewesen, während die beiden Männer lächelnd davongingen.

»Können alle Ihre Tauben so weit fliegen?«, fragte Eleonore den Böttcher.

»Noch viel weiter«, antwortete Vogt.

»Wie finden die nur zurück?« Eleonore hatte selbst in Vaters Bücher keine Antwort darauf gefunden.

»So genau weiß man das nicht«, sagte der Böttcher. »Es wird vermutet, dass es mit dem Erdmagnetfeld zu tun hat.«

»Wie sind Sie zu den Tauben gekommen?«, fragte Eleonore. »Die sind doch bestimmt teuer.«

»Ein Winzer konnte seine Rechnung nicht bezahlen und gab mir stattdessen die Tauben. Zuerst war ich nicht erfreut, jetzt möchte ich sie nicht mehr missen.«

Für den Menschen waren selbst kleine Reisen beschwerliche Unternehmungen. Die Tiere dagegen flogen wie ein Blitz zurück zu ihrem Verschlag, als sei es das normalste der Welt, dachte Eleonore.

»Zu schade, dass Ihr Schwager keine Brieftauben hat. Dann könnten Sie die Tiere hin und her schicken.«

»Das ginge. Mein Schwager müsste ein paar Tauben längere Zeit bei sich behalten. Man kann die Tiere umgewöhnen. Das heißt, sie akzeptieren dann sein Haus als ihren Schlag.«

»Das ist ja interessant«, murmelte Eleonore. Ihr kam eine Idee. »Warum geben Sie ihrer Schwester nicht die jungen Tauben, wenn diese geschlüpft sind? Ihr Schwager könnte einen Käfig bauen.«

»Ich glaube nicht, dass ihm das Gefallen würde«, sagte Vogt.

Eleonores Gedanken rasten. Eine weitere Idee kam ihr in den Sinn, noch vage, und doch wurde ihr heiß.

»Würden Sie mir wieder eines ihrer Tiere anvertrauen?«, fragte sie.

Er sah sie verwundert an. »Wollen Sie denn wieder verreisen?«

»Nein«, lachte Eleonore. »Wir sind ja erst heimgekommen. Aber irgendwann vielleicht.«

Heinrich Vogt nickte. »Sie lieben Tiere, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Eleonore.

»Ihnen vertraue ich gern meine Liebsten an.«

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